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Hyperthymesie: Ein fast perfektes Gedächtnis

Eine Hand voll Menschen auf der Welt erinnern sich detailliert an fast jeden Tag ihres Lebens. Durch den Blick in ihr Gehirn wollen Forscher herausfinden, wie die wundersame Fähigkeit zu Stande kommt.
Weißt du noch?

Vermutlich können Sie sich noch gut daran erinnern, was Sie heute Morgen gefrühstückt haben. Aber wissen Sie auch noch, was am 23. November 2003 auf Ihrem Speiseplan stand? Einige Menschen auf der Welt können diese Frage tatsächlich mühelos beantworten. Ihr Erinnerungsvermögen ist so bemerkenswert, dass sie sich ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Kindheit oder Jugend detailliert an jeden einzelnen Tag erinnern. Sie wissen noch genau, auf welchen Wochentag ein Datum fiel, was sie an jenem Tag getan haben und was damals in der Zeitung stand.

Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als Hyperthymesie oder auch "highly superior autobiographical memory" (HSAM) – zu Deutsch: weit überlegenes autobiografisches Gedächtnis. Bis heute rätseln Experten jedoch, woher das herausragende Erinnerungsvermögen rührt. Seine Erforschung gestaltete sich vor allem deshalb schwierig, weil bis heute nur sehr wenige Menschen mit fast perfektem autobiografischem Gedächtnis bekannt sind.

Aus Gehirn und Geist 4/2013
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Die Geschichte des Syndroms beginnt mit dem Fall der Jill Price. Die Amerikanerin wendet sich im Jahr 2000 Hilfe suchend an James McGaugh von der University of California in Irvine. In einer E-Mail beschreibt sie dem Forscher ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten: Ihre ersten Erinnerungen stammen aus der Zeit, als sie noch ein Kleinkind war, und seit dem 5. Februar 1980 ist jeder einzelne Tag in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Die Gedanken an ihre Vergangenheit ruft sie nicht bewusst herbei, sondern sie wird von ihnen buchstäblich übermannt, wenn sie irgendwo auf ein Datum stößt. So mancher mag von einer solchen Gabe träumen, doch Price empfindet sie als eine äußerst belastende Bürde.

McGaugh ist von ihrem Fall fasziniert und nimmt Prices außergewöhnliches Erinnerungsvermögen in den folgenden fünf Jahren genau unter die Lupe. Bei zahlreichen Intelligenz- und Gedächtnistests fragt er immer wieder ihr Wissen zu einzelnen Tagen aus der Vergangenheit ab. Dabei zeigt sich, dass Prices Gedächtnis vor allem in Bezug auf Kalenderdaten bemerkenswert ist. So kann sie beispielsweise alle Ostertage zwischen 1980 und 2003 innerhalb von zehn Minuten korrekt aufzählen – lediglich bei einem Termin irrt sie sich um zwei Tage. Sie weiß offenbar auch, was an jenen Tagen in ihrem Leben geschah. Einen Teil dieser Angaben finden McGaugh und sein Team im Tagebuch von Price wieder, das sie seit ihrer Pubertät akribisch führt.

Auch an öffentliche Ereignisse kann sich die Frau mit dem wundersamen Gedächtnis mit Tag und Datum erinnern, sofern sie sich persönlich dafür interessierte. Einmal prüfen die Forscher sie mit einem Buch, das besondere Ereignisse der jüngsten amerikanischen Geschichte auflistet. Price ist zielsicher wie immer, nur für die Besetzung der amerikanischen Botschaft im Iran Ende der 1970er Jahre nennt sie nicht das erwartete Datum. Später stellt sich heraus: Die Angabe im Buch ist falsch, Price liegt richtig. McGaugh und seine Kollegen konnten außerdem feststellen, dass Price keinesfalls Kalender im Kopf durchkalkulierte, wie es etwa von bestimmten Autisten mit Inselbegabungen bekannt ist. Manche von ihnen können Daten über eine Zeitspanne von bis zu 40 000 Jahren genau berechnen. Price erinnert sich dagegen nur an Ereignisse seit 1980. Ihr autobiografisches Gedächtnis arbeitet seitdem auf mysteriöse Weise genau.

