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Quantenfeldtheorie: Ein Eigenbrötler besiegt die Unendlichkeit

In der Teilchenphysik führt jede Berechnung ins Unendliche, deshalb ist man auf Näherungen angewiesen. Ein kaum bekannter Ansatz könnte nun präzise Vorhersagen liefern.
Unendlichkeit
Physiker versuchen seit Jahrzehnten, die lästigen Unendlichkeiten in Quantenfeldtheorien loszuwerden.

Seit Jahrzehnten kämpfen Physikerinnen und Physiker mit den Unendlichkeiten, die im Herzen der Quantentheorie verankert scheinen. Wie sich herausstellt, könnte die Lösung in drei kaum beachteten Lehrbüchern aus den 1980er Jahren verborgen sein.

Die wenigen physischen Exemplare, die von Jean Écalles Opus magnum »Les fonctions resurgentes« existieren, sehen aus wie hastig überarbeitete Fotokopien: Überdimensionale, mit dicker schwarzer Tinte gekritzelte mathematische Symbole unterbrechen immer wieder die sauber getippten Sätze. Der Text ist in französischer Sprache verfasst, was es der englischsprachigen Forschungswelt zusätzlich erschwert, sich dem Werk zu widmen.

Eine weitere Hürde ist die darin beschriebene Mathematik. Die 1110-seitige Trilogie strotzt nur so vor neuen mathematischen Objekten und bizarren Wortschöpfungen. Seltsam klingende Begriffe wie »Trans-Reihen«, »fortsetzbare Keime« und »Alien-Ableitungen« gibt es zuhauf. »Wenn man das zum ersten Mal sieht, könnte man fast meinen, das Werk stamme von einem Verrückten«, sagt der mathematische Physiker Marcos Mariño von der Université de Genève. Mariño bewahrt die – wie er sie nennt – historischen Dokumente in seinem Bücherregal auf und greift täglich auf die von Écalle entwickelten Werkzeuge zurück. »Écalle gehört zu einem dieser visionären Mathematiker«, befindet er.

Diese visionäre Mathematik könnte genau das sein, was man braucht, um ein tief greifendes Problem zu überwinden – eines, das die Physikgemeinschaft in den letzten 70 Jahren meist ignoriert hat. In dieser Zeit haben die Fachleute gelernt, erstaunlich gute Vorhersagen über die subatomare Welt zu machen. So präzise ihre Ergebnisse aber auch sind, handelt es sich dabei stets um Näherungen. Strebt man hingegen absolute Präzision an oder möchte Prozesse wie die starke Kernkraft verstehen, bricht das theoretische Gerüst zusammen. Plötzlich wimmelt es nur noch von Unendlichkeiten, die sich nicht ohne Weiteres beseitigen lassen.

Écalles alte Lehrbücher liefern ein anderes Bild. Die unendlichen Größen könnten demnach zahllose Schätze enthalten. Mit den mathematischen Werkzeugen der Écalle-Theorie lassen sich womöglich aus jeder Unendlichkeit Informationen ziehen, die letztlich zu endlichen Antworten auf teilchenphysikalische Fragen führen. »Das funktioniert in vielen Fällen bereits sehr gut«, urteilt der Physiker Marco Serone, der sich mit der als Resurgence (deutsch: Wiederauferstehung) bezeichneten Methode beschäftigt.

Die Resurgence-Gemeinschaft ist noch klein, hat aber im Lauf der Jahre stetige Fortschritte gemacht. Eine Vorgängerversion der Technik hat bereits genaue Ergebnisse in der Quantenmechanik erzielt und damit das Tunneln von Teilchen exakt beschrieben. Anspruchsvollere Varianten haben es Fachleuten ermöglicht, sich weiter in die trüben Gewässer der Quantenfeldtheorie und der Stringtheorie vorzuwagen. Und das ist erst der Anfang: Die Anhänger der Écalle-Theorie hoffen, irgendwann die Unendlichkeiten in allen Theorien in einem neuen Licht betrachten zu können – und damit unsere endliche Welt besser zu verstehen.

Eine explodierende Fülle an Möglichkeiten

Die Quantenfeldtheorie beschreibt eine Welt, die von seltsamen Feldern durchzogen ist. Alle Teilchen und Kräfte entspringen demnach Wellen in diesen Feldern. Die Theorie erklärt damit sowohl die quantenmechanischen Eigenschaften von Teilchen (unter anderem den Welle-Teilchen-Dualismus) als auch die spezielle Relativitätstheorie (etwa, dass sich nichts schneller bewegen kann als das Licht). Durch die Quantenfeldtheorie waren Physiker und Physikerinnen aber plötzlich gezwungen, sich mit der Unendlichkeit auseinanderzusetzen.

Quantenfelder sind komplizierte Gebilde: Neben den kohärenten Wellen, die reale Teilchen beschreiben, können außerdem flüchtige Kräuselungen entstehen. Diese vorübergehenden Wellen können im Prinzip zu jedem Zeitpunkt, in beliebiger Anzahl und mit jeder erdenklichen Energie auftreten. Sie entsprechen »virtuellen Teilchen«, die kurzzeitig entstehen und sich sogleich wieder vernichten. Das stellt Fachleute vor die Herausforderung, eine unendliche Menge subatomarer Verflechtungen zu berücksichtigen, um selbst einfachste Experimente zu verstehen.

In den 1940er Jahren erarbeiteten Shin'ichirō Tomonaga, Julian Schwinger und Richard Feynman unabhängig voneinander Möglichkeiten, um das elektromagnetische Quantenfeld zu untersuchen, die so genannte Quantenelektrodynamik. Die Berechnung erfolgte in Form einer unendlichen Reihe von »Feynman-Diagrammen«, die einer Summe von zunehmend verworrenen Prozessen entspricht.

