EarthCARE: Zeitenwende für die Erdbeobachtung
Es klingt nach verkehrter Welt. Traditionell gelten die USA als die unangefochtene Supermacht bei allem, was mit dem Weltraum zu tun hat. Die Europäer treten dahinter in aller Regel als deutlich kleinerer Player zurück. Nun scheinen sich aber ausgerechnet in einem der wichtigsten Bereiche der wissenschaftlichen Raumfahrt die Machtverhältnisse umzudrehen: bei der Beobachtung von irdischen Umweltveränderungen aus dem All mit Hilfe von Satelliten. Während die Europäische Weltraumagentur ESA einen nagelneuen, zu Höchstleistungen fähigen Satelliten namens EarthCARE im Orbit positioniert und sich als führende Kraft in der Erdbeobachtung in Szene setzt, kommen aus der US-Forschergemeinde derzeit hauptsächlich düstere Töne. Was ist da los?
Anlass für die Missstimmung ist das absehbare Ende von drei traditionsreichen, US-amerikanischen Erdbeobachtungssatelliten namens Terra, Aura und Aqua. Sie umkreisen die Erde seit rund 20 Jahren und sind zu wichtigen Datenquellen für die Klima- und Umweltforschung geworden. Doch während die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA ihren Blick wieder gen Mond und noch weiter in Richtung Mars richtet und dafür riesige Summen investiert, droht Kritikern zufolge die wissenschaftliche Erdbeobachtung zunehmend ins Hintertreffen zu geraten.
Die »New York Times« warnte Anfang Mai 2024 vor einem drohenden Desaster für die Wissenschaft: »Schon jetzt driften die Satelliten ab und verlieren Stück für Stück an Höhe.« Das unvermeidliche Verglühen in der Erdatmosphäre sei ein Moment, den Wissenschaftler fürchten. Ein Großteil der von Terra, Aqua und Aura über die Jahrzehnte erstellten Messreihen werde mit ihnen enden; neuere Satelliten könnten etwa zur Entwicklung der Ozonschicht nicht mehr alle Daten liefern, weil ihnen die passenden Instrumente fehlten. In ein paar Jahren werde unser Bild von der Erde viel unschärfer sein als heute. Der Verlust der Satelliten sei »einfach tragisch«, zitiert das Blatt Susan Solomon, eine Atmosphärenchemikerin vom Massachusetts Institute of Technology. »Gerade dann, wenn der Planet am nötigsten braucht, dass wir verstehen, wie wir ihn beeinflussen, sieht es so aus, als würden wir auf katastrophale Weise am Steuer schlafen.«
Anke Pagels-Kerp, Bereichsvorständin für das Thema Raumfahrt beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), kann die Sorgen ein Stück weit verstehen. Terra und Aqua würden am Deutschen Fernerkundungszentrum in Oberpfaffenhofen, dem Kompetenzzentrum für Erdbeobachtung in Deutschland, als »Arbeitspferde und gute Datenquelle« genutzt. Die Satelliten der NASA könnten innerhalb von 24 Stunden die Erde viermal abtasten, seien also »echt schnell«. Weil sie auch für den Infrarotbereich ausgelegt seien, seien sie in der Lage, auch in der Dämmerung und nachts zu messen. »Damit sind sie zum Beispiel sehr gut dafür geeignet, Temperaturveränderungen im Meer oder auch Waldbrände zu detektieren«, sagt Pagels-Kerp. 20 Jahre Datennahme aus dem Orbit hätten »schön kontinuierliche Messreihen geliefert, aus denen wir im Deutschen Fernerkundungszentrum bisher sehr gut Trendanalysen herleiten konnten«.
Kommt es zu einer Mess- und Datenlücke?
Auch Craig Donlon, bei der ESA für die Planung der Erdbeobachtung zuständig, ist voll des Lobs: »Das waren wirklich bemerkenswerte Satelliten mit einer wirklich bemerkenswerten Instrumentierung, die phänomenale Missionen ermöglicht haben.« Stand heute hätten die Amerikaner aber keinen gleichwertigen Ersatz vorbereitet, stellt Donlon fest. Vorhandene andere Satelliten im US-Bestand könnten »beim besten Willen den Verlust der Instrumente von Aqua und Terra nicht ausgleichen«. Der im Februar 2024 auf die Reise geschickte US-Satellit Pace sei zwar leistungsstark, decke das bisherige Spektrum an Daten jedoch nicht ab.
