Offene Drogenszenen: Wie Städte mit der Crackkrise kämpfen

Auf dem Gehweg liegen Körper, von Kopf bis Fuß in blaue Wolldecken gehüllt. Streetworkerinnen nähern sich und schauen genau hin, ob sich unter den Decken etwas regt. Hebt und senkt sich erkennbar ein Brustkorb, gehen sie weiter. Auf zwielichtige Trinkhallen folgen Bordelle, Laufhäuser und Spielhallen. Ein stechender Uringestank liegt in der Luft, im Hintergrund glänzen Wolkenkratzer. Abgemagerte Gestalten wandeln hier neben Anzugträgern auf E-Rollern. Das ist das Frankfurter Bahnhofsviertel – Deutschlands größte offene Drogenszene.
Die »Szene«, das sind um die 350 Menschen, die hier regelmäßig verkehren und schwerstabhängig sind. Wer das sieht – den Müll, die Verwahrlosung, das Leid –, fragt sich, wieso ausgerechnet Frankfurt als Deutschlands Vorzeigebeispiel für gelungene städtische Drogenpolitik gilt. Die Antwort: Die Stadt hatte einst ein weitaus größeres Drogenproblem und bekam es in den Griff.
Deutschlands Drogenproblem
Wie abhängig ist Deutschland – und wovon genau? Diese Themenwoche wirft einen kritischen Blick auf den Konsumtrend, erklärt, wie Sucht entsteht, und fragt, wie eine moderne Drogenpolitik mit offenen Szenen und neuen Substanzen umgehen sollte.
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Ein Blick zurück in die 1970er Jahre. Damals hat Frankfurt schon einen der größten Bahnhöfe Deutschlands. Durch die zentrale Lage und den weltoffenen Ruf der Stadt bildet sich dort eine Rauschgiftszene, die eine immer größere Sogwirkung entfaltet. Hunderte Suchtkranke, die meisten heroinabhängig, halten sich Tag und Nacht im Bahnhofsviertel auf. Bald besiedeln sie die angrenzende Taunusanlage, gut vier Hektar Rasen im Herzen der Stadt.
»Die Zustände waren grausam«, erinnert sich Wolfgang Barth, Leiter des Frankfurter Drogennotdienstes. »Das war kein Vergleich zu den offenen Drogenszenen, über die wir heute diskutieren. Wir standen da mitten im Elend. Hier prügelten sich zwei, dort brach einer zusammen. Es waren bis zu 1000 Menschen in diesem kleinen Park. Der Geruch war unerträglich – überall Ausscheidungen und offene Wunden. Und die Leute kamen auf uns zu und fragten nach Hilfe.« Etliche sterben an einer Überdosis, viele an Hepatitis oder HIV, weil sie sich Nadeln teilen.
Die Stadt muss dringend handeln. Und so kauft sie Ende der 1980er Jahre drei Häuser in Bahnhofsnähe, in denen Krisenzentren eingerichtet werden. In die Elbestraße 38, ein ehemaliges Bordell, zieht 1989 die Drogennothilfe ein – mittendrin, szenenah. Es gibt ein Beratungszimmer, ein kleines Café, eine Ärztin, die kostenlos behandelt, und Notschlafbetten.
Im Herbst 1992 greift die Polizei durch: Die Taunusanlage wird geräumt, die Szene zerschlagen. Zeitgleich beginnt man in der Elbestraße Methadon auszugeben, eine Ersatzdroge, mit der manche vom Heroin loskommen. Und 1994 eröffnet im Bahnhofsviertel der erste so genannte Konsumraum, in dem sich Abhängige unter Aufsicht und mit sauberem Besteck ihr mitgebrachtes Heroin spritzen dürfen, ohne eine Strafe zu fürchten. Das Ziel: Schadensminderung. Wer (noch) nicht clean ist, soll es zumindest besser haben und darf unter sicheren und hygienischen Bedingungen seiner Sucht nachgehen. Und das nicht mehr auf offener Straße, sondern in einem geschützten Raum. Das war – und ist – der viel gelobte Frankfurter Weg.
Dass die Verbindung aus Repression und Hilfe, Vertreiben und Auffangen wirkt, zeigt sich bald. Die Taunusanlage wird in den darauf folgenden Jahren vom Slum wieder zum gepflegten Park. Verzeichnet Frankfurt 1991 noch knapp 147 Drogentote, sinkt die Zahl ab 1997 auf um die 30 pro Jahr. Der Frankfurter Weg funktioniert.
Ist der Frankfurter Weg noch gangbar?