Wenn man zum Beispiel ein Elektron betrachten möchte, das ein Magnetfeld durchquert, beginnt man mit dem Diagramm für das einfachste Ereignis: Das Teilchen bewegt sich lediglich durch den Raum. Als Nächstes fügt man das Ergebnis eines komplizierteren Szenarios hinzu, zum Beispiel wenn das Elektron ein Photon ausstößt und dann wieder aufnimmt. Im Quantenfeld ist das Photon gleichbedeutend mit einer flüchtigen Kräuselung, die sogleich wieder verschwindet. Um ein noch genaueres Resultat zu erzielen, fügt man weitere subatomare Prozesse höherer Ordnung hinzu, also solche, die einer zweiten kurzzeitigen Kräuselung im Quantenfeld entsprechen, dann eine dritte und so weiter. Diese weit verbreitete mathematische Technik ist als Störungstheorie bekannt.

Feynman-Diagramme | Die drei ersten beispielhaften Feynman-Diagramme für den Landé-Faktor des Elektrons. Das Elektron ist dabei durch die gerade Linie dargestellt, ein Photon durch die geschwungene Kurve.

Blickt man hinter die Symbole der Feynman-Graphen, ergibt die Berechnung eine »Potenzreihe«, eine unendliche Summe, die von einer Größe x abhängt, von x zum Quadrat, x hoch drei und so weiter, jeweils mit verschiedenen Koeffizienten multipliziert:

F(x) = a0a1·xa2·x2a3·x3 + … + a10000·x10000 + …

Für das elektromagnetische Feld ist der Wert von x eine Naturkonstante α, die ungefähr 1137 beträgt. Ihr kleiner Wert verdeutlicht die schwache Kraft des Elektromagnetismus. Für jede Kräuselung, die man in einer Rechnung berücksichtigen möchte, muss man einen Faktor α hinzufügen. Somit werden die Terme der unendlichen Reihe schnell kleiner.

Die Feynman-Diagramme, die komplizierten Integralen entsprechen, liefern die Koeffizienten a für die jeweiligen Terme. Angenommen, man möchte auf diese Weise den Landé-Faktor eines Elektrons bestimmen, eine Größe, die damit zusammenhängt, wie sich ein Teilchen in einem Magnetfeld bewegt. Das einfachste Feynman-Diagramm liefert den Wert a0 = 2. Um a1 zu erhalten, muss man das nächste Feynman-Diagramm berechnen, in dem die erste temporäre Kräuselung zum Vorschein kommt. Wenn man das zugehörige Integral bestimmt, taucht ein unendlicher Wert auf. Doch Tomonaga, Schwinger und Feynman haben einen Weg gefunden, um diese Unendlichkeit loszuwerden. Ihr Ergebnis von 2,002 für den Landé-Faktor des Elektrons stimmte mit den damaligen experimentellen Messungen überein. Mit ihrem inzwischen als Renormierung bekannten Ansatz bewiesen die drei Physiker, dass die Quantenfeldtheorie durchaus sinnvoll sein kann – und erhielten dafür 1965 den Nobelpreis für Physik.

Ihr Ansatz leitete eine neue Ära ein, in der sich Forschende gegenseitig überboten, um immer mehr komplexe Feynman-Diagramme zu berechnen. 2017 übertraf ein Physiker alle Rekorde, als er nach 20 Jahren Arbeit den bisher präzisesten Landé-Faktor des Elektrons lieferte, dessen Berechnung 891 Feynman-Diagramme enthält. Sein Ergebnis umfasst dennoch bloß den fünften Term in der unendlich langen Potenzreihe, die den exakten Landé-Faktor liefert.

Feynman-Diagramme sind nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die moderne Physik. Ähnliche, aber noch kompliziertere Berechnungen für das Myon, den schweren Cousin des Elektrons, sorgten 2021 für Schlagzeilen: Bei einem Experiment wurde in der achten Dezimalstelle eine Abweichung von den theoretischen Vorhersagen festgestellt. Diese bescheidene Anomalie ist aktuell eine der größten Hoffnungen, die Physiker haben, um einen Blick auf eine Theorie zu erhaschen, die über das Gebilde von Feynman und seinen Kollegen hinausgeht.

Auch wenn die Quantenelektrodynamik bisher erstaunlich präzise Ergebnisse geliefert hat, bleibt ein wichtiges Problem bestehen: Im Grunde genommen funktioniert diese Art, sich einem Ergebnis zu nähern, gar nicht.

Der Niedergang der Störungstheorie

Freeman Dyson war 1952 der Erste, der erkannte, dass die störungstheoretische Quantenfeldtheorie dem Untergang geweiht ist. Während andere Physiker feierten, dass die Renormierung von Feynman, Tomonaga und Schwinger die ersten Terme in der unendlich langen Potenzreihe rettete, bereitete Dyson der Rest der Summe Sorgen.

Damals hofften die Fachleute, dass sich die Potenzreihe des elektromagnetischen Felds als »konvergent« herausstellen würde: Demnach würde jeder neue Term viel kleiner ausfallen als der vorangehende, wodurch die gesamte Summe einen endlichen Grenzwert annimmt. Die ersten Terme von Feynmans Summe schrumpften tatsächlich schnell, was dem winzigen Wert von α zu verdanken ist. Dyson selbst kam 1951 zunächst zu dem Schluss, dass die störungstheoretische Quantenelektrodynamik insgesamt konvergieren sollte.

Doch dann verknüpfte Dyson mathematische und physikalische Überlegungen, um die Reihe genauer zu untersuchen. Aus mathematischer Sicht wusste Dyson: Falls die Reihe F(x) für einen bestimmten Wert von x konvergiert (etwa x = 1137), dann muss die Potenzreihe auch für den Wert –x konvergieren. Als er jedoch zuließ, dass x negativ wurde, brach alles zusammen.

Eine ungezähmte Unendlichkeit | Zur Untersuchung von Quantenfeldern wie dem elektromagnetischen Feld dienen unendliche Reihen. Die ersten Terme dieser Summen werden immer kleiner, wodurch sich eine näherungsweise Lösung angeben lässt. Doch spätere Terme wachsen plötzlich extrem schnell an, was die Sinnhaftigkeit des Vorgehens in Frage stellt.

