Kommunikation: Wenn die Stimme nicht mehr stimmt

Als am 26. Juli 2024 am Fuß des beleuchteten Eiffelturms unter fünf gigantischen Olympiaringen Céline Dion das Lied »L‘Hymne à l’amour« anstimmte, jubelten ihr mehr als 300 000 Menschen zu. Sie waren nach Paris gekommen, um gemeinsam die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele zu feiern. Und viele von ihnen dürfte der Auftritt der kanadischen Sängerin überrascht haben. Denn Céline Dion sang mit kraftvoller Stimme und auch ein bisschen triumphierend, so schien es.
Ein Teil des Ichs
Nur ein Jahr zuvor wäre ein derartiger Auftritt undenkbar gewesen. Schmerzhafte Muskelkrämpfe quälten die Künstlerin, machten es ihr zeitweise unmöglich zu laufen. Zudem hatte sie die Kontrolle über ihre charakteristische volle Stimme verloren. Die Sängerin leidet an dem Stiff-Person-Syndrom (SPS), einer seltenen Autoimmunerkrankung. Körpereigene Antikörper greifen Nervenzellen des Rückenmarks an, die die Spannung der Muskulatur kontrollieren, darunter auch jener im Kehlkopf.
In dem 2024 erschienenen Dokumentarfilm »I am« erzählt Dion, wie ihr bei ihren letzten öffentlichen Auftritten Anfang 2020 immer wieder die Stimme wegbrach und wie sie sich schließlich entschloss, ihre Courage World Tour abzubrechen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass die Krankheit ihr nicht nur körperlich zusetzt, sondern auch psychisch, vor allem die stimmlichen Probleme. Mit Physiotherapie, Gesangstraining und Medikamenten kämpft sie gegen den Verlust ihrer Singstimme an.
Mehr als ein Mittel zur Kommunikation
Die Stimme ist weit mehr als ein Transportmittel für Sprache; sie ist ein großer Teil unserer Identität. An ihr erkennen wir nicht nur, ob ihr Besitzer männlich oder weiblich ist, sondern schätzen recht zuverlässig das Alter. »Wir merken an der Stimme sogar, ob jemand krank oder gesund ist«, sagt der Kognitionspsychologe Gregory Bryant, von der Fakultät für Kommunikation an der University of California in Los Angeles: »Sie ist wie ein Fingerabdruck.«
»Die Stimme ist wie ein Fingerabdruck«Gregory Bryant, Kognitionspsychologe
Beim Singen werden offenbar andere Mechanismen als beim Sprechen aktiviert, erklärt Bryant. Singen hänge eng mit einem evolutionär viel älteren System zusammen, nämlich mit dem stimmlichen Ausdruck von Emotionen, etwa durch Schreien und Weinen. Lachen wiederum habe sich möglicherweise aus dem heftigen Ein- und Ausatmen beim ausgelassenen Spielen entwickelt. Entsprechende Lautäußerungen bei Menschenaffen, aber auch Delfinen, Elefanten und Hunden hätten viel mit dem spontanen Lachen des Menschen gemeinsam: Sie dienen als beschwichtigendes Signal, dass das Gegenüber nichts zu befürchten hat, selbst wenn es etwas wilder zugeht. Im Grunde nutzten wir unser uraltes Säugetier-Selbst und entwickelten die lautliche Kommunikation dann zum Zweck des friedlichen Zusammenlebens weiter, sagt der Kognitionspsychologe.
Wie Lachen oder Weinen kam der Gesang ursprünglich ohne Worte aus, so die Theorie. Unsere Vorfahren summten Melodien, wiegten sich in Rhythmen, sie »vokalisierten« – wie Fachleute es nennen. Die Stimme an sich war das Kommunikationsinstrument. Wir Menschen haben es perfektioniert: Wir können bewusst hoch oder tief sprechen, wir können singen, schreien, flüstern, hauchen. Anders als andere Säugetiere vermögen wir sogar unsere Stimme zu verstellen, damit sie so ähnlich klingt wie die einer anderen Person.
