Mysteriöse Dunkle Kometen: Geisterfahrer im Sonnensystem

Davide Farnocchia macht Jagd auf Asteroiden. Vor einigen Jahren fand er etwas, was er sich nicht erklären konnte. Farnocchia arbeitet am Center for Near-Earth Object Studies der NASA in Kalifornien, USA. Mithilfe von Softwareprogrammen, die er mitentwickelt hat, verfolgt er alle bekannten Asteroiden und Kometen, die nahe der Erde vorbeifliegen. Damit ist er Kartograf in vier Dimensionen: »Unsere Aufgabe ist es, die Bewegungen von Objekten im Weltraum vorherzusagen«, erklärt er. »Wenn etwas Neues oder Unerwartetes passiert, besteht immer die Chance, die Forschung voranzubringen.«
Im Jahr 2016 beobachtet Farnocchia etwas wirklich Ungewöhnliches: einen Asteroiden mit der Bezeichnung 2003 RM, der scheinbar eigenwillig umherflog. Seine Umlaufbahn um die Sonne hatte sich auf eine Art und Weise verschoben, die sich nicht nur durch Gravitationseffekte erklären ließ. Farnocchia berücksichtigte sogar den geringen Schub, den das Sonnenlicht auf den Weltraumbrocken ausübt, doch dessen Umlaufbahn passte immer noch nicht zu den theoretischen Vorhersagen.
»Da ist noch etwas anderes im Spiel«, dachte Farnocchia damals. Aber was? Etwas trieb den Asteroiden an, doch nichts deutete darauf hin, woher dieser raketenartige Schub kommen könnte. Farnocchia war verwirrt – und gleichzeitig begeistert. »Wenn sich Dinge anders verhalten als erwartet, bedeutet das, dass etwas Spannendes im Gange ist.« Farnocchia und seine Kollegen grübelten einige Zeit über den Asteroiden mit dem eigenständigen Antrieb, wollten aber nicht zu viel Aufhebens um die Sache machen. Noch bevor sie irgendwelche endgültigen Schlüsse gezogen hatten, kam ihnen ein anderer Weltraumbote dazwischen. Im Oktober 2017 wurde zum ersten Mal ein interstellares Objekt dabei beobachtet, wie es in unser Sonnensystem eintauchte und dann wieder davonflog. Beim Entfernen beschleunigte es erheblich – und wie bei 2003 RM fanden sich keine Anzeichen für einen Antrieb, der dafür verantwortlich gewesen sein könnte.
Dieser interstellare Eindringling mit dem Namen »'Oumuamua« entfachte damals eine wissenschaftliche und mediale Hysterie – es wurde sogar vermutet, dass es sich bei dem Objekt um ein außerirdisches Raumschiff handelte. Überzeugende Beweise dafür gab es aber nicht. Bei dem ganzen Wirbel um 'Oumuamua wurde beinahe übersehen, dass er offensichtliche Ähnlichkeiten mit 2003 RM aufwies – und auch mit 13 weiteren seltsamen Himmelskörpern, die seitdem durch unser Sonnensystem geflitzt sind und dabei von Forschenden beobachtet wurden.
»Wir wissen nicht, woher die Ozeane der Erde stammen. Das ist einer der Hauptgründe, warum wir Kometen erforschen«Darryl Seligman, Planetenforscher
Die Dunklen Kometen
»Auf den Bildern sehen diese Objekte tatsächlich aus wie Asteroiden«, sagt Farnocchia. »Ihre Bewegung ähnelt allerdings eher derjenigen von Kometen.« Es macht den Anschein, als würden sie durch Düsen angetrieben, die durch verdampfendes Eis entstehen. Bislang wurden bei den Objekten jedoch keinerlei Hinweise auf solche Antriebsmechanismen gefunden. Laut Darryl Seligman, Planetenforscher an der Michigan State University, USA, können die Beobachtungen kein Zufall sein: »Mit diesen Beschleunigungen kann etwas nicht stimmen.« Weil nicht zu erkennen ist, worauf der Antrieb dieser 14 seltsamen Objekte des Sonnensystems beruht, hat Seligman ihnen einen recht einprägsamen Namen verpasst: »Dunkle Kometen«.