Der Grund dafür liegt am Vakuum, das ständig paarweise Kräuselungen aus positiven und negativen Ladungen erzeugt, virtuelle Elektron-Positron-Paare zum Beispiel, die sich sogleich wieder vernichten. Normalerweise ziehen sich diese flüchtigen Wellen, sobald sie entstehen, gegenseitig an und verschwinden wieder. Doch wenn α negativ wird, führt das dazu, dass sich entgegengesetzte Ladungen abstoßen. Dadurch werden die flüchtigen Kräuselungen zu realen, messbaren Teilchen. Die Entstehung von Teilchen aus dem Nichts würde einen »explosiven Zerfall des Vakuums« verursachen, wie Dyson es ausdrückte.

Physikalisch gesehen ist jedes negative α ein Problem. Aus mathematischer Perspektive hingegen ist das Vorzeichen von x in der Potenzreihe F(x) irrelevant: Wenn eine Reihe für x = –1137 divergiert (also gegen unendlich strebt), tut sie das auch für x = 1137. Der Zerfall des Vakuums für negative x legt nahe, dass F(x) divergiert: Die Feynman-Integrale des Quantenelektromagnetismus scheinen gegen einen unendlichen Wert zu streben.

Heute geht man davon aus, dass die Quantenelektrodynamik irgendwo um den 137. Term herum anfängt zu divergieren. In diesem Fall könnte a138x138 größer sein als der vorherige Summand a137x137. Das heißt, wenn man höhere Terme ignoriert, kann der sich dadurch ergebende Fehler womöglich sehr groß sein. Grund für die Divergenz ist, dass die Anzahl der zu berechnenden Feynman-Diagramme, die zu einem ai gehören, für höhere Terme i extrem schnell anwachsen. Um a9 zu bestimmen, muss man beispielsweise 9 · 8 · 7 · 6 · 5 · 4 · 3 · 2 · 1 = 9! = 362 880 Diagramme auswerten und für a10 etwa 10 · 9 · 8 · 7 · 6 · 5 · 4 · 3 · 2 · 1 = 10! = 3 628 800 Diagramme erforderlich. Ein solcher Zuwachs wird als faktorielles Wachstum bezeichnet und übertrifft sogar exponentielles Wachstum. Durch die vielen Diagramme, die zu den Werten eines ai beitragen, wird die potenzbedingte Verkleinerung von α gedämpft, und dadurch wächst die gesamte Summe ungebremst gegen unendlich.

»Wir wissen nicht, wie wir die Welt simulieren können – nicht einmal im Prinzip, selbst mit unbegrenzten Rechenkapazitäten«Emanuel Katz, Physiker

Die meisten Physiker betrachten diese unvermeidliche Divergenz, die selbst in den einfachsten Versionen von Quantenfeldtheorien auftritt, als abstraktes, weit entferntes Problem – so wie den Tod unserer Sonne in einigen Milliarden Jahren. Da aktuell schon die Berechnung des zehnten Summanden der Reihe unerreichbar scheint, warum sollte man sich dann über die Schwierigkeiten Gedanken machen, die jenseits des 100. Terms lauern? Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass dieser störungstheoretische Ansatz nicht ausreicht, um die Prozesse 137. Ordnung korrekt zu beschreiben. Daher begnügen sie sich damit, dass die Theorie für die Quantenelektrodynamik trotzdem sehr gut funktioniert.

Aber für einige ist die Tatsache, dass die am besten experimentell überprüfte Theorie aus mathematischer Sicht nicht richtig definiert ist, nach wie vor zutiefst beunruhigend. »Wir wissen nicht, wie wir die Welt simulieren können – nicht einmal im Prinzip, selbst mit unbegrenzten Rechenkapazitäten«, sagt der Physiker Emanuel Katz von der Boston University, der neuartige Methoden untersucht, die über Feynman-Diagramme hinausgehen.

Eine teuflische Abweichung

Bevor Freeman Dyson begann, sich um die Quantenfeldtheorie zu sorgen, widmeten sich Mathematikerinnen und Mathematiker bereits mehr als ein Jahrhundert ähnlichen Phänomenen. »Divergente Reihen sind eine Erfindung des Teufels, und es ist schändlich, irgendeinen Beweis auf sie zu gründen«, witzelte der Mathematiker Niels Henrik Abel im Jahr 1828. »Zum größten Teil sind die Ergebnisse gültig, das ist wahr, aber es ist seltsam. Ich bin auf der Suche nach dem Grund dafür.«

Dazu kam er leider nicht mehr. Abel starb im Jahr darauf im Alter von nur 26 Jahren. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es seinem Kollegen Henri Poincaré, einen bedeutenden Fortschritt zu erzielen, der dabei half, divergente Reihen besser zu verstehen. Wie sich herausstellte, sind diese unendlichen Summen kein Werk des Teufels, sondern bloß unvollständig.

Poincaré griff damals eine uralte Frage auf: Wie können sich drei Himmelskörper gegenseitig umkreisen? Er versuchte, das Problem mit Hilfe der Störungstheorie zu lösen, so wie es Feynman und Dyson ein Jahrhundert später tun sollten, als sie sich mit Quantenfeldern beschäftigten. Poincaré wollte die geheimnisvolle Funktion, welche die Flugbahnen der drei Körper beschreibt, aus einer unendlich langen Summe einfacherer Einheiten konstruieren – so als wolle man ein Auto aus einfachen Legosteinen nachbauen.