An diesem Montagmittag im Mai 2025 ist der »Druckraum«, der Raum für den intravenösen Konsum in der Elbestraße 38, leer. Zehn Sitzplätze, eine Arbeitsplatte aus Edelstahl, leichter Desinfektionsmittelgeruch. Dafür ist draußen viel los. »Das liegt mit am schönen Wetter heute«, erklärt eine Streetworkerin. Spritzen sieht man auch hier nicht, dafür blitzen alle paar Meter silberne und goldene Pfeifchen auf – und gelegentlich weißes Pulver, das auf einem Löffel über eine Flamme gehalten wird. Frankfurt hat ein neues Problem. Und das heißt Crack.
So nennt man mit Natron aufgekochtes Kokain, weil es beim Rauchen knistert, auf Englisch »to crackle«. Die Droge wirkt innerhalb weniger Sekunden und macht sehr schnell süchtig. Crack hat Heroin längst den Rang abgelaufen. »Praktisch alle in der Szene nehmen es«, sagt Wolfgang Barth. Einen Ersatzstoff wie bei Heroin gibt es nicht. Der Rausch ist intensiv, aber kurz. Nach 15 Minuten ist er vorbei. Abhängige müssen deshalb bis zu 30-mal am Tag rauchen.
Ein Mann läuft barfuß herum. Auf Crack sind viele mehr als 24 Stunden am Stück wach. »Wo sind denn deine Schuhe?«, fragt die Streetworkerin und erklärt ihm, wo er welche bekommt. Man kennt sich, der Ton ist überwiegend freundlich. Sozialarbeiterinnen und Ärztinnen, an diesem Tag sind es nur junge Frauen, drehen im Bahnhofsviertel mehrmals täglich ihre Runden gegen die Verwahrlosung. Der Frankfurter Weg entstand, als Heroin noch die Leitdroge war. Jetzt kommt er an seine Grenzen.
Obwohl die Crackwelle über ganz Europa hereingebrochen ist, hält sich eine Region weiterhin wacker – die deutschsprachige Schweiz. Zürich hat geschafft, wovon viele deutsche Städte träumen: Es gibt dort keine offene Drogenszene mehr. Dabei hatte die Stadt in den 1980er Jahren mit größeren Problemen zu kämpfen als Frankfurt.
»Am stillgelegten Bahnhof Letten war es noch verheerender als in der Taunusanlage – dort war Sterben pur«, sagt Wolfgang Barth. Doch es wurde schnell gehandelt, der »Zürcher Weg« eingeschlagen. »Die Schweizer sind zwar überwiegend konservativ, aber pragmatisch«, so Barth, der damals mit einer Delegation nach Zürich reiste. Die dortigen Fixerstüblis wurden zum Vorbild für die Konsumräume, die bald darauf in Frankfurt entstanden.
»Der Zürcher Weg funktioniert auch heute noch. Die offenen Szenen sind weg und Verwahrlosung ist kaum noch ein Thema«, sagt Florian Meyer, der die Abteilung Schadensminderung illegale Substanzen der Stadt Zürich leitet. Was hat die Schweizer Metropole anders gemacht? »Der wesentliche Unterschied ist, dass innerhalb der Einrichtungen der Kleinhandel toleriert wird«, erklärt Meyer. Hier zeigt sich der volle Schweizer Pragmatismus: Drogenhandel ist nach wie vor illegal, aber die dort bekannten Suchterkrankten dürfen sich in den Anlaufstellen gegenseitig kleinste Mengen Stoff verkaufen, ohne dass es bestraft wird. Denn »wenn der Kleinhandel nicht drin stattfindet, dann bleibt die Szene nicht drin, sondern verlagert sich wieder auf die Straße«, so Meyer.
»Das ist der Schlüssel zum Erfolg«, sagt Heino Stöver, Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences. »Wir müssen die Szene überdachen, und dabei hilft der tolerierte Kleinhandel. Das dient sowohl den Suchterkrankten als auch der Stadtbevölkerung. Die hat ein legitimes Bedürfnis, nicht offen mit dem Drogenkonsum konfrontiert zu werden.« Ähnlich sieht es die Frankfurter Stadtpolitik. Unter anderem fordert die zweitstärkste Kraft im Stadtparlament, die Frankfurter CDU, dass Kleinstverkäufe innerhalb der Einrichtungen nicht polizeilich geahndet werden.