Ließe sich das Verhalten dieser ungewöhnlichen Kometen erklären, dann würde das mehr als nur ein astronomisches Rätsel lösen. Denn falls im Sonnensystem eine bislang verborgene Kometenfamilie existiert, dann hat diese vielleicht vor langer Zeit Wasser in das innere Sonnensystem gebracht. »Wir wissen nicht, woher die Ozeane der Erde stammen«, sagt Seligman. »Das ist einer der Hauptgründe, warum wir Kometen erforschen.« Ungeachtet dessen möchte man die Flugbahnen dieser sich ungewöhnlich bewegenden Objekte genau nachvollziehen können – für den Fall, dass einer von ihnen irgendwann kurz davor ist, auf die Erde zu stürzen.
»Kometen sind an sich schon seltsame Objekte«, sagt Federica Spoto, Forscherin für Asteroiden-Dynamik am Center for Astrophysics | Harvard & Smithsonian in Massachusetts, USA. Die jüngsten Überraschungen mit den dunklen Varianten deuten aber darauf hin, dass man noch viel weniger über sie weiß, als man dachte. »Wir wussten nicht, dass es sie gibt; wir wussten nicht, dass das Sonnensystem auf diese Weise funktioniert«, sagt Spoto.
Anders als viele andere kosmische Rätsel könnte dieses jedoch schnell neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoffen, dass sie die seltsamen Objekte mit zwei leistungsstarken Teleskopen eingehender inspizieren können. Und vielleicht finden sie dann auch erstmals kometenähnliche Ausgasungen. Dank eines glücklichen Zufalls ist ein japanisches Raumschiff, dessen Hauptmission bereits erfüllt ist, auf dem Weg zu einem Dunklen Kometen. Es wird ihn alsbald aus nächster Nähe beobachten. »Wir werden dann beantworten können, was dort vor sich geht«, denkt Seligman.
Was man über die Antriebsmechanismen weiß
Asteroiden sind Gesteinsbrocken, die bei der Entstehung des Sonnensystems übriggeblieben sind. Wie sie sich bewegen, wird nicht nur von der Anziehungskraft der Sonne und anderer Planeten bestimmt, sondern auch vom Licht der Sonne: Wenn die Teilchen des Sonnenlichts, die Photonen, auf einen Gesteinsbrocken im Weltall treffen, üben sie mit der Zeit einen leichten Druck auf ihn aus. Dieser Effekt ist allerdings gering. »Der Druck des Sonnenlichts auf uns Menschen ist nicht besonders groß. Wir werden ja nicht an jedem sonnigen Tag niedergedrückt«, sagt Alan Fitzsimmons, Astrophysiker an der Queen's University Belfast in Nordirland. Dann gibt es noch den Jarkowski-Effekt. Photonen werden von der Sonnenseite eines rotierenden Asteroiden absorbiert und erwärmen dort die Oberfläche. Wenn sich die erwärmte Seite auf die Schattenseite dreht, kühlt sie ab und gibt Strahlung ab. Dieser Effekt wirkt wie ein Minitriebwerk und drängt den Asteroiden vorwärts.
Im Jahr 2016 durchforsteten Farnocchia und einige seiner Kollegen einen Katalog von erdnahen Asteroiden nach Hinweisen auf den Jarkowski-Effekt. In ihrem Bericht stellen sie Folgendes fest: Mehrere dieser Asteroiden scheinen nicht nur durch Gravitationseffekte beschleunigt zu werden, was sich selbst unter Berücksichtigung des antreibenden Effekts des Sonnenlichts nicht erklären ließ. Das Team ging davon aus, dass die meisten dieser Messwerte auf Beobachtungsfehler zurückzuführen seien und dass die Umlaufbahnen nach einer Korrektur normal aussehen würde.
Aber einer der Asteroiden weigerte sich standhaft, ins Bild zu passen. »Mit 2003 RM war etwas Seltsames los«, sagt Seligman. Er verhielt sich wie ein eisiger Komet; die unregelmäßigen Bewegungen von solchen Kometen lassen sich in der Regel leicht erklären: »Auf der Oberfläche des Kometen befindet sich Eis, und wenn er der Sonne nahe genug kommt, beginnt dieses zu sublimieren, was dem Kometen einen kleinen Schub verleiht«, erklärt Farnocchia. Eine solche Ausgasung ist üblicherweise unsichtbar und kann nur mit speziellen Teleskopfiltern gesehen werden. Die Staubwolke, die dabei ausgestoßen wird, ist jedoch gut zu beobachten. Selbst ein Kilogramm Staub, dessen Körner nicht größer als ein tausendstel Millimeter sind, lässt sich leicht erkennen. Die Staubwolke verteilt sich zu einer sehr dünnen, aber weitläufigen Scheibe, die das Sternenlicht stark streut. »Man kann Staub in jeder Wellenlänge sehen«, sagt Fitzsimmons.
