Vampir Petar Blagojević: Als Österreich an die Grenzen der Wirklichkeit stieß

Das Habsburgerreich im Sommer 1725. Der Beamte Ernst Frombald war auf Mission im südöstlichen Grenzgebiet des Vielvölkerstaats. Seine Aufgabe: neun Todesfälle aufzuklären, die sich innerhalb einer Woche in Kisolova, einem kleinen Dorf im Norden Serbiens, ereignet hatten. Als der Kameralprovisor die Reise antrat, ging er vom Ausbruch einer Seuche aus – ein Routineeinsatz. Doch als er das Dorf erreichte, waren die Einwohner in hellem Aufruhr. Etwas viel Grauenvolleres habe die Opfer auf dem Gewissen: ein Vampir!
Österreich hatte den Grenzdistrikt Gradiska in Nordserbien erst kürzlich im Krieg gegen das Osmanische Reich erobert. Seit dem Frieden von Passarowitz im Jahr 1718 bemühte sich eine direkt aus Wien eingesetzte Kommission um den Wiederaufbau der kriegsgebeutelten Gebiete und ihre Eingliederung in die Verwaltung der Habsburgermonarchie. Die Leitung der Militärverwaltung für Nordserbien mit Sitz in Belgrad übernahm Feldmarschall Herzog Karl Alexander von Württemberg (1684–1737).
Die Habsburger Besatzer reformierten zunächst die osmanischen Verwaltungsstrukturen, wie der Historiker Peter Mario Kreuter vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg erklärt, der seit vielen Jahren über das Phänomen der Vampire forscht. »Österreich musste seine eigenen Institutionen bis hinunter auf die Dorfebene neu aufbauen«, so Kreuter. Dabei geschah es, dass die österreichischen Beamten in Situationen gerieten, die sie nicht kannten und dennoch lösen mussten. Als oberstes Gebot galt dabei, an der Grenze zum Osmanischen Reich Ordnung zu wahren. »Unruhe an der Grenze konnte man nicht gebrauchen«, so Kreuter.
Die Medienfigur des Vampirs war geboren
Kameralprovisor Ernst Frombald, der medizinisch wenig geschult als Beamter für Gesundheitsfragen Dienst tat, war als Teil dieses Apparats vor Ort. Sein Bericht an die Wiener Zentrale über die Vorkommnisse wurde wenig später in Auszügen in der Zeitung »Wienerisches Diarium« veröffentlicht. Damals vor gut 300 Jahren ahnte Frombald wohl nicht, dass sein Report den Grundstein für die Medienfigur des Vampirs legen würde. War der untote Blutsauger doch zunächst »nur« ein Volksglaube, der sich mit Frombalds Bericht zum Verwaltungsproblem auswuchs – und mit der Veröffentlichung seines Berichts sogar »zum allerersten Mal zum Medienphänomen« wurde, erklärt Kreuter.
»Als dessen Cörper unverwesen, Haut, Haar, Bart, und Nägel an ihme wachsen zu sehen seyn müsten«Ernst Frombald, Kameralprovisor, 1725
Was Frombald beschrieb, schien ungeheuerlich: Drei Monate vor dem mysteriösen Massensterben hatte es schon einmal einen Todesfall gegeben. Ein Bauer namens Peter Plogojoviz war verstorben, doch Ruhe im Grab habe er nicht gefunden. So zumindest hätten es die späteren Opfer kurz vor ihrem Tod erzählt. Ihnen sei Plogojoviz erschienen, habe sich auf sie gelegt und sie gewürgt. Wen der Untote besucht hatte, war innerhalb eines Tages selbst tot. Auch seiner Frau sei der Verstorbene erschienen und habe sie nach seinen Schuhen gefragt – er brauche sie, um in ein Nachbardorf aufzubrechen. Seine Frau überlebte als Einzige das schauerliche Treffen, so erzählten es die Leute dem kaiserlichen Beamten.