Rätselhaftes Gedächtnis

Bei weiteren Gedächtnistests gab Price den Forschern allerdings Rätsel auf: Manche Aufgaben, zum Beispiel das Wiederkennen von Wörtern, löste sie ebenso mit Bravur. Ohne auf ein falsches Wort hereinzufallen, erkannte Price problemlos alle 50 Begriffe wieder, die sie zuvor gesehen hatte. Bei weniger strukturierten Tests wie etwa dem freien Aufsagen gelernter Wortlisten schnitt sie dagegen weit unterdurchschnittlich ab. Über sich selbst sagt sie, sie verlege regelmäßig ihre Schlüssel und schreibe sich im Alltag viele Dinge auf, um sie nicht zu vergessen. Auch ihre Intelligenz ist nur durchschnittlich. Auffallend schwer tut sich Price mit Tests zu den so genannten exekutiven Funktionen – abstraktes, vorausschauendes Denken liegt ihr nicht. Dementsprechend hatte sie auch in ihrer Schulzeit nie herausragende Noten, musste stets viel büffeln und konnte sich nach eigenen Angaben Gedichte oder historische Daten nur schwer merken.

2006 machte McGaugh den Fall Price schließlich erstmals publik. Um ihre Anonymität zu wahren, bezeichnete er sie in seiner Studie zunächst nur mit dem Kürzel "AJ". Wenig später trat Price jedoch selbst an die Öffentlichkeit, erzählte ihre Geschichte in zahlreichen Fernsehshows und schrieb am Ende sogar ein Buch über ihr Leben mit dem außergewöhnlichen Gedächtnis. Somit ist Jill Price nicht nur die erste, sondern auch mit Abstand die bisher bekannteste Person mit Hyperthymesie. Warum sie sich so gut erinnern kann, wissen die Forscher trotz der Vielzahl von Tests nicht genau.

Anders als Gedächtnisstörungen ist ein derart herausragendes Erinnerungsvermögen bis dahin kaum untersucht worden – und wenn, dann höchstens im Zusammenhang mit Menschen, die besondere Techniken anwendeten, um sich eine große Zahl belangloser Dinge wie Straßenpläne oder die Zahl Pi auf mehrere tausend Nachkommastellen zu merken. Darüber hinaus gab es auch keine geeigneten standardisierten Testverfahren für Menschen wie Jill Price, weshalb die Forscher sie hauptsächlich mit Methoden untersuchten, die eigentlich für Patienten mit Gedächtnisstörungen gedacht waren.

Anormale Hirnentwicklung?

In den Tests, in denen sie gut war, traten daher oft so genannte Deckeneffekte auf: Die Aufgaben waren schlicht zu einfach. Price löste sie, ohne an ihre Grenzen zu stoßen, erreichte bei manchen ein perfektes Ergebnis. So konnte McGaugh damals nur vermuten, dass ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten auf eine anormale Entwicklung ihres Gehirns zurückzuführen seien. Mitte 2012 tasteten sich nun Forscher um Brandon Ally von der Vanderbilt University in Nashville an diese Frage heran. Sie wollten herausfinden, was das Gedächtnis von Menschen wie Jill Price neuronal betrachtet so einzigartig macht. Dazu untersuchten sie einen Probanden, der über die gleichen beeindruckenden Fähigkeiten wie Price verfügt. Der 20-jährige "HK" besitzt ebenfalls ein überlegenes autobiografisches Gedächtnis, litt jedoch als Kleinkind an einer Frühgeborenen-Retinopathie, in deren Folge er vollkommen erblindete. Trotzdem erinnert er sich an jeden Tag aus seinem Leben, seit er 13 Jahre alt ist.

Wie Price ruft er die Erinnerungen nicht bewusst herbei, sondern sie kommen förmlich über ihn. Immer sind sie lebhaft und reich an Sinneseindrücken. Während Price die Vergangenheit "wie einen Film" vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen sieht, dominieren bei dem blinden HK vor allem Geräusche, Gerüche und Gefühle. Wie Price ist auch HK weder überdurchschnittlich intelligent noch kann er besonders gut Dinge auswendig lernen – nur sein autobiografisches Gedächtnis sticht hervor. Um zu klären, warum das so ist, nahmen Ally und seine Kollegen das Gehirn von HK mittels struktureller Magnetresonanztomografie (MRT) ins Visier.

