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»Drachenmensch«: Neue, längst bekannte Menschenform?

Paläoanthropologen wollen an einem Schädel in China eine neue Menschenart bestimmen: Homo longi. Dabei ähnelt das Fossil viel mehr dem, was von den Denisovanern bekannt ist.
Altsteinzeitliche Schädel aus China. Von links nach rechts: Peking-Mensch, Schädel Maba 1, Jinniushan, Dali und der neu publizierte Schädel von Harbin.

»Drachenmensch« oder Homo longi – so heißt eine neu identifizierte Menschenform, die vor zirka 146 000 Jahren im Gebiet des heutigen China gelebt haben soll. Paläoanthropologen um Ni Xijun sowie Ji Qiang von der Hebei GEO University in Shijiazhuang bestimmten die Spezies anhand eines Schädels, der 2018 an die Institution der Forscher übergeben wurde. Der Fund aus der Nähe der Stadt Harbin im Nordosten Chinas weise archaische und moderne menschliche Merkmale auf, schreibt die Gruppe zusammen mit Chris Stringer vom Londoner Natural History Museum in einem von drei Artikeln in der Zeitschrift »The Innovation«. Eine statistische Formanalyse des Harbin-Schädels und weiterer chinesischer Fossilfunde der Altsteinzeit hätte zudem ergeben, dass es sich um eine bislang unerkannte Schwestergruppe von Homo sapiens handle, die näher mit dem anatomisch modernen Menschen verwandt sei als die Neandertaler. Die Artbezeichnung Homo longi rührt von einem Namen der Fundregion her – Long Jiang, der Drachenfluss.

Angesichts genetischer und auch anthropologischer Erkenntnisse der letzten zehn Jahre überrascht das Fazit von Ni, Ji und ihren Kollegen. Zeitlich und örtlich läge es nahe, den Schädel in den Kenntnisstand über die Denisovaner einzuordnen. Immerhin weilten diese Frühmenschen zur selben Zeit wie Homo longi in Asien.

2010 haben Paläogenetiker um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig das Genom dieser Menschenform entziffert. Folgestudien entdeckten dann deren Einsprengsel im Erbgut heutiger Asiaten. Von den Denisovanern, die sich genetisch als enge Verwandte der Neandertaler und etwas entferntere Verwandte von Homo sapiens herausstellten, sind keine größeren Fossilien gesichert. In der namensgebenden Denisova-Höhle im russischen Altai-Gebirge erwiesen sich einzig Knochensplitter und wuchtige Zähne als denisovanisch. Nicht viel, um ein Gesicht zu rekonstruieren, aber genug, um festzustellen: Es ist bislang keine andere, zeitgleiche Frühmenschenform mit derart großen Backenzähnen bekannt. Die Fossilien stammen aus einem Zeitraum von vor 250 000 bis 45 000 Jahren.

Ein fossiler Schädel ohne genauen Fundplatz

Im Jahr 1933 hatte ein chinesischer Arbeiter den Harbin-Schädel bei Bauarbeiten an einer Brücke über den Songhuafluss entdeckt, ein Kollege verbarg den Fund unweit davon in einem Brunnen. Erst kurz vor dessen Tod erfuhren die Angehörigen von dem Fossil. Letztlich gelangte das Stück 2018 in die Hände von Ji Quiang, der es damals noch als Homo heidelbergensis bestimmte. Seither untersuchten Ni, Ji und ihr Team den Schädel, analysierten Sedimentreste aus der Nasenhöhle und nahmen eine Uran-Thorium-Datierung vor. Die Erdproben bestätigten, dass das Fossil aus altsteinzeitlichen Schichten in der Region um Harbin stammen könnte. Die radiometrische Datierung legte zudem ein Alter von ungefähr 146 000 Jahren nahe.

Am Harbin-Schädel dokumentierten die Forscher moderne und archaische Merkmale, die nicht mit der Kopfform des heutigen Homo sapiens übereinstimmen. Doch auch mit anderen Vertretern der Gattung Homo wie den Neandertalern und Homo heidelbergensis sei der Schädel nicht deckungsgleich. Auffällig seien die prominenten Überaugenwülste, die längliche und flache Form des Schädels sowie der einzige erhaltene Backenzahn: »Schließlich, und vielleicht bedeutsam, stimmen die Form und Größe des erhaltenen Harbin-Backenzahns am ehesten mit der (altsteinzeitlichen) Überlieferung von zwei bleibenden Backenzähnen aus der Denisova-Höhle überein«, heißt es in der Studie von Ni Xijun, Ji Quiang und Chris Stringer. Weitere Schlüsse ziehen die Forscher aus dieser Erkenntnis jedoch nicht.

Die Forschergruppe nahm vielmehr eine computergestützte Formanalyse vor. Die Forscher legten 632 Merkmale des Harbin-Schädels fest und verglichen diese mit den Zügen von 95 altsteinzeitlichen Schädelfossilien und Zähnen weltweit. Das Ergebnis lautete, dass sich die Knochenreste in vier Abstammungsgemeinschaften unterteilen ließen. Eine Klade bildeten Homo sapiens, eine die Neandertaler, eine weitere Homo erectus, dessen frühste Fossilien zirka zwei Millionen Jahre alt sind, und schließlich eine Gruppe um den Harbin-Schädel und weitere in China entdeckte Fossilien.

Sind der Harbin-Schädel und der Xiahe-Unterkiefer eng miteinander verwandt?