Poincaré glaubte, die Lösung gefunden zu haben. 1890 verlieh ihm König Oskar II. von Schweden und Norwegen einen Preis für seine Fortschritte. Kurz bevor Poincarés Arbeit veröffentlicht werden sollte, mussten allerdings die Druckmaschinen angehalten werden: Wie sich herausstellte, war die von ihm hergeleitete Störungsreihe divergent. Eine weitere Analyse (die den Grundstein für die Chaostheorie legte) ergab, dass die Summe nicht gegen eine Funktion konvergierte, sondern gegen zwei verschiedene. Das ist eine Komplikation, mit der Fachleute inzwischen nur allzu vertraut sind. Heute weiß man beispielsweise, dass drei Himmelskörper auf unzählige verschiedene Arten miteinander wechselwirken können und keine einfache Gleichung all diese Möglichkeiten erfassen kann.

»Es wäre ein Wunder, wenn ein konkretes physikalisches Problem, an dem jemand interessiert ist, mit einer konvergenten Störungsreihe verbunden wäre«, sagt der mathematische Physiker Carl Bender von der Washington University in St. Louis. Er vergleicht die divergenten Störungsreihen, auf die Poincaré stieß, mit der verschwommenen Darstellung einer exakten Funktion. Die Unschärfe passt zu vielen verschiedenen Funktionen, so wie die klotzige Silhouette eines Lego-Fahrzeugs mehrere Automodelle darstellen könnte. Wenn man eine komplizierte Funktion zu einer solchen »asymptotischen« Reihe erweitert, geht Information verloren, so Bender.

Die Arbeit von Poincaré hat gezeigt, dass es Terme gibt, die »jenseits aller Ordnungen« liegen und noch winziger sind als der kleinste Potenzterm. Diese »exponentiell kleinen« Terme können zum Beispiel die Form von e(–1/x) haben und enthalten die verlorenen Informationen. Wenn man sie in die Reihe miteinbezieht und ein geeignetes »Resummierungsverfahren« wählt, um die Reihe endlich zu machen, lassen sich einige – wenn nicht alle – Unschärfen beseitigen. Die exponentiell kleinen Terme bilden die Nanobausteine, die man braucht, um ein Automodell von einem anderen zu unterscheiden.

In der Physik werden diese zusätzlichen Terme als nichtperturbativ bezeichnet, weil sie außerhalb der Reichweite der Störungstheorie (englisch: perturbation theory) liegen. Man kann eine Milliarde Jahre damit verbringen, Feynman-Diagramme zu zeichnen und die entsprechenden ai-Terme zu berechnen, und doch wird man nie etwas über die physikalischen Ereignisse erfahren, die in den nichtperturbativen Termen codiert sind. Auch wenn diese Ereignisse selten auftreten, können sie in der realen Welt einen erheblichen Einfluss haben.

»Die Störungstheorie allein reicht nicht aus«Daniele Dorigoni, Physiker

Das sieht man zum Beispiel an der Schrödingergleichung der Quantenmechanik, die das wellenartige Verhalten von Teilchen beschreibt. Dabei handelt es sich um eine Differenzialgleichung, die sich oftmals nicht exakt lösen lässt. Deshalb ziehen Physikerinnen und Physiker oft die Störungstheorie heran, um eine Lösung zu nähern. Obwohl die sich daraus ergebende unendliche Reihe viele Experimente sehr gut vorhersagt, wird ein extrem unwahrscheinliches Ereignis, das Tunneln, dabei völlig übersehen.

Das Tunneln ist eines von vielen nichtperturbativen Phänomenen in der Quantenphysik. Solche Effekte gibt es aber auch außerhalb der Quantenwelt überall: Das Wachstum von Schneeflocken, der Fluss einer Flüssigkeit durch ein Rohr mit Löchern, die Umlaufbahnen der Planeten in einem Sternsystem, das Strömen von Wasser entlang zweier Inseln und unzählige andere physikalische Phänomene sind nichtperturbativ. »Sie sind da, und sie sind entscheidend«, sagt der Physiker Daniele Dorigoni von der Durham University. »Die Störungstheorie allein reicht nicht aus.«

Zahlreiche Untersuchungen widmeten sich bereits der Frage, wie sich nichtperturbative Terme berechnen lassen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass sich in Störungsreihen mehr Informationen darüber zu verstecken scheinen, als man eigentlich annehmen sollte.

Eine Arbeitsgruppe am Kernforschungszentrum von Saclay in Frankreich fand in den 1980er Jahren eine Möglichkeit, wie sich störungstheoretische Potenzterme mit nichtperturbativen Exponentialtermen verbinden lassen. Dadurch konnte sie exakte quantenmechanische Ergebnisse für das Tunneln erhalten. Ihr Vorhaben funktionierte, weil sich die Gruppe auf eine mathematische Technik aus der Wende zum 20. Jahrhundert stützten, die als Borel-Summierung bekannt ist. Diese war damals das mächtigste Werkzeug, um endliche Ergebnisse aus divergenten Reihen abzuleiten – allerdings hat sie ihre Grenzen. Gelegentlich liefert sie falsche oder widersprüchliche Resultate, was für Frustration sorgte. »Wenn Physiker eine Reihe fanden, die nicht Borel-summierbar war, gaben sie im Grunde auf«, sagt Mariño.

»Ein zu tiefes Eintauchen in die mathematische Literatur drohte meine Kreativität zu ersticken«Jean Écalle, Physiker

Ohne dass die Fachwelt es mitbekam, hatte ein exzentrischer Mathematiker, der nur wenige Kilometer von der Gruppe in Saclay entfernt isoliert arbeitete, die Unendlichkeiten in asymptotischen Reihen bereits umfassend untersucht – und offenbar eine Lösung für die Probleme entdeckt.

