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News: Ein Tabu soll fallen

Sexuelle Gewalt - immer noch ein sensibles Thema, das leider viel zu häufig tabuisiert wird. Zu groß ist die Scham und die Angst der Opfer, um offen über ihr Leiden zu sprechen oder um Hilfe zu bitten. Die in der Bevölkerung weit verbreiteten Vorurteile gegenüber Vergewaltigungsopfern tragen nicht dazu bei ihr Schweigen zu beenden. Daher appellierten Frauenärzte auf dem 53. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, dieses Tabu zu brechen. Die Mediziner legten Ergebnisse umfangreicher Untersuchungen vor und diskutieren, wie sie betroffenen Frauen besser helfen können.
"Frauenärztinnen und Frauenärzte müssen sich sexuell missbrauchter Mädchen und Frauen annehmen", fordert Günther Kindermann von der Frauenklinik der Ludwig Maximilians-Universität in München. Um das Ausmaß des vielfach verschwiegenen und gesellschaftlich tabuisierten Leides öffentlich zu machen, das auch in der Frauenheilkunde bislang nur äußerst selten thematisiert wurde, präsentierten er und seine Kollegin Ursula Peschers auf dem 53. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in München erstmals die Ergebnisse der bislang weltweit größten Studie an Opfern von Sexualdelikten.

Die Untersuchung von über 3000 Mädchen und Frauen in den Jahren 1967 bis 1983 belegte Trauriges: Mehr als die Hälfte der Opfer war jünger als 16, jedes fünfte sogar jünger als elf. Aber auch ältere Frauen bleiben nicht verschont. Über 1,5 Prozent der Opfer waren älter als 55 Jahre. "Weder Alter noch Jugend schützen vor sexuellem Missbrauch", so Peschers. Erschreckend ist aber auch die Erkenntnis, wie häufig der Täter aus der näheren Umgebung stammt: Zwei Drittel der Opfer kannten ihn, und jedes fünfte war sogar mit ihm verwandt. "Diese Zahlen belegen, dass sexuelle Gewalt am häufigsten innerhalb der Familie oder im näheren Bekanntenkreis vorkommt", erklärt die Frauenärztin. Eine Vergewaltigung durch Fremde ist dagegen mit 39,5 Prozent deutlich seltener.

Die Studie zeigte aber auch, dass eine Vergewaltigung nicht notwendigerweise mit körperlichen Verletzungen einhergehen muss: In nur etwa zehn Prozent der Fälle konnten die Ärzte körperliche Folgen diagnostizieren. Auch in der Befragung der Frauen berichteten nur etwa ein Viertel vom aggressiven Verhalten des Angreifers – wie Schläge, Beschimpfungen und Bedrohen mit einer Waffe. "Das Nichtvorhandensein von körperlichen Verletzungen schließt aber eine Vergewaltigung nicht aus", betont Peschers.

Da Frauenärzte jeden Tag mit Frauen zu tun haben, die Opfer sexueller Gewalt sein könnten, "sollten sie sich nicht nur mit der korrekten Untersuchung nach Sexualdelikten auskennen, sondern diesen Frauen auch besonders sensibilisiert entgegentreten und ihnen Unterstützung anbieten", appelliert sie an ihre Kollegen. Denn diese Unterstützung suchen die Betroffenen oft. Laut ihrer Studie hätte jede Dritte gerne die Hilfe des Arztes in Anspruch genommen, aber nur etwa fünf Prozent hatte sich getraut, das Thema anzusprechen.

Aber das Gespräch und die Verarbeitung der erlebten Gewalt ist wichtig, da sexueller Missbrauch in der Kindheit zu einer Traumatisierung mit gesundheitlichen Langzeitfolgen führen kann. Nicht selten treten gynäkologische Erkrankungen und Störungen auf. "Darum sollte man sexuelle Gewalt bei gynäkologischen Störungen immer in Erwägung ziehen", erklärt die Frauenärztin Kornelia Schönfeld. Der Arzt sollte helfen, "dass die Frauen Hilflosigkeit und Scham abbauen, Lebensqualität zurückgewinnen und langfristig gesund werden".

Sensibilität ist gefragt und Unterstützung, denn häufig genug sind vergewaltigte Mädchen und Frauen nicht nur die Opfer der Täter, sondern auch der Gesellschaft – ihrer Vorurteile und sexistischen Einstellungen. "Sie hat es doch so gewollt!" oder "Selber schuld!" sind häufig verwendete Aussagen, wie auch: "Männer können ihre Sexualität nicht kontrollieren!" "Vergewaltigungsmythen", nennt Gerd Bohner, Psychologe an der University of Kent, solche typischen Vorurteile. "Diese tragen", so der deutsche Forscher auf dem Kongress in München, "zur Rechtfertigung sexueller Gewalt bei, halten ein Klima aufrecht, das die Gewalt begünstigt, und leisten der sekundären Viktimisierung der Opfer Vorschub."

Doch woher kommen solche Vorurteile? Generell, meint Bohner, dienen sie "der Aufrechterhaltung des Glaubens an eine gerechte Welt". Denn wenn das Opfer selbst schuld, der Täter hingegen unschuldig und selbst Opfer ist, bleibt die Welt heil. Bei Frauen scheinen diese Mythen noch eine weitere Funktion zu haben: Wenn sie daran glauben, dass die Opfer durch "Fehlverhalten" selbst schuld sind und dass "normale" Männer keine Bedrohung darstellen fühlen sie sich weniger gefährdet, da sie sich nur "richtig" verhalten müssen, um nicht Opfer zu werden.

Die Studien des Psychologen zeigten aber auch, dass die Mythen nicht nur in der Bevölkerung weitestgehend akzeptiert sind, sondern auch unter jenen Menschen verbreitet sind, die professionell mit Vergewaltigungsopfern zu tun haben: wie Polizei, Justiz und Ärzten. Vergewaltigungs-Mythen erschweren die Prävention sexueller Gewalt und diskriminieren die Opfer zusätzlich, so Bohner.

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