Die rechtliche Lage in Deutschland verbietet bisher ein solches Vorgehen. »Und das wird sich mit der neu gewählten Bundesregierung wahrscheinlich nicht so schnell ändern«, vermutet Wolfgang Barth. Bis vor Kurzem fand man vor dem Konsumraum in der Elbestraße handgeschrieben die klare Ansage: »Wer dealt, fliegt raus!« Den Zettel habe zwar jemand abgerissen, aber trotzdem gebe es hier klare Regeln, die jeder kenne, sagt Barth. Andere Einrichtungen hatten in der Vergangenheit wegen zu laschen Umgangs mit Drogenverkäufen schließen müssen.
Mit toleriertem Kleinhandel ist es laut Meyer allerdings nicht getan. Es gibt nämlich ein weiteres wesentliches Merkmal des Zürcher Wegs: Er gilt nur für Züricher. Menschen aus anderen Orten werden abgewiesen. Damit vermeidet die Stadt einen Drogentourismus aus dem Umland. Unter diesem Problem leidet Frankfurt ganz besonders. »Etwa 40 Prozent der Menschen in der Frankfurter Drogenszene stammen aus der Stadt selbst, der Rest kommt von außerhalb«, so Barth. Anders als in der deutschsprachigen Schweiz gibt es um Frankfurt herum kaum Konsumräume, weder in Wiesbaden noch in Heidelberg oder Aschaffenburg.
Dabei ist aus Forschungssicht unbestritten, dass Konsumräume positive Effekte haben. Zum Beispiel zeigt eine 2018 erschienene Studie, dass die in der Schweiz eingeführten Maßnahmen zwischen 1980 und 2015 mehr als 15 000 HIV–Infektionen vorgebeugt und so mehr als 5000 Tode verhindert haben. »Die Schweiz spart jährlich weiterhin etwa 350 Millionen Franken an nicht notwendigen HIV–Therapien ein«, erklärt Meyer. Eine 2024 veröffentlichte Untersuchung kommt zu ähnlich positiven Ergebnissen für die Konsumräume in Paris. Dass die Strategie auch in Deutschland aufgeht, belegt die Zahl der Drogentoten. Während 2023 in München, einer Stadt ohne Konsumräume, 86 Menschen starben, waren es in Frankfurt nur 32. Und das, obwohl Frankfurt die größere Drogenszene hat. »Nur die Hälfte der deutschen Bundesländer ist diesen Weg bisher gegangen. Bayern etwa hat keine Konsumräume eingerichtet. Man verschließt dort die Augen vor dem Problem, denn konsumiert wird so oder so«, sagt Heino Stöver.
Wie wertvoll die Konsumräume für den Züricher Erfolg sind, zeigt sich im Jahr 2023 eindrücklich: Als eine solche Einrichtung in der Innenstadt schließt, entsteht kurzzeitig wieder eine offene Drogenszene aus 30 bis 40 Personen. »Repression allein nützt nichts, wenn es keine Räume gibt, in die Konsumierende ausweichen können«, sagt Florian Meyer. Die Stadt reagiert schnell: Sie eröffnet innerhalb von drei Monaten eine provisorische Anlaufstelle, eine große Containeranlage in der Nähe des Hauptbahnhofs, und die Lage beruhigt sich wieder.
Vor dem Konsumraum in der Frankfurter Niddastraße sitzen rund ein Dutzend Menschen auf dem Boden. Teils schlafen sie, teils bereiten sie ihre Crackpfeifen vor. Um den letzten Rest aus dem Röhrchen zu kratzen, benutzt ein Mann eine dünne Metallstange. »Waren mal Scheibenwischer«, sagt die Streetworkerin. Warum gehen die Leute zum Rauchen nicht in die Konsumräume? Immerhin hat Frankfurt bereits auf die Lage reagiert und neben Druckräumen auch Rauchräume eingerichtet. »Der Raum hier macht erst in ein paar Stunden auf«, erklärt die Sozialarbeiterin. Und was ist mit dem in der Elbestraße, nur wenige Meter entfernt? »Der Rauchraum ist im dritten Stock, ohne Aufzug.« Ganz schön viel Aufwand für einen kurzen Zug an einer Pfeife.
»Die Angebote sind oft noch zu hochschwellig«, meint Heino Stöver. Florian Meyer sieht das auch so: »Konsumräume müssen an die Bedürfnisse der Konsumenten angepasst werden, sonst nutzen sie sie nicht.« Als Antwort auf dieses Problem plant Frankfurt für knapp zwölf Millionen Euro ein großes Crackzentrum – die Elbestraße 38 zieht in die Niddastraße 76 um. Mit insgesamt 360 Quadratmetern pro Stockwerk soll das neue Suchthilfezentrum deutlich mehr Raum bieten. Die Vision dahinter ist ehrgeizig: eine echte Alternative zum Alltag auf der Straße – und nach Züricher Vorbild nur für Menschen aus Frankfurt. Öffnen soll das Zentrum Ende 2026.