Verglichen mit 30 anderen jungen Männern ohne besonderes autobiografisches Gedächtnis besaß HK insgesamt weniger weiße und graue Hirnsubstanz. Die Forscher führten das auf seine frühe Krankheit zurück. Im Verhältnis zum gesamten Gehirn deutlich vergrößert war dafür seine rechte Amygdala, die 20 Prozent mehr Volumen einnahm als bei den Kontrollprobanden. Und das, obwohl viele andere Hirnareale unterhalb der Großhirnrinde – wie etwa die Basalganglien – im Verhältnis zum gesamten Denkorgan verkleinert erschienen.

Intensive Verknüpfung fördert das Gedächtnis

Zudem zeigte sich bei HK eine um ein Vielfaches stärkere Vernetzung der rechten Amygdala mit dem Hippocampus und anderen kortikalen und subkortikalen Regionen. Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems und vor allem für die emotionale Verarbeitung von Informationen zuständig. So verknüpft sie bestimmte Reize etwa mit Emotionen wie Angst, und Schädigungen an ihr führen dazu, dass das Furchtempfinden merklich gestört wird. Da die Amygdala bei HK derart ausgeprägt und besonders gut vernetzt ist, vermuten Ally und seine Kollegen, dass sie eine entscheidende Rolle bei Menschen mit außergewöhnlichen Gedächtnisleistungen spielt.

Psychologen und Hirnforscher wissen seit Langem um die Wichtigkeit von Gefühlen für unser Merkvermögen: An emotional Bedeutsames erinnern wir uns deutlich besser als an neutrale Reize. Vieles spricht dafür, dass die Amygdala die persönlichen Erinnerungen von HK besonders mit Emotionen "auflädt" und ihnen so eine große persönliche Relevanz verleiht. Zudem scheint dieses System bei ihm hyperaktiv zu sein, weshalb er Informationen effizienter verarbeiten und abspeichern kann als andere Menschen. Unklar blieb derweil, ob sich die Befunde auf andere Menschen mit Hyperthymesie übertragen lassen. Denn theoretisch könnten einige der beobachteten neuronalen Veränderungen auch schlicht aus der Tatsache resultieren, dass HK blind ist und sein Gehirn sich im Lauf der Zeit an diesen Umstand angepasst hat.

James McGaugh ließ die Frage nach der Ursache des außergewöhnlichen autobiografischen Gedächtnisses in den vergangenen Jahren nicht los. Um eine Studie mit mehr Aussagekraft durchführen zu können, galt es zunächst, mehr Testpersonen mit HSAM zu identifizieren. Das Team um McGaugh entwickelte dafür ein eigenes Testverfahren. An potenziellen Probanden mangelte es den Wissenschaftlern nicht – nach der Veröffentlichung ihrer ersten Studie im Jahr 2006 hatten sich mehr als 100 Menschen bei ihnen gemeldet, die von sich behaupteten, ein ähnlich perfektes Gedächtnis zu besitzen. Die Forscher unterzogen ihre Versuchsteilnehmer zunächst telefonisch einem mehrstufigen "Quiz" – und filterten so insgesamt zehn neue HSAM-Probanden heraus.

McGaugh lud sie in sein Labor ein, um ihr Gedächtnis und ihre Intelligenz noch einmal detailliert zu überprüfen und ihr Gehirn im Magnetresonanztomografen zu vermessen. Für jede Untersuchung stellten McGaugh und seine Kollegen zudem eine passende Kontrollgruppe aus Menschen mit normalen Gedächtnisfähigkeiten zusammen. Die kognitiven Tests glichen im Großen und Ganzen denen, die die Forscher bereits zwischen 2000 und 2006 Jill Price hatten absolvieren lassen. So mussten die Probanden etwa Gesichter erkennen, Zahlenfolgen auswendig lernen und rückwärts aufsagen, abstrakte Bilder nachzeichnen und gehörte Geschichten wiederholen. Wie Jill Price zuvor schnitten auch die neuen HSAM-Probanden nur in wenigen Tests besser ab als die Kontrollpersonen, die meisten Aufgaben bewältigten sie absolut durchschnittlich. Unter den Betreffenden gab es jedoch auffallend viele Linkshänder. Außerdem neigten fast alle HSAM-Probanden zu zwanghaftem Verhalten. Sie horteten bestimmte Dinge wie CDs oder Spielzeuge aus ihrer Kindheit und ordneten diese nach teils komplizierten Regeln. Einige von ihnen gaben auch an, ungern Türklinken anzufassen oder Besteck im Restaurant zu benutzen – aus Angst vor Keimen.