2003 RM sah dagegen aus wie ein Lichtpunkt. Es gab weder eine Gas- noch eine Staubkoma um ihn herum, keinen Schweif. Von Weitem sah er einfach aus wie ein Asteroid. Das bedeutete jedoch nicht, dass sich in ihm keine Eisvorräte verbargen. »Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass sich Asteroiden und Kometen jeweils am gegenüberliegenden Ende eines ganzen Spektrums an Himmelskörpern befinden«, sagt Steve Desch, Astrophysiker an der Arizona State University, USA. Und in den letzten Jahrzehnten wurden Hybride entdeckt; einige Asteroiden sind mit Wasser und Eis durchsetzt.
Kometen sind häufig jenseits von Neptun anzutreffen, wo verschiedene Substanzen – Wasser, Ammoniak, Kohlendioxid und Kohlenmonoxid – gefroren bleiben. Aber überraschenderweise wurden bereits mehrere Objekte mit Koma und Staubschweif im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter entdeckt. Dort befinden sie sich wesentlich näher an der wärmenden Sonne. Astronomen sprechen von Hauptgürtelkometen; diese lassen sich weder eindeutig den Kometen noch den Asteroiden zuordnen.
Vor diesem Hintergrund wäre es nicht verwunderlich, wenn 2003 RM äußerlich einem Asteroiden ähnelt, sich gelegentlich aber kometenartig verhält. »Das Problem ist, dass niemand jemals eine Koma oder Staub bei ihm gesehen hat«, erklärt Fitzsimmons. Seligman, Farnocchia und ihre Kollegen fanden das verwirrend und schrieben daher einen Artikel mit dem parabelartigen Titel: »Der Asteroid, der ein Komet sein wollte«. Doch dann crashte 'Oumuamua die Party.
Ein mysteriöser Besucher
Am 9. September 2017 näherte sich ein Reisender aus einer fernen Welt einem gelblichen, eher unscheinbaren Stern in der Umlaufbahn einer kleinen, kraterübersäten, felsigen Welt. Dieser Besucher blieb vor den fast acht Milliarden Bewohnern des nahegelegenen blaugrünen Planeten namens Erde lange unbemerkt – bis zum 19. Oktober, nur wenige Tage nachdem er in einer Höhe von bloß 24 Millionen Kilometern über ihre Köpfe hinweggeflogen war.
Fast unmittelbar nachdem mit einem Teleskop auf Hawaii das Objekt entdeckt wurde, bemühten sich Astronomen auf der ganzen Welt, es zu verfolgen. Schnell waren sie beeindruckt. Dieser Felsbrocken zeigte eine extrem gekrümmte Flugkurve, die darauf hindeutete, dass er nicht aus dem Sonnensystem stammte, sondern von weit außerhalb. Folgebeobachtungen ergaben, dass er entweder die Form eines Pfannkuchens oder einer Zigarre hatte und ziemlich glänzte. Was die astronomische Gemeinschaft jedoch wirklich verblüffte, war die Tatsache, dass er beschleunigte, als er das Sonnensystem verließ – und zwar stärker, als es sich durch den Gravitationsschub erklären ließ, den er beim Umkreisen der Sonne erhalten hatte.
Das Objekt war erst entdeckt worden, als es schon wieder dabei war, dem Sonnensystem zu entfliehen. Daher blieb den Astronomen nur wenig Zeit, es zu beobachten. Ein glänzendes Himmelsobjekt, das eine nichtgravitative Beschleunigung aufwies, war ihrer Meinung nach wahrscheinlich ein Komet. Die Beschleunigung war jedoch weitaus stärker, als man es von einem typischen Kometen erwartet hätte – und trotz eiliger Bemühungen, eine Ausgasung oder ausgestoßenen Staub zu finden, konnten sie keine Anzeichen dafür feststellen.
»Es erinnerte uns alle sehr an das ›Rendezvous mit Rama‹«, sagt Desch und meint damit einen Sciencefiction-Roman von Arthur C. Clarke aus dem Jahr 1973, in dem ein rätselhaftes zylindrisches Raumschiff das Sonnensystem durchquert. Das Objekt von 2017 wurde daher mitunter salopp als Rama bezeichnet, bevor es offiziell einen hawaiianischen Namen erhielt: »'Oumuamua«, was so viel bedeutet wie »Bote von weit her, der als Erstes ankommt«.