Angst vor dem Ende der drei Satelliten Terra, Aura und Aqua haben die europäischen Experten aber nicht: »Bei aller Wertschätzung glaube ich nicht, dass es zu einer Mess- oder Datenlücke kommen wird, wenn diese Satelliten nun außer Dienst gestellt werden, auch nicht beim Ozon«, sagt Pagels-Kerp. Denn »zum Glück haben wir von der ESA und vom DLR eine Vielzahl von Datenquellen aufgebaut«.
14 europäische Satelliten sind in der Erdbeobachtung im Einsatz, 39 befinden sich in Vorbereitung und 19 in der Entwicklung
Noch selbstbewusster kommentiert Simonetta Cheli, Präsidentin für Erdbeobachtung bei der ESA, die Debatte in den USA. Die Sorgen dort hätten »sehr viel mit drohenden Budgetkürzungen bei der NASA im Bereich Erdbeobachtung zu tun, in Europa haben wir dagegen gute und stabile Bedingungen«, sagt sie. Cheli verweist darauf, dass die Erdbeobachtung einen Anteil von stolzen 30 Prozent am ESA-Budget ausmache. Die Europäer seien in diesem Bereich der weltweit größte Player, »was die Infrastruktur, die Pläne für die kommenden Jahre, das Datenvolumen und den konkreten Beitrag zur Forschung in den Bereichen Nachhaltigkeit, Umwelt und Klima angeht«. 14 europäische Satelliten sind Cheli zufolge derzeit schon in der wissenschaftlichen Erdbeobachtung im Einsatz. Zudem befinden sich 39 in Vorbereitung und 19 in der Entwicklung: »Wir haben viel vor.«
Eigene Satelliten bringen strategischen Vorteil
Die Beobachtung der Erde aus dem Weltraum ist aus der Umweltforschung schon lange nicht mehr wegzudenken. 1972 schoss die NASA mit Landsat-1 den ersten Satelliten in den Orbit, der explizit diesem Zweck dienen sollte. Dutzende weitere Späher aus einer wachsenden Zahl von Nationen folgten, um Daten etwa zur Urbanisierung, zu Änderungen von Wald- und Agrarflächen, zum Meeresspiegelanstieg, zur Ausdehnung des Polareises, zu Naturkatastrophen und dem Klimawandel zu sammeln. Es hat sich eingespielt, dass Länder diese Daten miteinander teilen. Europa zog erst 1991 mit dem ERS-1 als erstem eigenen Erdbeobachtungssatelliten nach. Immer klarer wurde mit der Zeit, wie groß der strategische Vorteil ist, wenn eine Nation – oder ein Bund von Staaten wie im Fall der ESA – möglichst viele eigene Satelliten unterhält. Denn damit gehen die Kontrolle über die Datenaufbereitung, die Schwerpunktsetzung für die Missionen und nicht zuletzt das große Geschäft mit der Technik einher. »Wir setzen darauf, mit europäischer Erdbeobachtung europäische Unternehmen stark zu machen«, sagt Donlon.
Die europäische Erdbeobachtungsflotte besteht aus derzeit sieben aktiven so genannten Sentinel-Satelliten des Copernicus-Programms, das die Agentur mit der Europäischen Union und der Meteorologie-Organisation Eumetsat gemeinsam betreibt, mehreren Wettersatelliten und der Reihe der so genannten Explorer-Satelliten. Letztere sind die wissenschaftlichen Flaggschiffe der ESA und vom technischen Design her Unikate mit besonders ausgefeilten und empfindlichen Instrumenten. Bereits die ersten, inzwischen außer Dienst gestellten Explorer-Satelliten hätten Großes geleistet, resümiert Erdbeobachtungschefin Simonetta Cheli – GOCE bei der Vermessung der Schwerkraft der Erde, CryoSat bei der Erforschung der Eisschichten und ihren Veränderungen, Aeolus zu Winden. Aktiv im Dienst sind SMOS zur Erforschung der Bodenfeuchtigkeit an Land und des Salzgehalts im Meer sowie Swarm zur Vermessung des Erdmagnetfelds und dessen Wechselwirkung mit der Sonne.
