Quantenoptik: Experiment offenbart imaginäre Zeit

Wie schnell ist das Licht? Das hängt ganz vom Medium ab, durch das es sich bewegt. Durch das Vakuum flitzen Photonen mit knapp 300 000 Kilometern pro Sekunde und erreichen damit eine Grenzgeschwindigkeit, wie Albert Einstein feststellte: Nichts und niemand scheint diese überschreiten zu können. Doch schickt man Licht durch eine Substanz oder ein Material, wird es gebremst. Teilweise sogar so stark, dass es komplett stehenbleibt. Die Zeitverzögerung, die ein Lichtstrahl durch ein Medium erleidet, weist allerdings eine Seltsamkeit auf: Wenn man sie berechnet, enthält sie einen imaginären Anteil – also die Wurzel einer negativen Zahl. Bislang haben Fachleute diesen Teil einfach ignoriert und als mathematische Kuriosität abgetan. Doch nun haben die Physikerin Isabella L. Giovannelli und ihr Kollege Steven M. Anlage von der University of Maryland erstmals in einem Experiment gezeigt, dass auch der imaginäre Anteil eine reale physikalische Bedeutung hat. Ihre Ergebnisse haben sie im Fachjournal »Physical Review Letters« veröffentlicht.
Es ist nicht die erste Überraschung, die Lichtteilchen beim Durchwandern von Medien bereithalten. Im Jahr 2024 konnten Forschende zum Beispiel zeigen, dass die Zeitverzögerung von Photonen negativ sein kann. »Die komplexe Natur der Zeitverzögerung wurde von Physikerinnen und Physikern in der Vergangenheit weitgehend ignoriert«, sagt Anlage zu »Spektrum«. Der Physiker interessierte sich seit 2008 für diesen seltsamen Umstand, konnte aber nach eigenen Angaben keine physikalische Entsprechung finden. Doch dann legte eine 2016 erschienene Forschungsarbeit nahe, dass der imaginäre Wert bei glockenförmigen Lichtpulsen eine physikalische Bedeutung haben könnte: Den Berechnungen zufolge hängt sie mit der Frequenzverschiebung des Pulses zusammen. Denn wenn man einen Lichtpuls durch ein Medium schickt, tritt es mit einer leicht verschobenen Frequenz wieder heraus. Dieser Frequenzunterschied hängt laut den Fachleuten mit dem imaginären Anteil der Zeitverzögerung zusammen. »Dieses Paper war für uns eine sehr angenehme Überraschung!<, sagt Anlage. »Wir waren sehr ermutigt durch die Tatsache, dass jemand anderes auf der Welt das Konzept der komplexen Zeitverzögerung ernst genommen hat.«
Und so hat er gemeinsam mit Giovanelli die These dieser Arbeit in einem Experiment überprüft. Dafür haben sie einen Lichtpuls durch zwei verbundene Koaxialkabel unterschiedlicher Länge geschickt – einen ringförmigen Aufbau, der in der Vergangenheit gut untersucht. In einem ersten Schritt bestimmten sie die Zeitverzögerung der eingespeisten Lichtpulse, sowie deren Frequenzverschiebung. In einem zweiten Teil des Experiments untersuchten die Forschenden das Streuverhalten des Aufbaus, indem sie stationäre Lichtwellen hindurchjagten. Damit konnten sie die erwartete Zeitverzögerung theoretisch berechnen und erkannten, dass sie einen imaginären Anteil mit sich bringt. Und tatsächlich konnten sie die gemessene Frequenzverschiebung mit diesem imaginären Wert in Zusammenhang bringen. »Damit können wir einer abstrakten, aber in der Praxis nützlichen Größe eine physikalische Bedeutung geben«, schreiben die beiden Autoren in ihrer Arbeit. Und Anlage fügt hinzu: »Durch die Berücksichtigung der komplexen Zeitverzögerung haben wir die Tür zu vielen weiteren nützlichen Größen geöffnet, die sowohl für die Wissenschaft als auch für die Technik von großem Nutzen sein werden.«
Bislang gilt der nachgewiesene Zusammenhang zwischen imaginärer Zeit und Frequenzverschiebung nur für Lichtpulse, welche die Form einer Gauß-Glocke haben. In künftigen Arbeiten wollen Giovannelli und Anlage deshalb herausfinden, ob der imaginäre Anteil der Zeitverzögerung auch für andere Pulsformen eine relevante Bedeutung hat.
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