Ausgefeilte Anatomie des Stimmapparats
Zu dieser stimmlichen Virtuosität verhelfen uns unter anderem die anatomischen Besonderheiten unseres Stimmapparats. Herzstück ist der Kehlkopf, ein kurzes Röhrchen, das die Lunge über die Luftröhre mit dem Mundraum verbindet. Er liegt vorn am Hals direkt unter unserem Kinn und lässt sich von außen als Knubbel ertasten. Bei Männern ist der Kehlkopf häufig vergrößert und wölbt sich sichtbar als Adamsapfel hervor.
Zum Mundraum verschließt der Kehldeckel den Kehlkopf, sobald wir schlucken. So gelangen weder Flüssigkeiten noch Nahrungsbrocken in die Luftröhre. Unter dem Kehldeckel bildet die Schleimhaut, die den Kehlkopf auskleidet, dicke Falten – unsere Stimmlippen. In diesen verborgen spannen sich die eigentlichen Stimmbänder.
Der ganze Apparat wird gehalten von elastischen Bändern, Knorpeln und Muskeln. Sie steuern konzertiert, wie gespannt die Stimmbänder sind und damit, wie schnell oder langsam unsere Stimmlippen schwingen – denn so entstehen die Töne. Atmen wir einfach nur ein und aus, sind die Stimmlippen weit voneinander entfernt. Zwischen ihnen öffnet sich als breiter Spalt die Stimmritze, die ein charakteristisches Dreieck oder V bildet. Hierdurch strömt Luft ungehindert in die Lunge hinein und wieder hinaus. Beim Ein- und Ausatmen machen gesunde Menschen keine Geräusche.
Wollen wir einen Ton erzeugen, schließen die Stellknorpel der Stimmlippen die Stimmritze, so dass die Luft aus der Lunge mit Druck durch den Spalt gepresst wird. Der Luftstrom drückt die Stimmlippen kurz auseinander, dann schließen sie sich wieder. Das Wechselspiel setzt sich fort, die Stimmlippen schwingen also und erzeugen dabei einen Ton.
Wie ein quietschender Luftballon
Ein ähnliches Phänomen lässt sich beobachten, wenn wir die Luft aus einem prall gefüllten Luftballon lassen und dabei dessen Mundstück weit auseinanderziehen. Die Luft entweicht durch die vibrierenden Gummilippen mit einem quietschenden Ton. Er ist umso höher, je stärker wir das Mundstück dabei dehnen.
Vergleichbares gilt für unsere Stimmbänder: Je gespannter sie sind, umso schriller der Klang. Sind wir sehr aufgeregt, entgleitet uns die Stimme häufiger, wir sprechen schneller und manchmal regelrecht quietschig. Entspannte Stimmbänder schwingen dagegen langsamer, der Grundton ist tiefer und weicher.
Auch die Form der Stimmlippen beeinflusst die Höhe unserer Stimme: Je kürzer und schmaler sie sind, umso höher sprechen wir. Die Stimmlippen von erwachsenen Männern vibrieren rund 120-mal pro Sekunde (120 Hertz), bei Frauen liegt die Frequenz fast doppelt so hoch, denn sie haben in der Regel kürzere Stimmlippen.
Pfeifregister ohne Pfeifen
Sichtbar werden die Schwingungen nur mit technischen Hilfsmitteln, denn für unser bloßes Auge sind die Bewegungen zu schnell. Ein internationales Forschungsteam dokumentierte 2024 mit einer Hochgeschwindigkeitskamera, wie die Stimmlippen professioneller Opernsopranistinnen schwangen, als diese mit einer Frequenz von bis zu 1500 Hertz extrem hoch sangen – also nicht nur bis zum berühmten hohen C, sondern noch etliche Töne darüber. Man spricht vom »Pfeifregister«, weil man bis vor Kurzem noch fälschlicherweise annahm, dass die Stimmlippen sich hier gar nicht mehr bewegen, sondern die Töne eher wie das Pfeifen mit den Mund entstehen, indem die Luft durch eine kleine feste Öffnung strömt.
