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Verhaltensforschung: Drama am Abgrund

Taufliegen kennen Sie vermutlich als Plagegeister in der Küche und Lieblingstier zahlreicher Genetiker. Für ihre kognitiven Leistungen sind sie dagegen eher weniger bekannt. Schaut man jedoch genau hin, kann man an ihnen zielgerichtetes, adaptives Problemlöseverhalten beobachten.
Drosophila
Dramatische Szenen spielen sich ab im Labor von Simon Pick und Roland Strauss: Nichtsahnend steuert eine Versuchsteilnehmerin auf den Abgrund zu. Sie kommt näher und näher an die Kante und – stürzt geradewegs mit ihren Vorderbeinen in die Tiefe. Den Oberkörper in der Luft, rudert sei wie wild mit den Beinen über ihrem Kopf, um die rettende andere Seite zu erreichen.

Passieren kann der Probandin nichts, denn es handelt sich um eine Taufliege, die mit ihren übrigen vier Beinen noch fest auf dem Boden steht. Allerdings hat sie ein Problem, wenn sie die Lücke vor sich überqueren will: Ihre Flügel haben die Versuchsleiter gestutzt, sodass sie nicht auf die andere Seite fliegen kann. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als hinüber zu klettern. Dabei beobachten sie die beiden Neurobiologen Pick und Strauss von der Universität Würzburg mit einer Hochgeschwindigkeitskamera. Sie wollen wissen, wie die Fliege entscheidet, ob sie es über den Abgrund schaffen kann und welche Strategie sie letztendlich anwendet, um den Klettersteig zu überwinden.

Taufliege beim Überqueren eines Spalts | Taufliege beim Überqueren eines Spalts: Die Vorderbeine befinden sich schon auf der Zielseite und die Fliege zieht gerade ihre mittleren Beine nach.
Normalerweise rudert die Fliege zunächst mit den Vorderbeinen über ihrem Kopf, um die gegenüberliegende Wand zu erreichen. Führt das nicht sofort zum Erfolg, reckt und streckt sie die Beine immer weiter aus und bringt ihren Körper allmählich in die optimale horizontale Position, um der gegenüberliegenden Kante möglichst nahe zu kommen. Hat sie diese erst einmal mit ihren Vorderbeinen erreicht, schwingt sie ihren Körper horizontal dem Ziel entgegen. Dann zieht sie auch ihre beiden mittleren Beine nach, um – teilweise noch bevor diese die Wand erreichen – schließlich ihren gesamten Körper in den Spalt stürzen zu lassen. Sobald alle Beine festen Untergrund erreicht haben, läuft sie munter die Wand auf der anderen Seite hoch und setzt dort ihren Spaziergang fort.

Allerdings, so beobachteten die Forscher, strengen sich die Fliegen nicht immer mit gleichem Enthusiasmus an, um über die Lücke zu gelangen. Je größer der Abstand ist, desto seltener versucht eine Fliege, ihn zu überwinden. Und selbst wenn manche Fliegen selbst bei unüberwindbaren sechs Millimetern zunächst das übliche Überquerungsverhalten zeigten, gaben sie schneller auf als bei überwindbaren vier Millimetern – bei einer eigenen Körperlänge von etwa zwei Millimetern.

Woher aber wissen die Fliegen, wie groß die Lücke vor ihnen ist? Sie müssen über eine Methode verfügen, den Spalt zu vermessen. Um herauszufinden, wie sie das bewerkstelligen, führten die Forscher das Experiment mit genetisch veränderten Fliegen durch: Farbenblinde Fliegen sowie nur auf einem Auge sehende verhalten sich genauso wie die normalsichtigen. Blinde Drosophilae dagegen und solche, denen der Rezeptor zur Wahrnehmung von Bewegungen fehlt, zeigen nur ansatzweise das Verhalten, mit dem sie die Lücke überwinden könnten. Pick und Strauss schließen daraus, dass die Fliegen mit mindestens einem Auge Bewegungen wahrnehmen müssen, um Distanzen zu schätzen. Dazu nutzen sie vermutlich die so genannte Bewegungsparallaxe: Je nach tatsächlicher Entfernung bewegt sich die gegenüberliegende Kante relativ zum eigenen Körper anders. Daraus lässt sich die Distanz relativ genau schätzen.

Indem sie die Entfernung ihres Zieles beurteilt, bevor sie zur Überquerung ansetzt, verhält sich die Fliege ähnlich wie der Mensch: Auch wir beurteilen ein Hindernis, bevor wir dazu ansetzen, es zu übersteigen. Drosophila verhält sich demnach zielgerichtet. Während sie versucht, auf die andere Seite zu gelangen, passt sie darüber hinaus ihre Handlungen adaptiv an die Situation an, bis sie ihr Ziel erreicht. Dieses komplexe Verhalten benötigt, so vermuteten Pick und Strauss, die Koordination verschiedener motorischer Kontrollinstanzen.

Um zu testen, um welche es sich dabei handelt, stellten die Forscher die Kletteraufgabe Fliegen von immerhin 230 genetisch veränderten Zuchten. Die Ergebnisse von dreien weisen auf verschiedene Kontrollinstanzen hin: Die meisten Taufliegen der Zucht G74 versuchten erst gar nicht, die Lücke zu überqueren, egal wie klein diese auch sein mochte. Nur in sechs Prozent aller Fälle wagten sie die Klettertour, wobei es ihnen auch dann nur jedes zweite Mal glückte. Stattdessen machten die meisten Fliegen angesichts des Abgrunds auf dem Absatz kehrt. Ihnen scheint also der Mechanismus zu fehlen, der das Klettern auslöst. Die Kollegen der Linie D44 versuchten immerhin, auf die andere Seite zu gelangen. Jedoch versäumten sie, ihren in die Kluft hängenden Körper anzuheben und erreichten daher mit ihren Beinen die gegenüberliegende Seite nicht. Im Gegensatz dazu brachten wiederum Fliegen der Zucht O151 ihren Körper in die horizontale Ideallinie über dem Abgrund – standen dabei aber viel zu weit von der Kante entfernt, sodass auch sie ihr Ziel meistens verfehlten.

Daraus schließen Pick und Strauss, dass mindestens diese drei voneinander unabhängigen motorischen Komponenten dem Kletterverhalten der gemeinen Taufliege zu Grunde liegen. Fehlt auch nur eine der drei, lässt dies die Fliegen am Abgrund versagen. Vermutlich wäre es denen aber sowieso lieber, das zu tun, wofür sie eigentlich geschaffen sind: fliegen.

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