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Protein-Stammbaum: Ein unsichtbares Netzwerk steuert die Evolution

Ein Protein-Stammbaum über 400 Millionen Jahre zeigt, wie sich die Bausteine der Zelle durch die Evolution verändern. Ein uraltes Erbe scheint diesen Prozess zu steuern.
Ein abstraktes digitales Kunstwerk zeigt ein Netzwerk aus miteinander verbundenen Linien und Punkten. Die Linien sind in Blau- und Orangetönen gehalten und bilden ein komplexes geometrisches Muster, das an neuronale Netzwerke oder Datenverbindungen erinnert. Der Hintergrund ist dunkel, was die leuchtenden Farben der Linien und Punkte hervorhebt und dem Bild eine futuristische und dynamische Atmosphäre verleiht.
Hinter den komplexen Funktionen von Zellen stecken chemische Reaktionsnetzwerke, deren Erbe bis zum Ursprung des Lebens zurückreicht.

Ein unsichtbares Netz aus chemischen Reaktionen bestimmt darüber, wie die Evolution abläuft. Das ist das Ergebnis einer umfassenden Untersuchung von über 11 000 Proteinstrukturen von 26 Hefearten, deren gemeinsamer Stammbaum 400 Millionen Jahre zurückreicht. Wie ein Team um Markus Ralser von der Charité-Universitätsmedizin Berlin nun in der Fachzeitschrift »Nature« berichtet, entscheidet die Position eines Proteins innerhalb dieses Netzwerks darüber, wie stark es sich im Lauf der Zeit verändert. Demnach sind Enzyme im Zentrum des Stoffwechsels und solche, die Metalle binden, evolutionär am stärksten eingeschränkt. Dagegen verändern sich Enzyme für weniger essenzielle oder gar spezialisierte Funktionen schneller. Doch auch diese bleiben an chemisch ähnliche Reaktionen gebunden. Während das Resultat für sich genommen nicht überraschend ist, demonstriert die Stabilität dieses Musters über hunderte Jahrmillionen, wie stark die Chemie der Zelle die Evolution ihrer Proteine bestimmt.

Fachleute versuchen schon lange zu entschlüsseln, welche Faktoren die Evolution von Enzymen und damit des Lebens selbst bestimmen. Diese »Maschinen« der Zelle erfüllen nahezu alle ihre Funktionen und haben eine genau festgelegte dreidimensionale Struktur, die für ihre Funktion entscheidend ist. Die Arbeitsgruppe um Ralser nutzte die KI Alphafold2, um aus unzähligen Gensequenzen die genauen dreidimensionalen Strukturen der Proteine zu ermitteln. Anhand von Vergleichen identifizierte sie evolutionäre Muster innerhalb des verzweigten Stammbaums der Saccharomycotina, jener Gruppe, zu der auch die Bäckerhefe gehört. Entscheidend für die Funktion eines Enzyms ist derjenige Teil der Struktur, der Moleküle bindet und sie geordnet in andere umwandelt. Andere Abschnitte sind wichtig für die Faltung des ursprünglichen Kettenmoleküls zur korrekten dreidimensionalen Struktur, für die Bindung der Proteinteile untereinander oder an andere Proteine.

Das Team stellte dabei fest, dass die Oberflächen und strukturellen Teile der Proteine am stärksten evolvieren. Die Funktion dieser Bereiche ist weniger spezifisch, so dass sich einzelne Bausteine von ihnen leichter austauschen lassen. Ein wichtiger Faktor sind Kosten. Die für die Zelle billigsten Aminosäuren – Glycin, Glutamat und Alanin – sind dadurch besonders an den Oberflächen der Proteine angereichert, und jene Proteine, von denen die Zelle ausgesprochen viel produziert, enthalten sehr viele billige Bausteine. Dagegen spielen Kosten im aktiven Zentrum, wo die entscheidende Reaktion abläuft, keine Rolle. Tatsächlich erwiesen sich die aktiven Zentren als bemerkenswert stabil. Wie die Gruppe um Ralser schreibt, sind diese Bereiche stark konserviert – und wenn ein Enzym doch seine Funktion ändert, dann nur hin zu einer ganz ähnlichen chemischen Reaktion.

Dieser Konservatismus der Proteine über 400 Millionen Jahre Evolutionsgeschichte gibt einen aufschlussreichen Einblick in die Natur der Evolution selbst. Der Zellstoffwechsel besteht aus Ketten von chemischen Reaktionen. Jede von ihnen wird durch ein Enzym durchgeführt – dieses stellt so Ausgangsstoffe für den nächsten Schritt der Kette bereit. Diese Reaktionspfade sind auf extrem komplizierte Weise miteinander verflochten. Es ist eine zentrale Frage der Evolutionsbiologie, ob das Netzwerk der chemischen Reaktionspfade das Ergebnis der Evolution der Enzyme ist und sich mit ihr verändert – oder ob die Enzyme entlang uralter chemischer Reaktionsfolgen evolvieren, die womöglich auf den Ursprung des Lebens selbst zurückgehen. Die Ergebnisse des Teams um Ralser stützen die zweite Hypothese: Das chemische Netzwerk des Lebens ist demnach ein gemeinsames Erbe aus grauer Vorzeit, an das die Evolution nur neue Komponenten anbaut.

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  • Quellen
Ralser, M. et al., Nature 10.1038/s41586–025–09205–6, 2025

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