Elche in Deutschland: Ein Hüne auf dem Vormarsch
Ein Elch verirrt sich in eine Dresdner Kantine, wird betäubt und wieder ausgesetzt. Ein weiterer rennt auf der A3 in Niederbayern in ein Auto. Medienstar Knutschi wandert bis nach Hessen. Und ein Jungbulle zeigte sich kürzlich einer Spaziergängerin bei Greifswald in nur 30 Metern Entfernung. Alces alces, der Europäische Elch, ist mittlerweile mehr als eine Randerscheinung und bringt echte Größe in die heimische Fauna. Zwar ist er ein gutes Drittel leichter als sein amerikanischer Verwandter und trägt statt der bekannten Schaufeln meist ein Stangengeweih. Doch mit bis zu 2,30 Meter Schulterhöhe überragt er den Rothirsch bei Weitem – und ist mit 500 Kilogramm Körpergewicht doppelt so schwer.
Ursprünglich bewohnte der Elch die gesamte bewaldete Zone der Nordhalbkugel, bis der Mensch seinen Bestand stark dezimierte. Im heutigen Bundesgebiet war der Großhirsch über 150 Jahre ausgerottet: Zwischenzeitliche Stippvisiten endeten zu DDR-Zeiten vor der Mündung eines Jagdgewehrs. Mittlerweile hat der Elch in China, Russland, Nordskandinavien und vielen osteuropäischen Ländern wieder Fuß gefasst. In Polen steht er seit dem Jahr 2001 sogar ganzjährig unter Schutz. Von dort aus wagen immer häufiger Tiere den Schritt gen Westen: "Heute zählt man bundesweit bis zu 20 Sichtungen jährlich", berichtet Wildbiologe Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier Stiftung.
Über Polen gelangen die Tiere nach Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen, meist aber nach Brandenburg. Lässt sich hier einer der großen Vierbeiner blicken, wird Ina Martin vom Thünen-Institut für Waldökosysteme in Eberswalde benachrichtigt. Nach einigen Jahren der Steigerung wirkt der Bestand zurzeit stabil: "Wir haben unsere drei Pappenheimer in ihren Stammgebieten", schildert die Biologin, "die anderen wandern nach einiger Zeit zurück in östliche Richtung." Meldungen über hier geborene Jungtiere sieht sie kritisch: Die Kälber waren so groß, dass sie auch mit dem Muttertier die Grenze hätten queren können. Allerdings verweist sie auf den steigenden Populationsdruck im östlichen Nachbarland. Dort sind die Bestände innerhalb der letzten zwei Jahre von 16 000 auf 28 000 Tiere angestiegen: "Das kann zu einer verstärkten Westwanderung führen."
Lässt sich ein Elch im Bayerischen Wald blicken, stammt er aus einer verinselten, etwa 20 Tiere zählenden Population am tschechischen Moldaustausee. Diese wiederum besteht nur, da regelmäßig Elche aus anderen Gebieten zuwandern. Tatsächlich ziehen Elche oft über weite Strecken: In der Regel legen sie 10 bis 15 Kilometer am Tag zurück, doch sie schaffen auch ein Mehrfaches. Als hervorragende Schwimmer können sie im Wasser Entfernungen von 20 Kilometern zurücklegen und meistern auch starke Strömungen. Sie überspringen Zäune von bis zu zwei Meter Höhe. Meist sind es junge, geschlechtsreife Bullen, die sich auf den Weg machen. Anderthalb bis zwei Jahre alt, können sie mit den männlichen Alttieren nicht konkurrieren und erschließen auf der Suche nach Geschlechtspartnern neue Streifgebiete. Doch da Elche gewöhnlich Einzelgänger und verstärkt in der Dämmerung unterwegs sind, bleiben sie für den Menschen meist unsichtbar.
Der regionale Elchbeauftragte Reiner Karsch ist den Tieren auf der Spur: Er überprüft Meldungen von Jägern und Spaziergängern, indem er nach Verbissspuren, Losung und mächtigen Schalenabdrücken sucht. Seit einiger Zeit bemerkt er einen Aufwärtstrend: "Im letzten Jahr hat sich das Verbreitungsgebiet insgesamt vergrößert, und wir scheinen zwei bis drei standorttreue Tiere zu haben." Zweimal schon fand sich zur Brunftzeit ein Pärchen, doch bislang stellte sich kein Nachwuchs ein.