Die Feynman-Diagramme schlagen zurück

Jean Écalle begeisterte sich schon als Teenager für Mathematik. Er erinnert sich daran, wie er sich an einem Sommer am Ufer eines Gebirgsbachs entspannte und sich fragte, ob es eine allgemeinere Version von Ableitungen geben könnte. Einige Jahre später, als er bereits studierte, stellte Écalle fest, dass er am liebsten allein arbeitete. Er versuchte sogar, keine Arbeiten anderer Fachleute zu lesen, weil er befürchtete, ihr Denken würde ihn in festgefahrene Bahnen lenken. »Ich bin von Natur aus abgeneigt, mich in der mathematischen Literatur zu verlieren«, sagt Écalle. »Ich konnte immer wieder erkennen, dass ein zu tiefes Eintauchen in die mathematische Literatur meine Kreativität zu ersticken drohte.«

In den frühen 1970er Jahren führte Écalles wissenschaftliche Neugier dazu, dass er in die Fußstapfen von Poincaré trat. Er begann noch abstraktere mathematische Objekte zu analysieren als jene, die bei der Untersuchung von Himmelskörpern auftauchen, und arbeitete mit asymptotischen Reihen sowie verallgemeinerten Ableitungen, über die er schon während seiner Schulzeit nachgedacht hatte. Écalle entwickelte schließlich etwas, was er folgendermaßen bezeichnet: »Eine präzise, scharfkantige Struktur – ein Alien-Kalkül, das spontan aus dem scheinbar aussichtslosesten aller Kontexte entstand: der Divergenz.«

Écalles Alien-Kalkül ist abstrakt und vielschichtig. Aber die Botschaft ist klar. Auch wenn sie divergiert, verbirgt eine störungstheoretische Reihe in sich alle nichtperturbativen Informationen. Die unendliche Summe enthält demnach alles, was man braucht, um die Unschärfe zu beseitigen, wodurch ein klares Bild der eigentlichen Funktion entsteht. Vielleicht reichen die klotzigen Legosteine ja doch aus, um unsere Welt zu beschreiben.

Trotz seiner tief greifenden Konsequenzen blieb Écalles Werk zunächst unbeachtet. Es war viel zu abstrakt – selbst für die französischsprachigen Physiker. Und für Mathematiker war es nicht rigoros genug. »Er ist eines dieser Genies, die denken, dass die detaillierten Beweise mit all den Spezialfällen nicht entscheidend sind. Was wirklich zählt, ist das große Bild«, sagt Mariño.

Écalle skizzierte die Kernkonzepte der »Resurgence« erstmals 1976 in drei Abhandlungen. Zwischen 1981 und 1985 verfasste er drei Lehrbücher, in denen er das Alien-Kalkül ausführlich darlegte. Seine Theorie wurde nie in einer mathematischen Fachzeitschrift publiziert. Stattdessen veröffentlichte er die Trilogie über den mathematischen Fachbereich seiner Universität und fügte die Gleichungen von Hand ein.

Hätten Physiker seine Bücher auf Anhieb lesen können, wäre ihre Erfahrung dem Kontakt mit einer intelligenten außerirdischen Zivilisation nicht unähnlich gewesen. Sie wären auf eine mathematische Maschinerie gestoßen, die dem, was sie kannten, um Lichtjahre voraus war. »Die Écalle-Theorie ist sehr ausgefallen«, sagt Bender. Doch sie ermöglicht es, in die weit entfernten Terme einer asymptotischen Reihe einzudringen und die fehlenden Teile aufzudecken. Mit diesen lässt sich dann eine eindeutige Funktion bestimmen – beispielsweise eine, die das Tunneln beschreibt. Damit bildet die Resurgence eine Brücke, die störungstheoretische Ereignisse mit jenen Prozessen verbindet, die durch nichtperturbative Terme beschrieben werden. »Es ist eine sehr komplizierte Beziehung«, meint Bender und winkt bei der Bitte, sie genauer zu erklären, höflich ab.

Auf eine 2022 gestellte Anfrage zur Geschichte der Resurgence reagierte der seinerzeit 75-jährige Écalle, indem er innerhalb von nur sechs Tagen eine 24-seitige Abhandlung erstellte – ein Leckerbissen für alle, die nach mehr Informationen über die Theorie lechzen. »Es ist ein Schatz«, sagt der Mathematiker David Sauzin vom Institut de mécanique céleste et de calcul des Ephémérides in Paris.

Um den Ansatz von Écalle zumindest in groben Zügen nachzuvollziehen, müssen Sie eine Störungsreihe aufschreiben. Zunächst schrumpfen deren Terme, aber irgendwann wachsen sie schnell an, sobald die a-Faktoren groß werden. Wenn Sie das Wachstum der ai-Werte aufzeichnen, werden Sie feststellen, dass sie mit einer Geschwindigkeit nach oben schießen, die fast – aber nicht exakt – einem faktoriellen Wachstum (i!) entspricht. Indem man den Unterschied zwischen der Kurve, die die Werte von ai bilden, und der eines faktoriellen Terms i! untersucht, lernt man etwas über den ersten nichtperturbativen Term: den größten der Nano-Legosteine.

Und das ist nur der Anfang. Anschließend wendet man auf die Störungsreihe die Borel-Summierung an. Dadurch wird das faktorielle Wachstum der Terme abgemildert. Nun wachsen die modifizierten ai nur noch exponentiell an. Bei genauer Betrachtung werden Sie jedoch feststellen, dass die Terme wieder ein wenig davon abweichen. Die Abweichung kommt von einer neuen asymptotischen Reihe, die man mit dem ersten nichtperturbativen Term multiplizieren muss.

Dann beginnt man wieder von vorne: Man entfernt das exponentielle Wachstum aus den Störungsdaten und legt somit weitere Abweichungen offen, die einen zweiten nichtperturbativen Term enthüllen. Bei näherer Betrachtung geht dieser nichtperturbative Term mit einer weiteren asymptotischen Reihe einher und so weiter.