Sicherlich hat es einen gewissen Charme, das seltsam geformte Objekt mit seinem unsichtbaren Antrieb als außerirdisches Raumschiff zu betrachten. Gleichwohl nahmen die meisten Fachleute die Idee nicht ernst. Eine Ausnahme war der Astrophysiker Avi Loeb von der Harvard University in Massachusetts, USA. Er argumentierte bekanntlich, dass es sich um eine extraterrestrische Aufklärungssonde handeln könnte, die durch Sonnenstrahlungsdruck angetrieben wird. Es gibt jedoch keine überzeugenden Beweise für diese Behauptung. Im Gegenteil, sie wurde von Astronominnen und Astronomen – darunter auch Desch – umfassend widerlegt. »Früher haben Menschen nicht von Raumschiffen gesprochen, sondern von Drachen oder Feen«, sagt Olivier Hainaut, Astronom an der Europäischen Südsternwarte in Garching bei München. »Was ist wahrscheinlicher: ein etwas seltsamer Komet, der sich zumindest ein wenig wie die uns bekannten Exemplare verhält, oder ein Raumschiff?«
Fairerweise muss man sagen, dass die Ursache für die nichtgravitative Beschleunigung von 'Oumuamua während seines Exodus weiterhin unbekannt ist. Das Objekt hat unsere galaktische Nachbarschaft für immer verlassen, und die wenigen Beobachtungen lieferten lediglich Hinweise, keine Gewissheit. Einige haben vermutet, dass es sich um ein Stück eines Planeten wie Pluto handelte und dass sprudelndes Stickstoffeis ihm seinen raketenartigen Schub verlieh. Andere wiederum denken, es könnte ein sublimierender Wasserstoffeisberg gewesen sein.
Im Jahr 2023 spekulierten Seligman und seine Kollegen in einer Veröffentlichung, dass 'Oumuamua wohl doch ein Wassereiskomet gewesen war. Wenn er von kosmischer Strahlung getroffen wird, zerfallen die Wasserpartikel möglicherweise in Wasserstoff und Sauerstoff, die in kleinen Kammern aus formveränderndem Eis eingeschlossen werden. Wenn das Eis von Sonnenlicht bestrahlt wird, setzt es den Wasserstoff frei, der den sonst typischen Eiskometen mit rasender Geschwindigkeit antreibt.
Es besteht allerdings auch eine geringe Chance, dass 'Oumuamua kein Komet war. Die Kraft der Sonnenstrahlung könnte ihn tatsächlich von der Sonne wegdrücken. Das würde allerdings nur funktionieren, wenn das Objekt eine ganz bestimmte Form hat: »ein riesiges schneeflockenartiges Ding«, sagt Seligman – eine Art eisiges Segel mit extrem geringer Dichte. Laut dem Planetenforscher allerdings war es vermutlich einfach ein seltsamer Komet.
»'Oumuamua war interessant, weil er das erste interstellare Objekt war, das man entdeckt hat«, erzählt Farnocchia, der ihn ebenfalls detailliert untersucht hat. Denjenigen, die bereits über die unberechenbaren Bewegungen von 2003 RM gegrübelt hatten, kam die Beobachtung jedoch bekannt vor. Beide Objekte bewegten sich wie Kometen, wahrscheinlich durch eine Art Eisverdampfung, die nicht nachgewiesen werden konnte. Zwar war 'Oumuamua aufgrund seiner ungewöhnlichen Form und der Vielzahl exotischer Möglichkeiten an Eiseinschlüssen eher ein Cousin als ein Geschwister von 2003 RM. Nichtsdestoweniger deutete die Existenz von 'Oumuamua darauf hin, dass 2003 RM wohl nicht allein in unserem Sonnensystem ist.
Eine ganze Familie an Dunklen Kometen
Farnocchia und sein Team durchsuchten das Sonnensystem sogleich nach Anzeichen von anderen unbekannten, kometenähnlichen Objekten. Im Jahr 2023 vermeldeten Seligman, Farnocchia, Hainaut und andere ihre Entdeckungen: Sie hatten sechs weitere Objekte identifiziert, die 2003 RM ähnelten. Jedes einzelne zeigte unerklärliche nichtgravitative Beschleunigungen, aber keine Anzeichen von Kometenaktivität. Selbst mit den besten Teleskopen der Welt war davon nichts zu sehen. Die Suche nach weiteren Objekten begann, und es dauerte nicht lange: Bis 2024 hatte das Team sieben weitere gefunden, sodass die Gesamtzahl der Dunklen Kometen auf 14 stieg. Und nun wurde es wirklich seltsam.