Um zu beweisen, dass es sich bei der Todesserie um die Machenschaften von »Vampyrie« handelte, bestanden die Dorfbewohner darauf, den Leichnam des Mannes, der eigentlich Petar Blagojević hieß, zu exhumieren. Sollte der Bauer wirklich ein Vampir geworden sein, müsste es eindeutige Hinweise darauf an seinem Körper geben: »Als dessen Cörper unverwesen, Haut, Haar, Bart, und Nägel an ihme wachsen zu sehen seyn müsten«, so Frombald in seinem Bericht.
Der Kameralprovisor war als Vertreter der Habsburger Monarchie, ihrer Verwaltung und Rechtsordnung in einer Zwickmühle. Er wusste, dass er von Amts wegen keine Exhumierung genehmigen durfte, sondern erst »an eine Löbliche Administration unterthänig gehorsamst berichten und deroselben hohe Verfassung hierüber vernehmen müste«. Die Dorfbewohner aber waren aufgebracht und drohten damit, den Ort aufzugeben und wegzuziehen. Bis aus Belgrad Antwort kommen würde, seien sie alle schon »durch solch üblen Geist zu Grund« gegangen, »welches sie nicht erwarten wolten«.
Eine Leichenschau sollte die Wahrheit ans Licht bringen
Offenbar war es bereits zu Zeiten der osmanischen Besatzung zu ähnlichen Fällen gekommen. Und schon damals hatte sich die ganze Dorfgemeinschaft gegen den Vampir zur Wehr gesetzt. In seinem Buch »Der Vampirglaube in Südosteuropa« verweist Kreuter darauf, dass der (Aber-)Glaube die Menschen einte, ja eine geradezu gemeinschaftsstiftende Funktion hatte. »Nur die ganze Dorfgemeinschaft, die ja kollektiv vom Vampir bedroht ist, hat auch die Chancen, diesen ausfindig zu machen und zu vernichten, denn dies allein bietet zuverlässigen Schutz.«
Für Frombald blieb also keine Zeit, auf die Entscheidung höherer Stellen zu warten, wollte er eine Eskalation vermeiden. So entschied er sich, zusammen mit dem örtlichen Geistlichen den bereits exhumierten Leichnam von Blagojević zu inspizieren. Und tatsächlich – der Körper wies alle Merkmale auf, die laut den Dorfbewohnern typisch für einen Vampir seien: Der Leichnam, von dem kein unangenehmer Geruch ausging, sei »gantz frisch« gewesen. »Haar und Bart, ja auch die Nägel, wovon die alte hinweg gefallen, an ihme gewachsen; die alte Haut, welche etwas weißlicht ware, hat sich hinweg geschellet, und eine frische neue darunter hervor gethan«. Vor ihnen lag ein Leib, wie er »in seinen Lebzeiten nicht hätten vollkommener seyn können«. Zweifellos war Petar Blagojević ein Untoter geworden, vielmehr noch ein Vampir, wie »einiges frisches Blut« in seinem Mund bezeugte. Es musste es seinen Opfern ausgesogen haben.
Schon damalige Gelehrte äußerten Skepsis angesichts solcher fantastischen Berichte. So gab die Königlich Preußische Societät der Wissenschaften 1732 ein Gutachten heraus, in dem die untrüglichen Vampirmerkmale allesamt als gewöhnliche Leichenphänomene entlarvt wurden. Es blieb nicht die einzige Studie zum Vampirglauben. Später reiste der deutsche Regimentschirurg Georg Tallar in die Region und untersuchte derartige Vorfälle. In seinem Bericht von 1756 führte er die Ereignisse auf extremes Fasten und exzessives Fastenbrechen zurück – sie hätten bei den Betroffenen eine Anämie ausgelöst. Doch die Idee vom Blutsauger war da längst in der Welt.
Pfahl ins Herz
Frombald kannte solche Studien noch nicht. 1725 stand er inmitten einer panischen Menge und hatte wenig Spielraum, auf sie einzuwirken. »Mehr und mehr ergrimter als bestürtzter« waren die Dorfbewohner angesichts der Leiche geworden und griffen zur Selbsthilfe: Sie haben »in schneller Eil einen Pfeil gespitzet« und dem toten Blagojević durchs Herz gejagt. Dabei sei frisches Blut auch aus Ohren und Mund geflossen, außerdem hätte der Körper »andere wilde Zeichen« gezeigt, auf die Frombald nicht näher eingehen wollte. Am Ende der schauerlichen Szene verbrannten die Bewohner den Toten zu Asche.