Zu letzteren Klade rechnen die Forscher auch den Unterkiefer von Xiahe. Dieses Fossil stammt aus der Baishiya-Höhle auf der tibetischen Hochebene, fast 3000 Kilometer von Harbin entfernt. In dem robusten Knochenstück, das zirka 160 000 Jahre alt ist, stecken noch zwei auffällig große Backenzähne. »Der Backenzahn des Harbin-Schädels stimmt mit der Zahngröße vom Xiahe-Unterkiefer überein«, erläutern Ni, Ji und Stringer in ihrer Studie. »Es darf angenommen werden, dass der Harbin-Schädel womöglich einen ähnlich robusten Unterkiefer wie Xiahe besaß.«

Nun hat eine Untersuchung von Forscherinnen und Forschern um Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig aus dem Jahr 2019 ergeben, dass der Xiahe-Unterkiefer sehr wahrscheinlich von einem Denisovaner stammt. Da eine Genanalyse misslang, nutzte die Gruppe die Paläoproteomik: Die Wissenschaftler extrahierten aus dem Unterkiefer das Bindegewebseiweiß Kollagen. Das Protein war von einer DNA-Sequenz codiert worden, die sich als denisovanisch erwies. Überdies spürten Forscher 2020 in den Sedimenten der Baishiya-Höhle die mitochondriale DNA der Denisovaner auf. Damit gilt es als höchst wahrscheinlich, dass der Xiahe-Unterkiefer einem Denisovaner gehörte.

Ni, Ji und Stringer erwähnen das selbst. Sie verfolgen diese Spur jedoch nicht weiter, sondern setzen ihre Hoffnung auf zukünftige Funde und genetische Erkenntnisse, um einen Zusammenhang zu erhärten: »Weitere Funde von Unterkiefern der Harbin-Population oder von Schädeln, die dem Xiahe-Unterkiefer entsprechen, werden zeigen, wie nahe sich die Harbin- und Xiahe-Menschen morphologisch gestanden haben – während neues genetisches Material die Verwandtschaft dieser Populationen untereinander und zu den Denisovanern aufzeigen wird.«

Nicht alle Paläoanthropologen stützen die These von einer neuen Menschenform

Dass der Harbin-Schädel tatsächlich von einer bislang unbekannten Menschenform namens Homo longi stammt, diese Ansicht scheinen nicht alle Autoren des Projekts zu vertreten. In der Hauptstudie taucht der neue Name nicht auf. Nur in einem Kommentar im selben Fachblatt »The Innovation« haben Ji Quiang, Ni Xijun und einige ihrer Kollegen – Chris Stringer vom Natural History Museum in London ist nicht unter ihnen – die neue Spezies aus der Gattung Homo beschrieben und definiert. Wie »Science« berichtet, ist Stringer offenbar eher davon überzeugt, dass der Harbin-Schädel zu einem Denisovaner gehörte.

Diese Ansicht vertreten auch andere Experten der Anthropologenzunft. Jean-Jacques Hublin schrieb bereits 2020 in unserem Magazin »Spektrum der Wissenschaft«, dass er den Schädel von Harbin den Denisovanern zurechne –zusammen mit einer Reihe weiterer Fossilien, die ungefähr in ein Zeitfenster von vor 240 000 bis 100 000 Jahren datiert werden.

Mit der Studie von Ji, Ni und Stringer ist nun ein wichtiges Fossil ausgewertet worden, das einen weiteren Baustein für die Rekonstruktion der Vorgeschichte Asiens sowie der Humanevolution weltweit liefert. Doch der Schädel wurde noch längst nicht mit allen Methoden untersucht, die man in der Humanevolution zur Hand hat, insbesondere eine genetische oder paläoproteomische Untersuchung steht noch aus. Die wäre aber bedeutsam, wenn man die Hypothese aufstellt, es mit einer gänzlichen neuen Menschenart zu tun zu haben.

Anatomisch, vor allem was den opulenten Backenzahn betrifft, ähnelt der Schädel von Harbin einem Denisovaner. Welche genetische Abstammungsgeschichte in ihm steckt, ist aber völlig unklar. Fraglich bleibt auch, wie sich die Existenz einer im fernen Asien beheimateten Menschenart mit der Out-of-Africa-Hypothese, dem Ursprung von Homo sapiens in Afrika, in Einklang bringen lässt. Oder mit dessen Vorgänger Homo erectus, der offenbar vor mehr als 1,8 Millionen Jahren von dort Richtung Asien ausgewandert war.

Das Erbgut von Homo sapiens, Neandertalern und Denisovanern lässt sich heutzutage verhältnismäßig gut unterscheiden. Doch die Paläogenetik hat auch gezeigt, dass sich die Trennung von verschiedenen Menschenarten nicht mehr so scharf aufrechterhalten lässt. Auch deshalb ist inzwischen häufiger von Menschenformen die Rede als von -arten, zumal sich anatomisch moderner Mensch, Neandertaler und Denisovaner mehrfach miteinander vermischt und sich im Lauf der Zeit in Unterpopulationen aufgespalten haben. Die heutigen Bevölkerungen Asiens tragen beispielsweise Einsprengsel von zwei verschiedenen Populationen der Denisovaner in ihrem Erbgut.

Vermutlich wird die Publikation von Ji, Ni und Stringer sowie die Definition des Homo longi für Debatten in der Paläoanthropologie sorgen. Und wer weiß – vielleicht enthüllt eine DNA- oder Proteinanalyse doch, dass es sich um eine bislang unbekannte Menschenform handelt. Überraschungen dieser Art wären den Paläogenetikern und -anthropologen vermutlich nicht neu.

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