»Die Outies bedecken sich quasi mit einer Staubdecke und sagen sich: ›Das war's, ich habe aufgehört, ein Komet zu sein. Ab jetzt bin ich ein Asteroid‹«Alan Fitzsimmons, Astrophysiker
Wie zuvor ließen sich die anomalen Beschleunigungen nicht durch die Auswirkungen des Sonnenlichts erklären. Und genau wie die Wissenschaftler erwartet hatten, konnten sie keine Anzeichen dafür finden, dass auch nur einer dieser 14 Gesteinsbrocken Staub ausstieß. Andere Astronomen, die nicht an der Studie beteiligt waren, hatten an den Analysen des Teams nichts zu beanstanden. »Sie machen ihre Sache wirklich gut«, sagt Fitzsimmons. »Diese Arbeit hat keine Fehler.«
Wie schon erwähnt, wäre Staub, der von Kometen wegfliegt, leicht zu sehen. Das könnte bedeuten, dass diese Objekte, wenn sie von der Sonne erhitzt werden und ihr Eis verdampft, »nur kleine Mengen an Luft ausstoßen, wie ein kleiner Luftspritzer«, sagt Megan Schwamb, Planetenforscherin an der Queen's University Belfast in Nordirland. Für die Forschergemeinschaft war es jedenfalls frustrierend, dass niemand den Staub beobachten konnte.
Die Innies und Outies
Seligman war etwas äußerst Merkwürdiges an diesen Dunklen Kometen aufgefallen: Sie ließen sich in zwei Kategorien unterteilen. Die eine Familie, die äußeren Dunklen Kometen – nennen wir sie »Outies« –, schien Licht stärker zu reflektieren und größer zu sein, mit bis zu einer Länge von mehreren hundert Metern oder sogar mehr. Ihr Familienname kommt daher, dass sie näher bei Jupiter und somit eher im äußeren Sonnensystem verweilen. Ihre elliptischen Umlaufbahnen ähneln sogar denen der Kometen der Jupiterfamilie; diese Objekte umkreisen die Sonne in weniger als 20 Jahren und stammen ursprünglich aus dem Kuipergürtel, einem torusförmigen Band aus eisigen Brocken jenseits von Neptun. Der Asteroid 2003 RM ist ein solcher Outie.
Dann gibt es noch die inneren Dunklen Kometen, die sogenannten »Innies«. Sie sind kleiner – alle mit einem Durchmesser von 50 Metern oder weniger – und bewegen sich auf kreisförmigen Umlaufbahnen im inneren Sonnensystem. Ein Beispiel für einen Innie ist das Objekt 1998 KY26, das möglicherweise nur zehn Meter Durchmesser hat.
Das Team vermutet, dass sich das Verhalten der Outies leichter erklären lässt. Diese helleren Objekte mit kometenähnlichen Umlaufbahnen sind wahrscheinlich eisige Kometen, die bloß sehr geringe Mengen an Gas und Staub freisetzen, was ausgesprochen schwer zu erkennen ist. Wenn dem so ist, könnten diese Exemplare eine Antwort auf eine sehr alte Frage liefern. »Wie sterben Kometen?«, fragt Fitzsimmons. »Wir wissen, dass einige von ihnen spektakulär auseinanderfallen, zerbrechen«, insbesondere wenn sie zu nahe an die Sonne fliegen – wie Ikarus aus der griechischen Mythologie.
»Wir haben noch nie einen aktiven Kometenkern gesehen, der kleiner als ein paar hundert Meter war«Alan Fitzsimmons, Astrophysiker
Doch die scheinbar minimale Kometenaktivität der Outies stützt einen anderen Mechanismus, nämlich Ersticken. Wenn Outies sich der Sonne nähern und ihr verdampfendes Eis genügend eingeschlossenen Staub ins All freisetzt, könnte ein Großteil davon zurück auf den eisigen Kern des Kometen fallen. Wenn dieses Eis nun permanent von Staub bedeckt ist, wird es zunehmend vor Sonneneinstrahlung geschützt. Nach einiger Zeit verdampfen nur noch kleine Bereiche des Eiskerns; vielleicht wird schließlich gar kein Eis mehr freiliegen. »Die Outies bedecken sich quasi mit einer Staubdecke und sagen sich: ›Das war's, ich habe aufgehört, ein Komet zu sein. Ab jetzt bin ich ein Asteroid‹«, sagt Fitzsimmons.