Zur Wahrung des öffentlichen Friedens hatte der Provisor die Störung der Totenruhe zugelassen. In seinem Bericht bat er deshalb abschließend, »daß, wann hierinfals einen Fehler begangen haben sollte, solchen nicht mir, sondern dem vor Furcht ausser sich selbst gesezten Pöfel beyzumessen«. Nicht er, sondern die aufgebrachte Dorfbevölkerung sei also schuld an den Ereignissen. Das Generalkommando unter Herzog von Württemberg nahm Frombalds Bericht zur Kenntnis und legte den Vorgang zu den Akten. Damit war der Fall »Peter Plogojoviz« abgeschlossen.
Die Vampire trieben jedoch weiter ihr Unwesen. Denn was die Verwaltung 1725 noch nicht wissen konnte: Die Ereignisse in Kisolova markierten erst den Beginn einer langen Reihe von vergleichbaren Vorfällen in den Jahren danach. So ereignete sich 1731 eine ähnliche Todesserie im Dorf Medvegya an der Morava, rund 200 Kilometer von Kisolova entfernt. Wieder waren mehrere Personen zu Tode gekommen, wieder wurde ein zuvor Verstorbener als Vampir identifiziert, gepfählt und verbrannt. Das Belgrader Militärkommando entsandte eine Untersuchungskommission unter Leitung des Militärarztes Johannes Flückinger. Als Folge seines Berichts verbreiteten sich ab 1732 in ganz Europa »Vampirtraktate« und gelehrte Abhandlungen über die Frage nach dem Ursprung des Vampirglaubens.
Überhebliche Habsburger
Der Vampir war in der öffentlichen Debatte angekommen. Und auch in den folgenden Jahren sollten die Berichte über das Treiben der Blutsauger in den Grenzregionen des Habsburgerreiches nicht abreißen. Die Besatzungsmacht begründete damit sogar die eigene Überlegenheit: »Nach dem Ende der sprichwörtlichen ›Türkengefahr‹ bot sich der Vampirismus aus Sicht der Aufklärung als weiteres Argument in der Debatte um die Orientalisierung des Donau-Balkan-Raums an«, erklärt der Historiker Thomas Bohn von der Universität Gießen. Der Vampirglauben galt als Beleg für die vermeintliche Rückständigkeit des Balkans. Eine gewisse Überheblichkeit liest sich schon im Bericht des Habsburger Bürokraten Frombald, der den Toten durchweg als »Peter Plogojoviz« benannte, dessen richtiger Name aber »Petar Blagojević« lautete, so Bohn in seinem Buch »Der Vampir – ein europäischer Mythos«.
1755 bereitete Kaiserin Maria-Theresia (1717–1780) dem Treiben ein Ende. Nach einem weiteren Skandal um geschändete und verbrannte Leichen unter dem Vorwand der Vampirbekämpfung – diesmal in Mähren – verbot die österreichische Herrscherin jegliche Praktiken, die unter dem Begriff »Magica Posthuma« betrieben wurden. Derartige Fälle sollten in Zukunft in die Zuständigkeit der örtlichen Verwaltung und Abteilung für Seuchenbekämpfung fallen. Mit dem Verbot verschwanden auch die Berichte aus den Akten der Behörden und der Öffentlichkeit. »Sobald es ein Gesetz gab, dass auch das Thema ›Vampire‹ regelte, verlor es seine Brisanz«, so Kreuter.
Das Phänomen wurde stattdessen mehr und mehr zu einem Thema der fantastischen Literatur. Doch erst rund 150 Jahre später, im Jahr 1897, feierte der Vampir seinen endgültigen Durchbruch als literarische und popkulturelle Schauergestalt in der Figur von Bram Stokers »Dracula«. Die heutigen Vampire haben mit dem düsteren Volksglauben bäuerlicher Wiedergänger und den Anstrengungen frühmoderner Seuchenbekämpfung nicht mehr viel gemeinsam – bis auf die Faszination und den reizvollen Grusel, der die Blutsauger längst unsterblich gemacht hat.
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