Der neueste Zuwachs namens EarthCARE – entwickelt in Kooperation mit der japanischen Raumfahrtagentur JAXA und mit Airbus als führendem Industriepartner – geht nun als sechster Satellit in der Explorer-Reihe in Dienst. Der Forschungssatellit soll ab Ende 2024 Daten liefern und dabei helfen, zwei wichtige Komponenten des Klimasystems der Erde zu untersuchen und zu verstehen: Wolken und Aerosole. Zu Letzteren gehören etwa Vulkanasche, Saharastaub oder auch menschengemachte Stäube beispielsweise aus dem Verkehrssektor.
Während Wissenschaftler den Effekt von Klimagasen wie Kohlendioxid auf das Klima bereits gut verstehen, gibt es bei Wolken und Aerosolen noch größere Unsicherheiten. »Beide können im Klimasystem entweder erwärmend oder kühlend wirken«, sagt Thorsten Fehr, Leiter der Sektion Atmosphärenforschung bei der ESA. Sie beeinflussten sich zudem gegenseitig stark, und der Klimawandel werde wiederum die Wolkenbildung verändern. Um diese Zusammenhänge zu verstehen, sei der »Earth Clouds, Aerosols and Radiation Explorer« essenziell.
Wichtige Einblicke in den Klimawandel
An Bord befinden sich vier Messinstrumente, die aus einer Flughöhe von 400 Kilometern mit Laser- und Radargeräten die Wolkenbedeckung und Aerosolkonzentrationen erfassen und ein dreidimensionales Modell ihrer Verteilung erstellen. Ein Radiometer ermittelt zudem die Energieabstrahlung der Erde und gleicht sie mit dem Modell ab. Diese Kombination von Instrumenten mache EarthCARE »definitiv zu einer der kompliziertesten wissenschaftlichen Erdbeobachtungsmissionen, die die ESA jemals gemacht hat«, sagt Fehr. »Wir versprechen uns davon wichtige Einblicke in den Klimawandel.« Simonetta Cheli verkündete kurz vor dem geplanten Start von EarthCARE, es seien bereits weitere Explorer-Satelliten in Vorbereitung. Als Nächstes sollen Fotosyntheseleistung und Biomasse der Erde im Fokus stehen.
Doch bei allem Stolz, den die Europäische Weltraumagentur in Sachen Erdbeobachtung an den Tag legt: Ausschließlich rosig ist die Lage auch in Europa nicht. So hat es geschlagene 20 Jahre gebraucht, EarthCARE zu realisieren. Bereits Anfang der 2000er Jahre hatten Forscherinnen und Forscher formuliert, wie dringend es sei, die Energiebilanz der Erde genauer zu vermessen und dabei Wolken und Aerosole ins Visier zu nehmen. Die ESA und ihr Industriepartner Airbus verweisen auf zahlreiche Hürden, die es in der internationalen Zusammenarbeit zu überwinden gegeben habe – inklusive der Covid-Pandemie und dem Russland-Ukraine-Krieg, der erzwungen habe, den Startort von Russland in die USA zu verlegen. Vor allem seien schwierige technische Fragen zu lösen gewesen: von der Lasertechnik bis hin zu beweglichen Teilen, die während der auf drei Jahre angelegten Betriebszeit zehn Millionen Mal rotieren müssen. Dennoch sind 20 Jahre Entwicklungszeit eine enorm lange Spanne, spätestens seit agile, private Akteure in die Raumfahrtindustrie eingestiegen sind. Das hilft nicht gerade dabei, den beliebten Vorwurf zu entkräften, in Europa dauere alles besonders lange.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen zudem nicht nur in den USA, sondern auch in Europa für die Erdbeobachtung »um jeden Euro kämpfen«, wie DLR-Vorständin Pagels-Kerp sagt. Deutschland trägt mit den nationalen Missionen TerraSAR-X und Enmap zur Erdbeobachtungsschlagkraft Europas bei. Zuletzt machte das deutsche Programm damit Schlagzeilen, dass trotz der intensiven Regenfälle Anfang des Jahres 2024 in Deutschland und Europa noch immer ein Wasserdefizit bestehe, weil sich die Grundwasservorräte nicht ausreichend erneuert hätten. Möglich wurde diese Messung, weil TerraSAR-X als Tandempaar um die Erde kreist. Der Datenabgleich zwischen beiden Satelliten erlaubt es, kleinste Unterschiede in der Schwerkraft – und etwa im Wasserbudget – zu ermitteln.