Ein hungriger Trughirsch
Im Naturpark Bayerischer Wald profitieren die Tiere von scheinbarer Verwüstung. Windwurf und Borkenkäfer haben die Fichtenwälder vielerorts stark gelichtet, graues Totholz und öde Berghänge hinterlassen. Doch auf den Kahlflächen gedeihen Kräuter, Büsche und junge Bäume wie Weide, Aspe oder Eberesche und bieten einen reich gedeckten Tisch: "Der Elch ist ein Katastrophenfolger", formuliert Karsch treffend. Denn es reicht dem Elch nicht, wie der Rothirsch auf einer Wiese zu äsen und notfalls im dichten Wald Rinde zu schälen. Als so genannter Trughirsch entspricht er einem zu groß geratenen Reh. Er benötigt Knospen, Blättchen, Kräuter und frische Triebe – eiweißreiche und leicht verdauliche Nahrung, die vor allem im Offenland gedeiht. Davon vertilgt er etwa zehnmal so viel wie sein kleiner Verwandter: Im Winter benötigt er zehn Kilogramm täglich, im Sommer mindestens das Doppelte, und eine laktierende Elchkuh bringt es im Sommer auf 40 Kilogramm.
Um die zartesten Triebe zu erreichen, kann der Elch bis zu vier Meter hohe Jungbäume zu Boden drücken. So erfüllt er die ökologische Funktion, Brachflächen länger offen zu halten – das schafft Raum für spezielle Biotope mit Licht liebenden Kräuterarten. Bietet die Region nicht mehr ausreichend Nahrung, zieht er weiter: Dadurch verbreitet er über sein Fell Pflanzensamen über weite Distanzen. Dennoch übernutzt er die Vegetation bisher nicht: "Die Elche, die bei uns vorkommen, bewegen sich meist in etwa 15 Quadratkilometer großen Streifgebieten", weiß Karsch.
"Der Elch ist ein Katastrophenfolger"Rainer Karsch, Elchbeauftragter
Doch der Elch benötigt mehr als nur Frischkost, schildert Ina Martin: "Er lebt im Wechsel aus Wald und halb offenen Landschaften. Neben ausreichend Nahrung braucht er Deckung, um sich zurückziehen zu können und Jungtiere sicher zur Welt zu bringen." Zwar ist der hochbeinige Großhirsch äußerst wehrhaft; auch die Elchkuh verteidigt sich und ihr Kalb mit effektiven Huftritten. Doch nach Möglichkeit geht er jeglichem Stress aus dem Weg. Zudem benötigt er Feuchtflächen, um sich im Sommer abzukühlen: "Bei Wärme bekommt er schnell Kreislaufprobleme. Und das Wasser schützt ihn vor Insekten und Parasiten." Um auf morastigem Grund nicht einzusinken, hat er spreizbare Hufe und eine so genannte Schwimmhaut zwischen den Schalen – und für nahrhafte Wasserpflanzen kann er unter Wasser äsen und bis zu sechs Meter tief tauchen. In trockenen Kiefernforsten wird der Elch kaum heimisch. In von Wasser durchzogenen Regionen wie Lausitz, Schorfheide oder Müritz hingegen könnte er sich wohl fühlen. Martin rät, den Elch nicht zu unterschätzen: "Womöglich wird er auch mit unserer Kulturlandschaft zurechtkommen."
In diesem Fall wird der Elch auch Spuren in der Fichtenschonung oder im Rapsfeld hinterlassen. Das schürt schon jetzt den Unmut bei ortsansässigen Land- und Forstwirten, aber auch in der Jägerschaft. Denn die bisherige Regelung der Schadensfälle lässt zu wünschen übrig. Derzeit zählt der Elch zum jagdbaren Wild mit ganzjähriger Schonzeit. Das heißt, der Jäger darf ihn nicht erlegen – muss aber für die von ihm verursachten Schäden aufkommen: "Da würden einige sicher die Gelegenheit nutzen, um illegal den Elch ihres Lebens zu schießen", mutmaßt Karsch. Die Länder Bayern und Brandenburg haben Managementpläne für den vierbeinigen Zuzügler erstellt, doch dieser Punkt wurde bislang nicht geklärt. Solange kein Handlungsbedarf besteht, mahlen die Mühlen der Behörden langsam.