Wie sich die Innies verhalten, ist schwieriger zu erklären – was sie umso faszinierender macht. Es ist rätselhaft, dass sie noch Eis für ihre sporadischen Beschleunigungsphasen haben, obwohl sie die ganze Zeit im inneren Sonnensystem verbringen und regelrecht von der Sonne verbrannt werden. Doch »das wirklich Seltsame ist ihre Größe«, sagt Fitzsimmons. »Wir haben noch nie einen aktiven Kometenkern gesehen, der kleiner als ein paar hundert Meter war.« Ein winziger Kern ist extrem anfällig dafür, zerstört zu werden. Das kann entweder passieren, indem er sich erhitzt, oder durch eine selbstzerstörerische Pirouette. Und doch existieren die Innies.
Seligman ist sich nicht sicher, wie eng die Innies und die Outies miteinander verwandt sind. Eine Möglichkeit ist, dass die Outies manchmal in das innere Sonnensystem stürzen und die Innies sozusagen Nachkommen davon sind, die auf ein dehydriertes Ende zusteuern. Alternativ könnten die Innies Hauptgürtelkometen sein, die tatsächlich Koma und Schweife haben, die sich beobachten lassen. Allerdings wurden sie schon so lange erwärmt, dass sie fast vollständig ausgetrocknet sind und daher fast keine Kometenaktivität mehr aufweisen.
Dass mittlerweile schon 14 Exemplare bekannt sind, die sich untersuchen lassen, ist ein echter Glücksfall für die Kometenjäger. Zwar wirft die Sammlung noch mehr Fragen auf, als sie eindeutige Antworten liefert. Gleichwohl zeichnen sich mittlerweile erste weitreichende Erkenntnisse über Dunkle Kometen und deren Auswirkungen ab. Modelle deuten darauf hin, dass ein kleiner Teil des Wassers der Erde im Inneren des Planeten entstanden ist und durch Vulkanismus an die Oberfläche gelangte. Woher kam aber der Rest? »Die naheliegendsten Kandidaten sind Kometen«, sagt Hainaut. Da die Objekte jedoch die meiste Zeit im Kuipergürtel oder in der wesentlich weiter entfernten Oortschen Wolke verbringen, wären sie zu weit entfernt gewesen, als dass sie diese Aufgabe hätten erfüllt können. Dunkle Kometen wären eine nähergelegene Quelle. »Es ist sehr einfach, Material aus dem Asteroidengürtel zur Erde zu bringen«, sagt Hainaut – und Kometen aus dem Hauptgürtel sowie die inneren Dunklen Kometen erfüllen diese Voraussetzung.
Kometen und Asteroiden abwehren
Die Existenz Dunkler Kometen könnte sich auch auf die »planetare Verteidigung« auswirken – also diejenige wissenschaftliche Disziplin, die verhindern soll, dass gefährlich große Asteroiden und Kometen auf die Erde stürzen. Eine der Hauptaufgaben von Farnocchia als Mitglied des Center for Near-Earth Object Studies der NASA ist es, potenziell gefährliche Asteroiden zu finden, bevor sie uns finden. Daher ist es in seinem – und in unser aller – Interesse, dass wir wissen, wie man die etwas weniger vorhersehbaren Umlaufbahnen Dunkler Kometen berechnet.
Mit anderen Worten: Wenn man einen größeren erdnahen Asteroiden findet, den noch niemand zuvor identifiziert hat, ist das ein guter Anfang. »Aber wenn man nicht weiß, wo er sich hinbewegt, bringt das alles nichts«, sagt Seligman. Farnocchia, ein Veteran der planetaren Verteidigung, ist jedoch nicht allzu besorgt. Die automatisierte Software, die die Bewegungen von erdnahen Asteroiden und Kometen sowohl weit in die Zukunft hinein erkennen als auch präzise verfolgen soll, kann die neue Art der Beschleunigungen Dunkler Kometen möglicherweise noch nicht vollständig berücksichtigen. Doch im Maßstab eines Menschenlebens »ließen sich die Koordinaten immer noch verbinden«, sagt er.