Kosten bremsen Missionen aus
TerraSAR-X ist Pagels-Kerp zufolge aber bereits sieben Jahre länger in Betrieb als ursprünglich geplant. Spätestens in vier Jahren sei der Treibstoff, mit dem die erdnahen Satelliten in der Umlaufbahn gehalten werden, endgültig verbraucht: »Eigentlich hätte man schon vor fünf, sechs Jahren eine Nachfolgemission angehen müssen, um dann direkt im Anschluss lückenlose Radardaten zu erhalten«, sagt die deutsche Raumfahrtchefin. Für einen Nachfolger, etwa um Wälder durchleuchten zu können, stehe bisher aber kein Geld zur Verfügung: »Gerade bei den Radarsatelliten könnten wir in Deutschland deshalb bald mit etlichen Datenlücken konfrontiert sein«, warnt sie. Die Weltraumstrategin sieht zudem Bedarf für einen neuen Satelliten, der CO2-Emissionen mit hoher räumlicher Auflösung messen kann. »Derzeit schaffen wir drei mal drei Kilometer, doch wir arbeiten gerade an einem Instrument mit einer Auflösung von 50 mal 50 Metern«, sagt Pagels-Kerp. Wenn man dann über ein Industriegebiet fliege, »könnte man ganz genau sehen, wo die Punktquelle ist, die mehr emittiert als erlaubt«.
»Wenn man gleichzeitig kaputte Brücken, kaputte Schulen oder eine Energiewende zu bewältigen hat, entscheiden Politiker sich oft für die drängenden Probleme am Boden«Anke Pagels-Kerp, Bereichsvorständin Raumfahrt beim DLR
Eine neue deutsche Radarsatelliten-Mission mit aktueller Technologie taxiert das DLR auf 200 bis 300 Millionen Euro. Das ist in Zeiten knapper Staatskassen viel Geld. »Regierungen müssen bereit sein, mehrere hundert Millionen US-Dollar oder Euro auf den Tisch zu legen«, sagt Pagels-Kerp. »Wenn man allerdings gleichzeitig kaputte Brücken, kaputte Schulen oder eine Energiewende zu bewältigen hat, entscheiden Politiker sich oft für die drängenden Probleme am Boden.« Als Bürgerin würde sie erwidern: »Verflixt noch mal, wir sind ein reiches Land – wir müssten doch eigentlich beides können.«
Auch die ESA-Spitze muss bei ihren Geldgebern, den 22 Mitgliedsstaaten, noch das für die großen Erdbeobachtungspläne nötige Geld eintreiben. 800 Millionen Euro hat allein EarthCARE gekostet. Wohl auch mit Blick auf die Kosten wird derzeit eine neue Serie so genannter »Scout«-Missionen mit jeweils nur 50 Millionen Euro konzipiert. Doch Craig Donlon von der ESA ist optimistisch, dass Europa seinen Fokus auf die Erdbeobachtung beibehalten und die nötigen Summen beisteuern wird. Schließlich komme die verwendete neue Technik nicht nur der Umweltforschung zugute, sondern auch der Umsetzung von EU-Strategien wie dem »Green Deal« sowie zahlreichen europäischen Hightech-Firmen. Allein an der Entwicklung von EarthCare waren 70 europäische Unternehmen beteiligt.
EarthCARE markiert für Weltraumstrategen wie Craig Donlon eine Art Zeitenwende in der Erdbeobachtung. Zwar verfügt die US-Weltraumbehörde NASA über eine stattliche Flotte von Satelliten. Erst am 25. Mai 2024 hob eine Rakete mit dem ersten von zwei schuhschachtelgroßen Satelliten der Prefire-Mission ab, bei der über zehn Monate hinweg die Wärmebilanz der Polregionen untersucht werden soll. Doch »für viele Jahrzehnte waren die USA dominant, das ändert sich nun durch unsere fein aufeinander abgestimmten europäischen Erdbeobachtungsmissionen«, sagt Donlon. In diesem wichtigen Bereich der Raumfahrt sieht er die Stunde Europas gekommen, um Maßstäbe zu setzen. Zudem hätten US-Forscher ja freien Zugang zu allen von Europa erhobenen Daten – auch jene Fachleute, die Aqua und Terra noch eine Weile schmerzlich vermissen und mit den bisher gewonnenen Daten weiterforschen wollen.
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