Schaltstelle temporaler Pol

McGaughs Team fand im Gegensatz zu den Forschern um Ally keine Veränderungen der Amygdala bei den Betreffenden – stattdessen entdeckte es in insgesamt neun anderen Regionen Unterschiede zur Kontrollgruppe. Die meisten dieser Areale befanden sich im Schläfenlappen des Großhirns – wie etwa der inferiore und der mediale temporale Gyrus oder der temporale Pol. Viele dieser Regionen hatten sich bereits in früheren Studien als bedeutsam für das autobiografische Erinnerungsvermögen erwiesen. Für den Psychologen Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld ist es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet der temporale Pol eine wichtige Rolle spielt: "Hier endet der so genannte Fasciculus uncinatus, ein Strang von Nervenfasern, der das Frontalhirn mit dem Schläfenlappen verbindet. Dieser Trakt hat eine Schlüsselfunktion beim autobiografischen Gedächtnis.

Beispielsweise gibt es eine Fallstudie eines Patienten, der bei einem Rennradunfall eine selektive Schädigung des Fasciculus uncinatus erlitt. Er konnte sich in der Folge kaum noch an Episoden aus seinem Leben erinnern. Sein semantisches Gedächtnis – sein Weltwissen also – war dagegen weit gehend intakt." Interessanterweise war neben einigen anderen Hirnverknüpfungen ebendieser Fasciculus uncinatus bei den HSAM- Probanden von McGaugh besonders stark ausgebildet. Da der Forscher in seiner Studie die Gemeinsamkeiten mehrerer Betroffener mit Kontrollprobanden verglich, scheinen seine Ergebnisse verlässlicher zu sein als die von Ally.

Auch Gedächtnisforscher Hans Markowitsch, der derzeit selbst einen Fall von HSAM untersucht, überzeugen die neuesten Befunde: "Die Verbindung frontaler Hirnbereiche mit dem temporalen Pol hat sich bei Studien mit Amnesiepatienten als besonders wichtig für den Abruf aus dem autobiografischen Gedächtnis herausgestellt – wichtiger noch als die Amygdala und ihre Verbindungen zum Hippocampus." Abgeschlossen ist die Suche nach der Ursache des außergewöhnlichen autobiografischen Gedächtnisses aber noch nicht. Denn auch McGaugh weiß um die Schwächen seiner Studie, die weitere Forschung notwendig machen.

Grundsätzlich unklar bleibt bislang zudem, ob die beobachteten Hirnveränderungen tatsächlich die Ursache für das gesteigerte Erinnerungsvermögen darstellen – oder ob es nicht eher umgekehrt ist: Hat sich das Gehirn vielleicht erst auf Grund der außergewöhnlichen Gedächtnisleistung und der regelmäßigen Nutzung dieser Fähigkeit verändert? Um das zu beantworten, wollen sich McGaugh und seine Kollegen künftig vermehrt auf die Untersuchung von Kindern mit HSAM konzentrieren.

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  • Quellen

Quellen

Ally, B. A. et al.: A Case of Hyperthymesia: Rethinking the Role of the Amygdala in Autobiographical Memory. In: Neurocase 10.1080/ 13554794.2011.654225, 2012

LePort, A. K. R. et al.: Beha­vioral and Neuroanatomical Investigation of Highly Superior Autobiographical Memory (HSAM). In: Neurobiology of Learning and Memory 98, S. 78–92, 2012

Parker, E. S. et al.: A Case of Unusual Autobiographical Remembering. In: Neurocase 12, S. 35–49, 2006


Literaturtipp

Price, J.: Die Frau die nichts vergessen kann. Leben mit einem einzigartigen Gedächtnis. Kreuz, Freiburg 2009

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