»Die Störungsreihe scheint das Tor zu einer sehr komplexen und faszinierenden Welt zu sein«Marcos Mariño, Physiker

Am Ende kann es eine beliebige Anzahl von nichtperturbativen Termen mit dazugehörigen asymptotischen Reihen geben. Indem man möglichst viele dieser Terme herleitet, erhält man eine »Trans-Reihe«, wie Écalle sie bezeichnet. Diese beginnt mit der bekannten störungstheoretischen Reihe, darauf folgt der erste nichtperturbative Term (mit einer angehängten asymptotischen Reihe) und dann noch einer und noch einer. Trans-Reihen haben die Schwierigkeiten mit Borel-Summierungen beseitigt. Wenn man die Trans-Reihe für eine bestimmte Berechnung kennt, etwa für den Landé-Faktor des Elektrons, erhält man durch die Borel-Summierung eine einzige, richtige Antwort.

Dieses mathematische Bild hat für Physiker zwei wichtige Folgen. Erstens scheint es, als könnten sie exakte Ergebnisse – und nicht nur Näherungen – für Quantenfelder und andere komplizierte Systeme erzielen. »Ein Beweis, dass die Quantenfeldtheorie tatsächlich der Resurgence unterliegt, wäre ein enormer Fortschritt«, so Serone. Zweitens deutet die Écalle-Theorie darauf hin, dass sich die nichtperturbativen Teile vollständig aus den Störungsreihen ableiten lassen. Jahrzehntelang wirkten das Reich der Störungstheorie, die nur schwache Wechselwirkungen beschreiben kann, und das Gebiet der nichtperturbativen Prozesse wie zwei unabhängige Felder der Physik – und nun scheint alles eng miteinander verknüpft. »Anstatt die Störungsreihe als etwas zu betrachten, was divergiert und viel Ärger bereitet«, sagt Mariño, »scheint sie das Tor zu einer sehr komplexen und faszinierenden Welt zu sein.«

Daher rührt der Name »Resurgence«, erklärt der Physiker Gökçe Başar von der University of North Carolina in Chapel Hill: »Das Verhalten der hinteren Terme in der Störungsreihe lebt in den nichtperturbativen Teilen wieder auf.« Das sei kompliziert, aber auch ziemlich schön.

Anwendungen in der starken Kernkraft

Écalles Entdeckung, dass nichtperturbative Effekte durch die Störungstheorie zugänglich werden, ist nun langsam in die Welt der mathematischen Physik gesickert. Dort hat sie bereits Anwendung gefunden.

Mithat Ünsal von der North Carolina State University in Raleigh hat einen Großteil seiner Karriere dem Verständnis der starken Kernkraft gewidmet, die Quarks zusammenhält. So bilden sich Protonen und andere Teilchen. Als er 2008 erstmals von der Écalle-Theorie las, versuchte er sich einen Überblick darüber zu verschaffen. »Mein Französisch ist ziemlich eingerostet, aber es gab ein englisches Vorwort mit Terminologievorschlägen«, erinnert sich Ünsal. »Ich habe es mir angeeignet und versucht, die Theorie zu verstehen.«

Später lernte er auf einer Konferenz Gerald Dunne von der University of Connecticut in Storrs kennen. Bei einer Tasse Kaffee stellten sie fest, dass derselbe 1993 erschienene Fachartikel sie dazu inspiriert hatte, sich mit Resurgence zu beschäftigen. Daher beschlossen sie, ihre Kräfte zu bündeln.

Beide Physiker wurden durch die Tatsache motiviert, dass die Theorie der starken Wechselwirkung noch komplizierter ist als die Quantenelektrodynamik, mit der sich Dyson und Feynman beschäftigt hatten. Denn in Letzterer ist das elektromagnetische Feld schwach, mit einem α von nur 1137. Eine andere fundamentale Kraft, die schwache Wechselwirkung, lässt sich ebenfalls leicht zähmen, da ihre Version von α noch 10 000-mal kleiner ist. Bei diesen beiden Kräften funktioniert der störungstheoretische Ansatz extrem gut, weil die Terme der asymptotischen Reihe anfangs sehr schnell abfallen.

Bei der starken Kernkraft ist das anders: Sie ist etwa 100-mal stärker als die elektromagnetische, mit einem α-Analogon von etwa 1. Daher kann man die höheren Terme von Anfang an nicht ignorieren. Die Beiträge wachsen stetig an, weil die Potenzen von α≈1 keinerlei Schrumpfungseffekt haben. Damit steuert die Störungsreihe von den ersten Termen an geradewegs auf die Unendlichkeit zu. Physiker haben Jahrzehnte damit verbracht, alternative Methoden zu entwickeln, um die starke Kernkraft zu untersuchen – und dabei teilweise beeindruckende Ergebnisse erzielt. Aber die meist auf Supercomputern ausgeführten Berechnungen geben nicht viel Aufschluss darüber, wie die starke Kraft genau funktioniert.

Ünsal und Dunne erkannten, dass die Écalle-Theorie sie dem Traum vom Verständnis der starken Kernkraft einen Schritt näher bringen könnte. Um das zu untermauern, wandten sie sich einem Rätsel zu, das die Theorie seit 40 Jahren plagte.

1979 fanden die Physiker Gerard 't Hooft und Giorgio Parisi heraus, dass bei den Berechnungen der starken Kernkraft winzige, bizarre Terme auftauchen. Sie nannten sie »Renormalonen«, doch niemand wusste etwas mit ihnen anzufangen. Renormalonen schienen keiner spezifischen Kräuselung im Quantenfeld oder einem anderen konkreten Prozess zu entsprechen. Aber sie waren da und brachten die Berechnungen durcheinander.

Daher haben Ünsal und Dunne die Renormalonen mit Resurgence untersucht. Obwohl sie mit einem vereinfachten Modell arbeiteten, einem zweidimensionalen Analogon der starken Kraft, brauchten sie dafür etwa ein Jahr. 2012 konnten sie schließlich zeigen, dass die Renormalonen von 't Hooft und Parisi – zumindest in ihrem vereinfachten Modell – durch Prozesse entstehen, die Physiker verstehen. »Sie haben das Rätsel gelöst und konnten herausfinden, was den Renormalonen entspricht«, so der Physiker Jordan Cotler von der Harvard University. Er betont aber zugleich, damit seien noch nicht alle Fragen beigelegt.