Tatsächlich ist in Bayern erst ein Schadensfall aufgetreten – vor zwei Jahren beglich der Landesjagdverband die geforderten 100 Euro. Und verglichen mit gut 200 000 Rothirschen, mehreren hunderttausend Wildschweinen und zweieinhalb Millionen Rehen in Deutschland machen einige Elche keinen signifikanten Unterschied. Im Einzelfall allerdings schon, erklärt Kinser: "Waldbauern leben von 20 Hektar Wald. Wenn da ein Elch reingeht, kann der hinterher schon anders aussehen. Deswegen brauchen wir eine schnelle und unkomplizierte Regelung."
Gefahr beim echten Elchtest
Auch das dichte Straßennetz kann zum Problem werden: Sieht sich der Hüne des Waldes urplötzlich einem Feind mit leuchtenden Scheinwerfern gegenüber, bleibt er erst einmal stehen und wartet ab. Tatsächlich stirbt ein großer Teil der vierbeinigen Zuzügler den Tod im Straßenverkehr. Auch für den Menschen ist die Kollision riskant: Elche sind so groß, dass sie durch den Zusammenstoß im ungünstigen Fall durch die Windschutzscheibe brechen können. "Die Wildzäune an Autobahnen sind 1,60 Meter hoch – im Elchgebiet reicht das nicht", kritisiert Karsch. Und er gibt zu bedenken: "Drei Fahrer konnten dieses Jahr einen Elchunfall vermeiden. Alle fuhren mit gemäßigter Geschwindigkeit. In Schweden empfiehlt man auf Landstraßen 70 Stundenkilometer." Auch gemähte Randstreifen entschärfen die Situation, da Fahrer die Tiere schneller erkennen und die Geschwindigkeit drosseln können. Besonders hilfreich sind Grünbrücken: Das Wild folgt üblicherweise festen Wanderrouten, die sich so vernetzen lassen. Hiervon profitieren nicht nur der Elch, sondern auch viele weitere Tierarten.
Noch ist der Elch nicht weit über die Bundesgrenzen hinausgekommen. Viele machen kehrt vor großen Verkehrswegen. Andere möglicherweise, weil die Suche nicht die erwünschten Lebensräume oder Geschlechtspartner liefert. Neben dem Straßenverkehr können ihm warme Sommer oder Krankheiten zu schaffen machen, und auch ein Wolfsrudel kann mit Glück ein Kalb oder ein geschwächtes Alttier reißen. Doch Kinser ist optimistisch: "Früher hätte man sich nicht vorstellen können, dass sich der Wolf so erfolgreich etabliert. In zehn Jahren wird der Elch in einigen Bundesländern sicher Teil der örtlichen Fauna sein." Bislang steht der Großteil der Bevölkerung dem urigen Hünen mit Kinnbart und wulstiger Oberlippe positiv gegenüber, so Kinser: "Hier haben viele einen Elchaufkleber auf dem Auto, wenn sie mal in Schweden gewesen sind. Er gilt als Sympathieträger, als friedlicher Riese." Tatsächlich lassen sich Elche verhältnismäßig leicht zähmen – der Mensch hat sich diese Eigenschaft nie zu Nutze gemacht, da die Tiere anfällig für Parasiten sind.
Dennoch: Wer einem Elch Auge in Auge gegenübersteht, sollte Respekt vor dem Wildtier bewahren. Ina Martin rät, den Hund anzuleinen und in Ruhe kehrtzumachen: "Einen Elch sollte man nie bedrängen. Vor allem ein Bulle in der Brunft oder ein Muttertier mit Kalb könnten aggressiv reagieren." Diese Begegnungen sind jedoch rar: Elche wittern feiner als Hunde, hören den Menschen über eine Entfernung von drei Kilometern kommen – und ziehen sich gemächlich ins Unterholz zurück.
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