Als man im Jahr 2024 die Dunklen Kometen in zwei Familien aufteilen konnte, war das ein deutlicher Schritt nach vorne. Gleichwohl sind die Wissenschaftler, die den Objekten nachjagen, weiterhin verwirrt: »Was ist hier los?«, fragt Farnocchia. »Was sind diese Objekte, und warum können wir ihren ausgestoßenen Staub nicht sehen?«
Obschon die Forschenden mit extrem leistungsstarken optischen Teleskopen bislang nicht erfolgreich waren, werden sie bald mit zwei weiteren ihr Glück versuchen. Das erste ist das Vera C. Rubin Observatory, eine gigantische Digitalkamera mit Weitwinkel, die auf einem Bergrücken in Chile aufgebaut wurde. Dieses Observatorium wurde 2025 in Betrieb genommen. Mit ihm kann man innerhalb weniger Monate Millionen neuer Asteroiden und zahlreiche Kometen entdecken. Ziemlich sicher wird es die bekannte Liste Dunkler Kometen erweitern und dem Team weitere Anomalien liefern, die sie erforschen können.
Das zweite Teleskop ist das James Webb Space Telescope (JWST). Die Forschenden müssen allerdings die Verantwortlichen erst davon überzeugen, ihnen Messzeit einzuräumen. Mit dem Weltraumobservatorium könnte man im Infraroten Dinge aufspüren, die mit anderen Teleskopen nicht zu sehen sind, darunter auch die normalerweise unsichtbaren Wasserdampfausdünstungen von Kometen. »Das JWST ist wirklich das einzige Teleskop, mit dem wir ihre ausgestoßene Koma messen könnten«, sagt Aster Taylor, Doktorandin der planetarischen Astrophysik an der University of Michigan, USA.
Im Jahr 2023 konnte man mit Daten des JWST erstmals bestätigen, dass um einen Kometen im Hauptgürtel Wasserdampf vorhanden ist. Der Staub, der vermutlich von Dunklen Kometen abgesondert wird, mag schwer zu fassen sein. Die Forschenden könnten das JWST gleichwohl nutzen, um stattdessen nach Ausgasungen zu suchen. »Wenn sie Wasseremissionen finden, ist der Fall wirklich klar«, sagt Fitzsimmons – und damit wäre die Sache erledigt.
Die Messzeiten am JWST sind jedoch hart umkämpft, und so wurde der ursprüngliche Plan des Teams zur Erforschung Dunkler Kometen abgelehnt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben daher einen neuen Antrag eingereicht. »Wir hoffen einfach, dass wir dieses Mal Erfolg haben«, sagt Seligman. Selbst wenn man keine Ausgasungen entdeckt, lassen sich mit dem Weltraumteleskop Informationen über den Mineralgehalt der Oberflächen Dunkler Kometen gewinnen. Und das könnte wiederum Aufschluss darüber geben, ob Eis vorhanden ist.
Unterwegs zu einem Dunklen Kometen
Besonders begeistert zeigt sich die Kometenjäger-Community darüber, dass sich bereits ein japanisches Raumschiff auf dem Weg zu einem Dunklen Kometen befindet. Kurioserweise haben die Verantwortlichen dieser Weltraummission davon bis vor Kurzem nichts gewusst. Die japanische Mission Hayabusa2, zu Deutsch »Wanderfalke 2«, ist eine der größten Missionen aller Zeiten, die Jagd auf Asteroiden macht. Ihr ursprüngliches Ziel bestand darin, eine Probe des kohlenstoffreichen Asteroiden Ryugu zu entnehmen und zur Erde zu bringen. Hier wird diese nun von Astrochemikern untersucht. Sie möchten herausfinden, ob alte Asteroiden wie Ryugu die Bausteine sowohl von Planeten als auch von Lebewesen enthalten. Hayabusa2 übertraf alle Erwartungen: Im Jahr 2018 erreichte die Sonde Ryugu; im darauffolgenden Jahr feuerte sie ein Projektil auf den Asteroiden ab, um einen Einschlagkrater zu verursachen und vergrabenes Material freizulegen. Im Anschluss flog das Raumschiff an den Krater heran und sammelte mit einem Greifarm einige Körner davon ein.