2022 sind Mariño und seine Kollegen auf eine neue Art von Renormalonen gestoßen, die über jene von Parisi und 't Hooft hinausgehen. Mariño vermutet, dass Renormalonen nur die Spitze eines nichtperturbativen Eisbergs sind. Wenn er Recht hat, könnte die Quantenwelt noch schwieriger vorstellbar sein, als sie es ohnehin schon ist. »Möglicherweise ist die Welt der exponentiellen Korrekturen wirklich abenteuerlich«, vermutet er.

Resurgence in der Stringtheorie

Mariño war darüber hinaus maßgeblich an der Entdeckung eines neuen nichtperturbativen Effekts in einem anderen Bereich der Physik beteiligt, der Stringtheorie. Die Stringtheorie ist eine spekulative Herangehensweise, die versucht, die Gravitation mit den anderen drei Grundkräften (dem Elektromagnetismus, der schwachen und der starken Kernkraft) zu vereinen. In dieser Theorie besteht das Universum nicht aus punktförmigen Elementarteilchen, sondern aus eindimensionalen Schnüren (englisch: strings). Das Schwingen solcher Schnüre bestimmt demnach die Eigenschaften der Teilchen, die wir in unserer Welt beobachten.

In der Stringtheorie führt man wie in der Quantenfeldtheorie Berechnungen mit Hilfe von feynmanähnlichen Diagrammen durch. In diesem Fall stellen die Diagramme allerdings Wechselwirkungen von Strings dar, die sich auf immer kompliziertere Weise zusammenfügen und aufspalten. Stringtheoretikern fehlt bisher jedoch auch nur der geringste Hinweis, wie man mit den nichtperturbativen Effekten der Theorie umgehen soll. Fachleute gehen davon aus, dass eine vollständige Formulierung der Stringtheorie ihre eigenen Dämonen besitzt, so wie die Quantenmechanik das Tunneln und die Quantenfeldtheorie Renormalonen enthält.

Ein eindrucksvolles Beispiel für nichtperturbative Phänomene in der Stringtheorie sind flächenartige Objekte, so genannte D-Branen, die in den 1990er Jahren entdeckt wurden. D-Branen sollten später einige der wichtigsten Entwicklungen der Stringtheorie vorantreiben. Deshalb fragte sich Mariño, was sich in deren Tiefen wohl noch verbirgt.

Zusammen mit einigen Kollegen entdeckte er 2010 eine Reihe negativer Gegenstücke zu den flächenartigen D-Branen. Damals war völlig unklar, welches physikalische Phänomen diese »negativen Flächen« beschreiben könnten.

Ein Hinweis darauf erschien sechs Jahre später, als der Physiker Cumrun Vafa von der Harvard University mit seinem Team eine verallgemeinerte Version der Stringtheorie untersuchte, in der für bestimmte Größen auch negative Werte erlaubt sind. Darin fanden die Forscher D-Branen mit negativer Spannung vor – was der Branen-Version einer negativen Masse entspricht. Diese ungewöhnlichen Objekte erzeugen allerlei exotische Phänomene. Sie führen unter anderem zu mehreren Zeitdimensionen und verletzen das fundamentale Prinzip, wonach sich Wahrscheinlichkeiten immer zu 100 Prozent addieren. Die Gruppe um Vafa fand jedoch keinen Hinweis darauf, dass diese Objekte aus ihrer bizarren Welt (der verallgemeinerten Version einer Stringtheorie) entkommen und in der Standard-Stringtheorie auftauchen könnten. Daher schienen sie zunächst nicht mit Mariños seltsamen Fund zusammenzuhängen.

Doch Ricardo Schiappa, ein Kollege und Freund von Mariño von der Universität Lissabon, glaubt, diese Annahme widerlegen zu können. 2022 haben Schiappa und seine Mitarbeiter mehrere einfache Stringtheorie-Modelle mit der Écalle-Theorie untersucht. Dabei fanden sie heraus, dass Vafas negativ gespannte D-Branen mit den exponentiell kleinen Termen übereinstimmen, die Mariño 2010 gefunden hatte. Negative D-Branen sind unvermeidliche Partner von D-Branen, argumentiert die Gruppe in einer noch nicht begutachteten Veröffentlichung vom Januar 2023. »Wir haben jetzt entdeckt, dass negative D-Branen notwendigerweise in der Störungstheorie vorkommen«, sagt Schiappa.

Andere Stringtheoretiker sind sich noch nicht sicher, was sie von dieser Erkenntnis halten sollen. Vafa weist darauf hin, dass die Berechnungen von Schiappas Team in vereinfachten Modellen durchgeführt wurden und somit nicht klar ist, ob das Ergebnis auch in allgemeineren Formulierungen gilt. Sollte das der Fall sein und die Stringtheorie tatsächlich unser Universum beschreiben, muss sie Effekte enthalten, welche die Bildung negativer D-Branen verhindern. »Negative D-Branen sollten nicht als reguläre Objekte in dieser Theorie vorkommen«, sagt Vafa. »Andernfalls öffnet das die Büchse der Pandora.«

Ersetzt Resurgence nun die Störungstheorie?

Trotz ihrer Fortschritte in Bezug auf Renormalonen und negative Branen gibt es noch immer Hürden, die Physiker davon abhalten, die Écalle-Theorie als Nachfolger der Störungstheorie zu betrachten.

Bisher ließ sich nicht für alle physikalischen Theorien beweisen, dass sie eine Resurgence-Struktur besitzen. Um das zu prüfen, muss man jede Quantenfeldtheorie einzeln durcharbeiten. Das ist ein mühsamer Prozess – ein bisschen so, als würde man Säugetiere Art für Art untersuchen. Nachdem man Menschen, Delfine und Katzen beobachtet hat, könnte man zuversichtlich sein, Lebendgeburten seien ein universelles Merkmal von Säugetieren. Aber es besteht immer die Möglichkeit, dass hinter der nächsten Ecke ein Schnabeltier lauert, das Eier legt.