Ihre besondere Klangfarbe, ihr Timbre rundet unsere Stimme ab. Sie ist stark abhängig von den Resonanzräumen einer Person: Was beim Cello der hohle Holzkörper, sind bei uns Größe, Form und Beschaffenheit des Mund-, Nasen- und Rachenraums.
Wie der Körper verändern sich Stimmhöhe und Klangfarbe im Lauf des Lebens. Bei Kindern sind die Stimmbänder sehr elastisch und nur etwa einen Zentimeter lang. Sie schwingen mit rund 400 Hertz, die Stimmen klingen meist sehr klar und unterscheiden sich bei Mädchen und Jungen kaum. Werden wir älter, reifen Kehlkopf und Stimmlippen, und der gesamte Apparat wird mit der Zeit starrer. Außerdem verdoppelt sich bei Jungen in der Pubertät die Größe des Kehlkopfs, bei Mädchen wächst er um etwa zwei Drittel. Ähnliches gilt für die Stimmlippen und -bänder: Sie werden dicker und länger. In der Folge sinkt die Tonlage bei den Heranwachsenden.
Eine Frage der Hormone
Dass sich dieser Frequenzwechsel bei Männern oft drastisch als Stimmbruch zeigt, liegt am Testosteron. Der Pegel des Hormons erhöht sich bei Jungen in der Pubertät um ein Vielfaches. Wie Forschungsteams herausfanden, reagieren die Stimmlippen direkt auf die Geschlechtshormone, da ihre Zellen eigene Rezeptoren für Androgene wie Testosteron besitzen.
Vergleichbares gilt für Östrogene, die ebenfalls an spezielle Rezeptoren binden. Deshalb wird bei Frauen die Stimme während der Menopause, wenn der Östrogenspiegel im Körper sinkt, etwas tiefer. Selbst im Lauf des Menstruationszyklus kommt es zu minimalen klanglichen Veränderungen, allerdings mit messbarer Wirkung: Männer und Frauen finden die Stimme einer Frau rund um deren Eisprung nachweislich attraktiver.
Der Höhenunterschied zwischen weiblicher und männlicher Stimme kann aber auch andere Gründe haben. So sprachen Frauen in den 1950er Jahren im Schnitt deutlich höher als in den 2000er Jahren und heute. Es ist unwahrscheinlich, dass sich in den vergangenen 60 oder 70 Jahren die Anatomie des weiblichen Kehlkopfes stark verändert hat. Wahrscheinlicher war es eine bewusste Entscheidung der Frauen, höher zu sprechen, um sich deutlicher von den dominanten – tiefer sprechenden – Männern abzusetzen.
Eine tiefe Stimme drückt Dominanz aus
Männer mit einer tiefen Stimme kommen anscheinend generell weiter im Leben. Experimente belegen: Das untere Tonregister wirkt dominanter und wenn es hart auf hart kommt, trauen wir sozusagen dem Bass eher die Führungsrolle zu als dem Tenor. Die Nachricht an die Konkurrenz ist klar: »Mein Testosteronspiegel ist höher als deiner, du willst mich lieber zum Freund als zum Feind«, sagt Katarzyna Pisanski. Sie ist Stimmforscherin am Labor für Sprachdynamik des Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Lyon sowie am Bioakustik-Forschungslabor der Universität Saint-Étienne. Evolutionär lässt sich das damit erklären, dass eine tiefe Stimme häufig mit einem höheren Testosteronspiegel, stärkerer Spermienproduktion und mehr Muskelmasse korreliert, was wiederum attraktiver für das weibliche Geschlecht ist. Bis heute hat sich das nicht geändert. Tief sprechende Männer haben nicht nur tendenziell höher bezahlte Positionen, sondern auch mehr Geschlechtspartner.
Pisanski erforscht, wie sich die menschliche Stimme in der Evolution entwickelt hat. Das sei nicht einfach, schließlich gebe es keine Aufzeichnungen von vor 10 000 Jahren. »Wir wissen nicht einmal genau, wie der menschliche Kehlkopf damals aussah«, sagt die Bioakustikerin. Denn bis auf einen Knochen, das hufeisenförmige Zungenbein, besteht unser Stimmapparat aus Weichteilen, die nicht versteinern. »Deshalb vergleichen wir Menschen mit anderen Primaten und weiter entfernten Arten, um ein Bild davon zu zeichnen, wie und wann wir zu sprechen begannen.« Stück für Stück setzt sie das Puzzle zusammen: Verhaltensdaten, anatomische und neuronale Daten – alles sei wichtig, um die Geschichte der Stimme zu verstehen.