Nachdem die Sonde ihre wertvolle Fracht im Jahr 2020 sicher zur Erde gebracht hatte, flog sie zurück ins All. Hier begann ihre erweiterte Mission. Diesmal übernahm sie eine Rolle in der planetaren Verteidigung und hieß fortan Hayabusa2# – das »#« steht für »sharp«, angelehnt an die Musiknotation; in diesem Fall steht das Akronym für »Small Hazardous Asteroid Reconnaissance Probe«, also Sonde zur Erkundung kleiner gefährlicher Asteroiden. Hayabusa2# ist inzwischen auf dem Weg zu zwei nahegelegenen Asteroiden, um sie zu untersuchen. Beide sind kleiner als Ryugu, aber dennoch so groß, dass sie für die Erde gefährlich werden könnten. Im Juli 2026 wird Hayabusa2# den ersten Asteroiden namens Torifune passieren. Und 2031 soll die Sonde das weitaus kleinere Objekt mit dem Kürzel 1998 KY26 erreichen.
Und tatsächlich: Bei 1998 KY26 handelt es sich um einen der inneren Dunklen Kometen. »Das hat mich überrascht«, sagt Yuichi Tsuda, Projektleiter der Hayabusa2-Mission. Der Felsbrocken wurde ursprünglich nur ausgewählt, weil er klein ist, unglaublich schnell rotiert und im Gegensatz zu größeren Asteroiden, die eher aus Geröllhaufen zusammengesetzt sind, lediglich aus einem einzigen Felsbrocken besteht. »Wir hielten es für extrem wichtig, ihn zu untersuchen, um die Erde zu schützen«, sagt Tsuda. Als vor Jahren das Zielobjekt für die Mission auserkoren wurde, war dem Team noch keine Forschung zu Dunklen Kometen bekannt.
Im Jahr 2023 suchte Seligman verzweifelt nach weiteren Informationen über die immer zahlreicheren Dunklen Kometen und recherchierte zu jedem einzelnen von ihnen im Internet. Als er nach 1998 KY26 suchte, wurde er von einer Flut wissenschaftlicher Artikel überschwemmt. »Als ich alles zusammenfügte, dachte ich: ›Oh, wow!‹«, erzählt er lachend. »Das war riesiges Glück – ein Zufallstreffer. Es war das, was noch gefehlt hatte.« Endlich geriet ein Dunkler Komet in den Fokus einer Mission.
Tsuda und sein Team sind sich noch nicht sicher, was sie tun werden, wenn die Sonde 1998 KY26 erreicht. Sie könnten versuchen, den Dunklen Kometen zu umkreisen und seine Oberfläche nach kometenähnlichem Eis und Mineralen abzusuchen. Sie könnten auch die verbleibenden Geschosse einsetzen, um einen Krater auf seine Oberfläche zu sprengen und inneres Material freizulegen. Hayabusa2# könnte ihre verlängerte Mission sogar mit einem riskanten Manöver beenden und auf dem rasend schnell rotierenden Felsbrocken landen.
Wie auch immer die Entscheidung letztendlich ausfällt, die Dunkle-Kometen-Forschungscommunity kann ihr Glück jetzt schon kaum fassen. »Unsere japanischen Freunde werden viel Spaß haben«, sagt Hainaut. Vorerst bleiben Dunkle Kometen aber rätselhaft. »Es ist schwer zu erklären, wie sie überhaupt existieren können«, sagt Fitzsimmons. »Es ist nun mal so: Mutter Natur ist schlauer als wir. In der Astronomie dreht sich alles darum, herauszufinden, wie die Natur das fertiggebracht hat.«
Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass die bisherige Arbeit völlig umsonst war. »Was, wenn wir in den Beobachtungen nichts sehen?«, fragt Seligman – weder Ausgasungen noch Staub, aber weiterhin anhaltende kometenähnliche Beschleunigungen? »Was werden wir dann schlussfolgern?« Doch bis 2031, bis Hayabusa2# womöglich einen Dunklen Kometen zu ihrer letzten Ruhestätte unter den Sternen gemacht hat, ist es noch lange hin. Vielleicht wird man bis dahin mit dem Rubin-Observatorium bereits Dutzende weitere Dunkle Kometen identifiziert und mit dem JWST eindeutige Beweise für Ausgasungen gefunden haben. Und mit anderen Teleskopen wird man endlich verräterische Staubfahnen entdeckt haben.
Wahrscheinlich werden die Forschenden, die sich mit Dunklen Kometen beschäftigen, bald Antworten haben und unser Sonnensystem ein kleines bisschen besser verstehen. »Ich glaube, ich habe mich emotional noch nicht darauf vorbereitet«, sagt Seligman. Er seufzt. »Es macht einfach Spaß, wenn eine Sache so rätselhaft ist.«
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