Um die Szene zu entzerren, soll die Einrichtung nicht im Bahnhofsviertel entstehen, sondern im Stadtviertel Gallus. Von der Elbestraße ist es aber nur ein fünfminütiger Fußmarsch zu dem großen gelben Gebäude, auf dem für ein inzwischen geschlossenes Fitnessstudio geworben wird. »Die Betreiber haben ihren Kunden den Standort nicht mehr zumuten können«, erklärt Gunnar Berendson, ein Sprecher der Eigentümerinitiative Bahnhofsviertel. Auch hier hat sich die Szene nämlich inzwischen breitgemacht. Um die Ecke befindet sich »La Strada«, der dritte Konsumraum in Bahnhofsnähe. Etwa 20 Menschen stehen hier auf der Straße, halten sich an ihren Pfeifen fest, machen ruckartige Bewegungen, sprechen etwas zu laut.
Die Anwohner fürchten, dass sich die Situation durch das Crackzentrum verschlimmern wird. Mit einem offenen Brief, einer Petition und einem Rechtsgutachten hoffen sie, das Projekt noch abwenden zu können. »Selbst wenn die 100 bis 150 Frankfurter Suchtkranken die Einrichtung nutzen – was machen dann die anderen 200 Leute?«, fragt Berendson. Wird dieses Zentrum nach Züricher Vorbild ausreichen, um die offene Drogenszene aufzulösen? Noch gibt es einige Unterschiede zwischen der Rhein-Main-Metropole und der größten Schweizer Stadt: So beschäftigt Zürich rund doppelt so viele Sozialarbeiter (bei nur gut halb so vielen Einwohnern), kann Menschen guten Gewissens abweisen, weil rundherum weitere Hilfsangebote zur Verfügung stehen, und toleriert den Kleinhandel. In Zürich brauchte es den Mut, Regeln zu lockern.
Ein sicherer Hafen für Süchtige
Wolfgang Barth, der das Crackzentrum leiten soll, zeigt sich dennoch hoffnungsvoll, dass sich die Lage damit zumindest deutlich verbessern wird. Die Einrichtung soll besser auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten sein und einen leichten Zugang ermöglichen.
Das barrierefreie Zentrum ist als Ort des Ankommens gedacht, mit einem Café, einem großzügigen Innenhof und Möglichkeiten zum Tagesaufenthalt. Neben viel mehr Konsumplätzen zum Rauchen und Spritzen soll es umfassende medizinische Hilfe geben: Wundversorgung und psychiatrische Betreuung gehören ebenso dazu wie eine Methadonambulanz. Duschen, Toiletten, eine Wäschekammer – all das soll das Leben der Suchtkranken erträglicher machen. Geplant ist außerdem ein geschützter Bereich nur für Frauen. Auch eine individuelle Begleitung in ein geregelteres, vielleicht sogar gänzlich cleanes Leben ist vorgesehen: Einzelfallbetreuung, Sozialberatung, Rechtsberatung sowie eine Anbindung an das Jobcenter sind Teil des Konzepts.
Auch die Polizei blickt diesem Zentrum hoffnungsvoll entgegen. »Unser Aufgabenbereich teilt sich in Prävention und in Repression auf«, erklärt Robin Bungert von der Frankfurter Polizei. Ersteres besteht darin, die Menschen auf der Straße anzusprechen und ihnen wenn nötig zu helfen. Letzteres bedeutet hingegen, Straftaten und offenen Konsum möglichst zu unterbinden. Zum Beispiel, indem die Beamten die Suchtkranken auffordern, die Konsumräume aufzusuchen. Doch nicht jeder kommt dem nach, außerdem bieten die Einrichtungen aktuell nicht genug Platz für alle – insbesondere die Plätze in den Rauchräumen sind knapp. Das geplante Crackzentrum könnte hier Abhilfe schaffen.
Aber werden die Suchtkranken das Angebot auch annehmen? Aus der Elbestraße 38 stürmt an diesem Mittag eine Frau – blond, hager, sichtlich aufgeregt. Alle Rauchplätze sind belegt, wie lang soll sie denn noch warten? Im Gespräch mit den Sozialarbeitern beruhigt sie sich wieder. »Du hast die Haare schön«, sagt sie zu Wolfgang Barth, lächelt müde und setzt sich mit ihrer Pfeife auf den Gehweg.
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