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Suprafluidität: Durch Wände fließen

Im Winter sprengt die Wasserwacht oft Barrieren aus angeschwemmten Eisschollen, weil das nachfließende Wasser sich daran aufstaut und die Umgebung zu überfluten droht. In der quantenmechanischen Welt von Helium wäre so etwas nicht notwendig: Dort fließt es einfach durch das Hindernis hindurch.
Ein kleines Experiment beim Limonade trinken: Wir tauchen den Strohhalm in unser Getränk, halten oben den Daumen drauf, zapfen so ein wenig Flüssigkeit aus der Brause – und lassen das untere Ende des Halmes in einem Eimer voller Eis gefrieren. Hat sich am unteren Ende des Röhrchens nun ein kleiner Eisklumpen gebildet, können wir ohne Angst vor Verlusten den Daumen vom oberen Ende nehmen. Die oben nicht gefrorene Limonade bleibt im Halm – durch den festen Eispropf unten kann sie nicht.

Was Limonade unmöglich ist, ist nach Berichten aus Laboratorien rund um die Welt einigen ultrakalten Flüssigkeiten durchaus möglich. Dieses Phänomen hat sich jetzt ein Team um den Japaner Satoshi Sasaki von den französischen Universitäten 6 und 7 in Paris sowie dem Centre National de la Recherche Scientifique CNRS genauer angesehen.

Statt Limonade benutzten Sasaki und seine Kollegen Helium für ihre Experimente. Bei hohem Druck und extrem tiefen Temperaturen von wenigen Graden über den absoluten Temperaturnullpunkt wird dieses Edelgas flüssig und schließlich fest. Erhöht man den Druck weiter oder verringert die Temperatur noch mehr, dann entsteht suprafluides, respektive suprafestes Helium. Die so entstehende Flüssigkeit verliert plötzlich jegliche innere Fließreibung: Ein Strudel in der Brühe würde fließen und fließen und fließen. Ähnlich sieht es mit dem suprafesten Stoff aus: Ließe man ihn auf einer Oberfläche entlang schlittern, so fände die Bewegung kein Halten.

In insgesamt dreizehn Glasröhrchen fingen die Wissenschaftler nun flüssiges Helium ein, dessen unteres Ende sie mit suprafesten Helium verschlossen. Dann schauten sie was passiert. Bei zehn ereignete sich gar nichts. Die Pfropfen hielten dicht. Bei drei Proben leckte die Flüssigkeit jedoch in ein dafür vorgesehenes Auffangbecken. Bei genauem Hinsehen, stellten die Experimentatoren fest, dass die Kanülen, die dicht hielten, mit einem sauberen Eiskristall ohne Fehl und Tadel verschlossen waren: Einem so genannten Einkristall. Die durchlässigen Röhrchen waren dagegen mit Eisklumpen verschlossen, die offenbar aus mehreren Kristalliten bestanden, deren Grenzflächen durch so genannte Korngrenzen voneinander abgegrenzt waren. Das Material war dennoch durch und durch kompakt – ähnlich wie massiver Stahl oder Eisen, die genauso aus mikroskopisch kleinen und fest verbackenen, kristallinen Partikeln bestehen. Und doch gelang es dem supraflüssigen Helium dieses Hindernis zu durchdringen.

Die Wissenschaftler vermuten nun, dass der Flüssigkeitsaustausch entlang dieser Korngrenzen verläuft. Denn je mehr davon zu finden waren, desto schneller leerten sich die Glasröhrchen. Ausschließen konnten sie jedenfalls, dass das supraflüssige Helium zwischen dem Eispfropfen und dem inneren Glasrand entlang lief. Ein Röhrchen, das mit einem perfektem Einkristall verschlossen war, hätte dann ja ebenfalls lecken müssen. Wegen des gleichmäßigen Fließverhaltens konnten die Experimentatoren zudem ablesen, dass es sich bei der Flüssigkeit in der Tat um eine suprafluide Substanz handelte. Eine normale Flüssigkeit würde das Röhrchen nach einem exponentiellen Verlauf leeren.

Wie der Prozess genau abläuft, darüber wollen die Forscher noch nicht spekulieren. Schließlich gelang es ihnen bislang nicht, gezielt mehrkristalline Eisverschlüsse mit definierten Korngrenzen zu erzeugen. Doch scheinen sie dem Geheimnis der spukenden Flüssigkeit, die durch Wände geht, dicht auf den Fersen zu sein.

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