»Mich interessiert dabei nicht, was die Menschen sagen, sondern, wie sie ihre Stimme nutzen«, sagt Pisanski. Babygeschrei zum Beispiel klinge in der Regel hoch, laut und sehr hart. Die Stimmlippen würden in solchen Momenten chaotisch vibrieren. »Eines der schlimmsten Geräusche, die Menschen produzieren können« – und für andere kaum auszuhalten. Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich das Gebrüll genau aus diesem Grund so entwickelt hat. »Wenn ich laut und herzzerreißend schreie, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass mir jemand hilft«, sagt die Stimmforscherin.
»Die Stimmkontrolle war der entscheidende Schritt in der Evolutionsgeschichte des Menschen, der Sprache ermöglichte«Katarzyna Pisanski, Evolutionspsychologin
Aus den anfänglich rudimentären Anpassungen der Stimmhöhe und -intensität haben sich mit der Zeit immer komplexere Geräusche entwickelt bis hin zur Sprache, so die Theorie. Die bewusste Steuerung der Stimme sei eine der größten Errungenschaften der Menschen, sagt Pisanski: »Ich kann entscheiden, wie ich spreche oder ob ich lache.« Anderen Primaten könnten das nicht, ihnen fehlten dafür die direkten neuronalen Verbindungen zwischen den motorischen Kortexneuronen und ihrer Stimmanatomie, so die Bioakustikerin. Pisanski ist überzeugt: »Die Stimmkontrolle war der entscheidende Schritt in der Evolutionsgeschichte des Menschen, der Sprache ermöglichte.«
Dysphonie – Stimmstörungen
Wie wichtig die Stimme für uns ist, merken wir häufig erst, wenn sie nicht mehr so funktioniert, wie sie soll. Bei einer Stimmstörung verändert sie sich dauerhaft. Betroffene klagen etwa über Heiserkeit, einen fremden Klang oder eine schnelle Ermüdung der Stimme. Der medizinische Fachbegriff für solche Phänomene lautet Dysphonie. Versagt die Stimme komplett, sprechen Fachleute von einer Aphonie, der Stimmlosigkeit.
Ursachen für Stimmstörungen gibt es etliche, weiß Cate Madill. Sie ist Direktorin des Voice Research Lab an der University of Sydney. Die ausgebildete Schauspielerin, Stimmtherapeutin und Sprachpathologin unterteilt die Phänomene in drei Kategorien. Bei organischen Stimmstörungen können Kehlkopf und Stimmlippen verletzt oder entzündet sein, beispielsweise nach einem Unfall oder ganz banal während einer Erkältung. Ebenso sind ebenso Tumoren, Zysten und Polypen denkbar, die die Stimmlippen einschränken. Betroffene Menschen sind heiser und husten vermehrt oder klagen mitunter über ein Fremdkörpergefühl im Rachen.
Bei Personen, die ihre Stimme berufsbedingt nutzen, droht eine chronische Reizung. Das Problem kennen Lehrkräfte, Sängerinnen und Sänger oder Mitarbeiter in Callcentern. Die Überlastung schädigt die Schleimhaut, es bilden sich kleine Knötchen, so genannte Stimmlippengranulome.
Unerwünschte Arzneimittelwirkung
Zudem können verschiedene Medikamente Dysphonien begünstigen. Dazu zählen Neuroleptika oder cortisonhaltige Arzneimittel, wie sie oft Personen mit Asthma inhalieren. Auch Rauchen verändert die Stimme. »Außerdem führen viele neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und multiple Sklerose sowie das Guillain-Barré-Syndrom zu Veränderungen der Stimme«, sagt Madill. Der Stimmapparat an sich sei zwar in Ordnung, doch die Nervenbahnen lieferten nur unzuverlässig die richtigen Signale an die Muskeln.
