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Anthropologie: Durch die Hintertür

"Out of Africa" – unter diesem griffigen Motto firmiert eine Hypothese, die inzwischen von den meisten Paläoanthropologen anerkannt wird: Der anatomisch moderne Mensch – auch Homo sapiens genannt – stammt ursprünglich aus afrikanischen Regionen südlich der Sahara. Von hier aus machte er sich auf, die Erde zu erobern und verdrängte überall, wo sich bereits andere Menschenarten breit gemacht hatten, seine Konkurrenten.

Die Wurzeln dieses Eroberers reichen zweihundert Jahrtausende zurück – die ältesten afrikanischen Homo-sapiens-Fossilien werden auf 195 000 Jahre geschätzt. Europa erreichte er, zum Leidwesen der alteingesessenen Neandertalern, vor spätestens 35.000 Jahren und läutete hier mit der Kulturstufe des Aurignaciens das Jungpaläolithikum ein. Doch was geschah in den 160.000 Jahren dazwischen?

Lange vermuteten Anthropologen, dass die ersten Auswanderer bereits vor 100.000 Jahren den Schwarzen Kontinent verließen. Genetische Untersuchungen der heutigen Erdbevölkerung siedeln diesen Exodus inzwischen mit 60.000 bis 50.000 Jahren deutlich später an. Doch die fossilen Spuren bleiben rar.

Eine dieser Spuren wurde wohl schon 1952 entdeckt – wenn auch noch nicht als solche erkannt: In der Nähe der südafrikanischen Stadt Hofmeyr tauchte damals ein menschlicher Schädel auf, der eindeutig zu Homo sapiens gehörte, dessen Altersbestimmung sich jedoch als äußerst diffizil erwiesen hatte. Radiokarbonmethoden scheiterten, da der Schädel zu wenig des hierfür nötigen Kollagens enthielt.

Doch im Innern des Hofmeyr-Schädels fanden sich noch Überreste des Sediments, die jetzt eine neue Datierung ermöglichten. Mit Hilfe verschiedener Methoden – wie der optisch stimulierten Lumineszenz, bei der die Zeit des letzten Lichteinfalls abgeschätzt wird – gelang den Forschern um Frederick Grine von der Universität Stony Brook, dem widerspenstigen Schädel endlich ein passendes Alter zuzuweisen. Ergebnis: 36.000 Jahre .

Er passt damit ziemlich gut in das gesuchte Zeitfenster – und weist bereits Richtung Europa. Denn trotz einiger primitiver Merkmale erscheint der Hofmeyr-Schädel nach Ansicht der Forscher eng verwandt mit europäischen Homo-sapiens-Fossilien aus dem Jungpaläolithikum. Offensichtlich gehörten die unmittelbaren Vorfahren des Menschen aus Hofmeyr zu jenen Zeitgenossen, die einige Jahrtausende zuvor ihre afrikanische Heimat verlassen hatten.

Wie kamen sie nun ins ferne Europa? Richtung Norden, und dann an den Gestaden des Mittelmeers immer geradeaus, lautet eine einleuchtend klingende Hypothese. Doch Spuren, die eine Forschergruppe aus Russland, den USA, Großbritannien und Italien ausmachen konnten, weisen viel weiter östlich: nach Russland .

Am rechten Ufer des Flusses Don, etwa 400 Kilometer südlich von Moskau, liegt das Dorf Kostenki – und eine der bekanntesten steinzeitlichen Ausgrabungsstätten in Russland.

Hier tauchten menschliche Artefakte aus Stein, Elfenbein und Knochen auf, die sich von Überresten des russischen Mittelpaläolithikums deutlich unterscheiden – wie etwa eine Elfenbeinschnitzerei, welche die Forscher um John Hoffecker von der Universität von Colorado in Boulder als unvollendet gebliebene menschliche Figur interpretieren. Mit einem geschätzten Alter von 45.000 bis 42.000 Jahren sind die Gegenstände allerdings älter als entsprechende Fundstücke des westeuropäischen Aurignaciens. Offensichtlich tauchte hier wie aus dem Nichts eine vollkommen neue Technologie auf.

Auf den Schöpfer dieser Kulturgüter deuten zwar nur zwei Zähne hin, die sich einer exakten Artbestimmung entziehen, doch für Hoffecker besteht kein Zweifel: "Die Artefakte sind unverkennbar das Werk des modernen Menschen."

Demnach hat sich Homo sapiens schon vor vielleicht 45.000 Jahren tief in die russische Ebene vorgewagt – bevor er den Weg nach Westen einschlug. "Diese sehr frühe Anwesenheit des modernen Menschen in einer der kältesten und trockensten Gegenden Europas hat uns sehr überrascht", betont Hoffecker. "Sie gehört zu den letzten Orte, von dem wir erwartet hätten, dass sich die Leute aus Afrika dort zuerst niederließen."

Was lockte sie hierher? Die fehlende Konkurrenz durch Neandertaler, vermutet der Geowissenschaftler. Denn vermutlich lebten hier während der letzten Eiszeit – wenn überhaupt – nur wenige von unseren Vettern aus dem Tal bei Düsseldorf. Und genau hier lag die Chance für die afrikanischen Einwanderer, ist Hoffecker überzeugt: "Die Neandertaler, die Europa länger als 200.000 Jahre besetzt hielten, scheinen hier eine Hintertür für den modernen Menschen offen gelassen zu haben."

Andreas Jahn / spektrumdirekt

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