Aus diesem Grund hat Serone die letzten Jahre damit verbracht, Resurgence-Strukturen in bestimmten Quantenfeldtheorien zu untersuchen. 2021 widmete er sich mit seinen Kollegen einer Theorie, die wichtige Merkmale mit der starken Kernkraft teilt, aber immer noch einfach genug ist, um die vielen a-Faktoren zu berechnen, die für die Écalle-Theorie erforderlich sind. Sie konnten die Energie des Vakuums in einem solchen Universum mit Hilfe der Resurgence ermitteln und haben das Ergebnis mit den Resultaten verglichen, die sie durch zwei andere Methoden erhielten. Wie sich herausstellte, stimmten alle drei überein. In der Vergangenheit gab es zwar schon Argumente, warum die Écalle-Theorie auf die Quantenfeldtheorie anwendbar sein sollte, doch dies ist eine der ersten konkreten Berechnungen, welche die Annahme untermauern. »In den meisten Fällen, die bisher getestet wurden, funktioniert entweder die Resurgence oder wir glauben zu verstehen, warum die Methode fehlschlägt«, sagt Serone.

Das schwerwiegendere Problem ist jedoch, dass man extrem viele Störungsterme berechnen muss, um die nichtperturbativen Teile der Theorie zu ermitteln. Serone wählte bei seiner Untersuchung beispielsweise extra eine vereinfachte Quantenfeldtheorie aus, die es ihm ermöglichte, Tausende von Störungstermen zu generieren. Für die starke Kernkraft ist es derzeit hingegen unmöglich, auch nur acht oder neun dieser Terme zu bestimmen. Mit Hilfe der Écalle-Theorie eine reale Größe wie die Masse des Protons exakt herzuleiten, »ist extrem schwierig«, seufzt Ünsal. »Ich sehe keinen direkten Weg.«

»Écalle postulierte, dass die Antwort im Prinzip da ist. Aber sie tatsächlich zu berechnen, ist sehr, sehr schwer«, sagt Bender. Dennoch hat diese Schwierigkeit die Hoffnungen, echte Vorhersagen aus der Écalle-Theorie zu erhalten, nicht zunichtegemacht. Zum Beispiel hat die Methode in der Quantenmechanik bereits zu sonst unerreichbaren Ergebnissen geführt.

In den 1980er Jahren hatten die mathematischen Physiker in Saclay im Prinzip eine Vorgängerversion der Resurgence-Methode verwendet, um eine genaue Vorhersage für das Tunneln von Teilchen zu machen – ein Phänomen, das sich zuvor nur durch Näherungen beschreiben ließ. Dunne und Ünsal haben ähnliche Berechnungen mit Stift und Papier durchgeführt und dabei die verfeinerten Techniken von Écalle verwendet. Eine andere Forschungsgruppe hat diese Ergebnisse mit Standardmethoden überprüft: Sie kamen nur bis auf sechs Nachkommastellen an das exakte Resultat heran; und das allein erforderte schon mehrere Monate Arbeit mit erheblicher Computerunterstützung.

»Selbst wenn das physikalische Fundament nachgibt, werden die beeindruckenden mathematischen Ergebnisse bestehen bleiben«Jean Écalle, Physiker

Solche Beispiele haben Dunne dazu motiviert, effiziente Methoden zu entwickeln, um Resurgence in die Praxis zu bringen. Seine Hoffnung ist, die Technik eines Tages auf Quantenfeldtheorien übertragen zu können. Seit 2018 hat er zusammen mit Ovidiu Costin, einem Mathematiker an der Ohio State University, Wege gefunden, um mehr Informationen aus der Störungstheorie zu gewinnen. In einigen Fällen (die noch weit von den realen Theorien entfernt sind) genügt es inzwischen, nur 10 bis 15 Terme zu kennen statt den Tausenden mit der herkömmlichen Methode.

Die Arbeit von Dunne und Costin hat sogar die Aufmerksamkeit von Écalle selbst erregt. Dieser hatte die Wellen, die seine Arbeit geschlagen hat, bisher nicht genau verfolgt. Er bezeichnet sich selbst als »vollendeten Ignoranten der theoretischen Physik«. Er befürchtet zwar, dass einige Fortschritte, die an spekulativen Modellen wie der Stringtheorie ansetzen, auf einem schwachen Fundament stehen könnten, lobt aber die Bemühungen der Forscher, die Resurgence mathematisch auf Vordermann zu bringen.

»Selbst wenn das physikalische Fundament nachgibt, werden die beeindruckenden mathematischen Ergebnisse von Costin und Dunne bestehen bleiben«, sagt er. Für Écalle ist Resurgence inzwischen ein vergangenes Kapitel. Seit dem Erscheinen seiner Trilogie sind fast 40 Jahre vergangen. Bis zum Jahr 2000 entwickelte er das Alien-Kalkül weiter, und seither hat er sich der Erforschung eines algebraischen Ablegers gewidmet. Sollte er sich jemals dazu entschließen, eine Fortsetzung seiner Trilogie zu veröffentlichen, die alle seine Erkenntnisse vereint – wer weiß, welche Schätze darin liegen würden. »Ich glaube, er hat viele Techniken entdeckt, die erst noch erforscht werden müssen«, sagt Mariño.

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  • Quellen

Di Pietro, L. et al.: Resurgence and 1/N expansion in integrable field theories. Journal of High Energy Physics 166, 2021

Dunne, G. V., Ünsal, M.: Resurgence and trans-series in Quantum Field Theory: the CP^N-1 model. Journal of High Energy Physics 170, 2012

Écalle, J.: Les fonctions resurgentes. Université de Paris-Sud, Département de Mathématique, 1981

Marino, M. et al.: New renormalons from analytic trans-series. Journal of High Energy Physics 279, 2022

Schiappa, R. et al.: All the D-branes of resurgence. Arxiv 2301.05214, 2023

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