Eine zweite Gruppe sind funktionelle Stimmstörungen. Dann sind beispielsweise die Muskeln des Stimmapparats verspannt und schließen die Stimmritze nicht mehr vollständig. Nur ein Muskel öffnet die Stimmritze, gleich mehrere – nämlich fünf – beteiligen sich daran, sie zu schließen, sagt Cate Madill. Bei übermäßigem Stimmgebrauch sowie krankheitsbedingten Erschöpfungszuständen oder psychischen Belastungen wie Angst und Stress kann es hier zu Problemen kommen.
Die Rolle der Psyche
Die Grenzen zur dritten Gruppe sind fließend. Cadill bezeichnet sie als funktionell-neurologische Stimmstörungen; früher galten sie als psychogene Störungen. »Ich hatte mal eine Patientin, die ganz normal sprach«, erinnert sich die Sprachpathologin. Sobald sie einen Fuß in ihr Büro setzte, verabschiedete sich die Stimme und kehrte erst zurück, wenn die Frau die Arbeitsstätte abends wieder verließ.
»Wir erklären unseren Patienten: ›Deine Hardware funktioniert einwandfrei, nur die Software hat einen kleinen Bug‹«Cate Cadill, Stimmtherapeutin
Natürlich geschehe dort etwas im Gehirn und löse eine Fehlregulation aus. Die Stimme sei noch da, die Kontrolle über sie jedoch gestört. Auslöser können laut Cadill Erkrankungen wie eine simple Erkältung sein, aber auch traumatische Erlebnisse. »Wir erklären unseren Patienten: ›Deine Hardware funktioniert einwandfrei, nur die Software hat einen kleinen Bug‹«, sagt Cadill. Funktionell-neurologische Stimmstörungen behandeln Stimmpathologen daher stets in enger Zusammenarbeit mit Fachleuten aus der Psychologie oder Psychiatrie.
Seltsame Puberphonie
Ein Grenzfall zwischen funktioneller und funktionell-neurologischer Stimmstörung ist Cadill zufolge die Puberphonie. Bei ihr sprechen Männer selbst nach dem Stimmbruch weiterhin in hoher Tonlage. »Stellen Sie sich vor, Sie fahren als junger Mensch einen Mini. Dann kommt die Pubertät und auf einmal besitzen Sie einen Truck, Sie fahren diesen aber weiterhin wie einen Mini.« Stimmübungen können Betroffenen zeigen, dass die tiefe Stimme da ist. Manchmal stellt sich heraus, dass sie ihre hohe Stimme eigentlich behalten wollen. Das sei in Ordnung, sagt Cadill: »Wichtig ist nur, dass sie wissen, dass sie eine Wahl haben.«
Sowohl die Diagnose als auch die Therapie aller Dysphonie-Gruppen sollte in Zusammenarbeit mit einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt und logopädischer Fachkraft erfolgen. »Bei einer Laryngoskopie kann man eine Kamera in den Hals einführen und sehen, wie sich die Stimmbänder bewegen und ob sie gleichmäßig oder chaotisch schwingen. Wir können den Luftstrom, die Luftmenge sowie Luftmuster messen, ebenso Atembewegungen.« So lässt sich abschätzen, wie viel Kraft nötig ist, um die Stimmlippen auseinanderzurücken. Zudem kann man über kleine Elektroden an der Außenseite des Halses messen, wann sich die Stimmritze öffnet. Erst auf Grundlage der verschiedenen Informationen ergibt sich eine Diagnose und die geeignete Therapie, sagt die Sprachpathologin.
Oft nur eine Phase
Wichtig dabei: Etliche Stimmstörungen lösen sich nach kurzer Zeit wieder in Wohlgefallen auf. Ist die Erkältung überstanden, kommt die Stimme in der Regel einige Tage später wieder. Auch Stimmlippenknötchen bilden sich in den meisten Fällen von allein zurück, wenn man seine Stimme schont. In anderen Fällen muss die eigentliche Erkrankung behandelt werden, entweder medikamentös oder mittels Operation, etwa um Tumoren und Knötchen zu entfernen. Mitunter schließt sich an diese Behandlungen eine Stimmtherapie an, die beispielsweise eine Logopädin durchführt. Betroffene erlernen Atemtechniken und bewussteres Sprechen. Im optimalen Fall soll die Stimme nach der Therapie wieder genauso klingen und vergleichbar belastbar sein wie zuvor.
Unterstützung durch künstliche Intelligenz
Das klappt nicht immer. Die US-Amerikanerin Alexis Bogan war nach einer Hirn-OP wochenlang intubiert und hatte im Anschluss große Schwierigkeiten zu sprechen. Sie konnte sich nach einer Stimmtherapie zwar wieder verständigen, ihre Stimme klang jetzt aber ganz anders. Mediziner der Klinik, in der Bogan behandelt wurde, entwickelten auf Basis von ChatGPT ein Sprachwerkzeug. Den Algorithmus trainierten sie mit vor der Erkrankung zufällig aufgezeichneten Sprachschnipseln der Patientin.
»Es fühlt sich großartig an, meine Stimme wiederzuhaben, denn ein Teil meiner Identität wurde mir entrissen, als ich sie verlor«Alexis Bogan, Patientin
»Artificial intelligence voice-cloning technology« nennt sich dieser neue Forschungszweig. Derartige KI-Technologie kann Stimmen kreieren, die der Ursprungsstimme nicht nur ähneln, sondern sie nahezu perfekt kopieren. Bogan konnte nun ihre Worte in ihr Smartphone tippen, und der Algorithmus übersetzte es in gesprochene Sprache. Die KI-Stimme klang exakt wie ihre frühere. In einem Interview sagte sie: »Es fühlt sich großartig an, meine Stimme wiederzuhaben, denn ein Teil meiner Identität wurde mir entrissen, als ich sie verlor.«
Nicht jede Dysphonie hat krankhafte Ursachen. Denken wir an den Stimmbruch, die Wechseljahre bei Frauen oder Dysphonia senilis, die Altersstimme. Das sind normale physiologische Prozesse: Mit dem Alter verhärtet sich der Stimmapparat, die Stimmlippen verknorpeln und werden rauer, die Muskeln im Kehlkopf bauen ab. Die Stimme alter Menschen klingt deshalb meist leiser und brüchiger. Das ist ihr Tribut an ein langes Leben, in dem die Stimmlippen milliardenfach vibrierten, die Stimmritze sich unaufhörlich öffnete und schloss, wir als Babys stundenlang brüllten, als Kinder beim ausgelassenen Spiel schrien und jauchzten; ein Leben, in dem wir Lieder sangen und unseren Kindern jeden Abend unermüdlich Gutenachtgeschichten vorlasen.
Hormone und Operationen zur Stimmangleichung
Transgeschlechtliche Personen nehmen viel auf sich, um ihren Körper dem gewünschten Geschlecht anzugleichen. Was aber, wenn die Stimme nicht zum restlichen Körperbild passt? Bei transgeschlechtlichen Männern kommt es häufig allein durch eine Testosteron-Gabe zu einer Absenkung der Stimme. Ihre Stimmlippen wachsen unter der Hormontherapie.
Schwieriger ist es für transgeschlechtliche Frauen, die in der Pubertät bereits einen Stimmbruch hatten. Sicherlich können sie ihre Stimme verstellen und höher sprechen. Das ist allerdings kräftezehrend und löst das Dilemma der tiefen Stimme auf Dauer nicht. Eine Möglichkeit sind stimmangleichende Operationen, an die sich in der Regel eine logopädische Stimmtherapie anschließt. Die am häufigsten eingesetzte Methode ist in diesem Fall die Glottoplastik. Dabei werden die Stimmlippen chirurgisch durch Zusammennähen am spitzen Winkel des Dreieckschirurgisch verkürzt. Die Stimmlippen wachsen zusammen und vernarben dauerhaft. Als Folge verkleinert sich die Stimmritze, die Stimmlippen vibrieren schneller. Die Stimme wird automatisch höher, weil rein physiologisch alle tiefen Töne ausgeschlossen werden. Fachleute sprechen von einer Stimmfeminisierung.
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