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News: Ein Wachstumsfaktor repariert Nervenzellen

IGF-I - ein Wachstumsfaktor, der dem Insulin ähnelt - kann in Petrischalen die Bildung einer neuen Myelinschicht um isolierte Nervenzellen stimulieren. Aus den Ergebnissen könnten neue Behandlungsformen für Multiple Sklerose, diabetische Neuropathie und amyotrophische laterale Sklerose hervorgehen.
Nervenzellen haben die Aufgabe, Reize aufzunehmen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Diese grobe Unterteilung spiegelt sich auch in ihrem Aufbau: Stark verzweigte Fortsätze, die Dendriten, nehmen von verschiedenen Stellen Signale auf und leiten sie als elektrische Spannungsänderung zum Zellkörper des Nervs weiter. Dort werden alle Eingänge integriert. Wenn der Gesamteffekt einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, wird am Beginn des ableitenden Fortsatzes, dem Axon, eine Änderung der Membranspannung, das sogenannte Aktionspotential, generiert. Um die Reizleitung möglichst schnell zu machen, sind Axone häufig von einer isolierenden Schicht, der Myelinscheide, umgeben. Diese wird von Schwann-Zellen gebildet, welche sich um die Nervenfaser lagern, wobei sie kleine Zwischenräume, die Ranvier-Schnürringe, freilassen. Das Aktionspotential springt von Ring zu Ring, bis es über Verzweigungen am Axonende zu den Synapsen, den Verbindungen zwischen Neuron und nachfolgender Zelle, gelangt. An den Synapsen werden chemische Substanzen freigesetzt, wodurch in der nächsten Zelle eine Reaktion ausgelöst wird.

Wissenschaftler der University of Michigan haben einen insulinartigen Wachstumsfaktor, IGF-I (insulin-like growth factor) genannt, eingesetzt, um in einer Petrischale das Wachstum einer Myelinscheide zu stimulieren.

Sollten es den Wissenschaftlern um die Neurologin Eva L. Feldman in späteren Experimenten gelingen, IGF-I auch zur Regenerierung von Myelin in Tieren erfolgreich einzusetzen, dann wäre ein weiterer Schritt von außergewöhnlicher Bedeutung gelungen. Schließlich können Neuronen ohne Myelin keine Signale vom Gehirn zu den peripheren Nerven oder umgekehrt von den Nerven zurück zum Gehirn weiterleiten. Feldman und Hsin-Lin Cheng, Forschungsstipendiat an der University of Michigan, stellten am 27. Oktober die ersten Ergebnisse ihrer Experimente mit IGF-I auf der Konferenz der Society for Neuroscience vor.

Im Laufe der letzten zehn Jahre sind Substanzen, die das Wachstum von Nerven, Knochen und Muskelgewebe stimulieren, intensiv erforscht worden. Nach Meinung der Wissenschaftler könnte ein tieferes Verständnis dafür, wie Wachstumsfaktoren die Entwicklung von Nerven beeinflussen, zu neuen Behandlungen für neurodegenerative Krankheiten wie diabetische Neuropathie, Multiple Sklerose und amyotrophische laterale Sklerose (ALS) führen. Die verheerenden Symptome dieser Krankheiten werden dadurch hervorgerufen, daß periphere Nerven degenerieren oder sogar absterben. Von den momentan untersuchten Wachstumsfaktoren scheint IGF-I am wirksamsten die Neubildung von Myelin zu fördern und den Zelltod der Neuronen zu verhindern, glaubt Cheng.

IGF-I erhielt seinen Namen aufgrund struktureller Ähnlichkeit mit Insulin und seiner Fähigkeit, die Glucose-senkenden Eigenschaften des Insulin zu stimulieren. Es wird in der Leber produziert und ist im Blutserum vorhanden. Während der Embryonalentwicklung kommt IGF-I in hohen Konzentrationen in der Nähe der Schwann-Zellen vor. Diese wachsen zu langen Fasern aus und wickeln sich um die Neuronen, wo sie die Myelinscheiden bilden. Mit den Experimenten an der University of Michigan wurde überprüft, ob IGF-I diese Transformation in den Schwann-Zellen auslöst.

Zuerst haben die Wissenschaftler Neuronen aus neugeborenen Ratten isoliert und chemisch die Myelinscheide sowie alle vorhandenen Schwann-Zellen entfernt. Die präparierten Nerven wurden in einer Nährlösung aufbewahrt und mit undifferenzierten Schwann-Zellen aus Rattenembryonen versetzt. Zur Hälfte der Proben wurde IGF-I in hohen Konzentrationen gegeben.

„Nach sechs Stunden begannen die Schwann-Zellen in der IGF-I-Lösung, lange Fühler in Richtung der Rattenneuronen auszustrecken”, erzählte Feldman. „Nach zwölf Stunden hatten sich die meisten Fühler angeheftet und begannen, sich um die Fasern zu wickeln. Nach 48 Stunden besaßen 50 Prozent der Neuronen in den Petrischalen mit IGF-I eine Myelinscheide und sahen genauso aus wie frisch isolierte Rattenganglien. In den Kontrollkulturen ohne IGF-I fand keine Myelinbildung statt."

„Die Ergebnisse deuten darauf hin, daß IGF-I die Bildung von Myelin fördert, indem es eine Reihe biochemischer Veränderungen auslöst, die den Schwann-Zellen helfen, sich zu bewegen und an Nervenfasern anzuheften”, sagte Russell, Dozent für Neurologie und ebenfalls an der Untersuchung beteiligter Forscher.

Nach Aussage von Feldman, arbeiten die Wissenschaftler jetzt daran, die Fähigkeit von IGF-I zu testen, die Myelinproduktion zu stimulieren und Nerven in ausgewachsenen Ratten mit neurologischen Schäden zu regenerieren. „Ein großes Problem ist der zielgenaue Transport des Wachstumsfaktors in die verletzten Bereiche des Tieres”, sagte sie. „Wenn wir eine Methode finden, um die richtige Konzentration von IGF-I an die verletzte Stelle zu transportieren, sind wir vielleicht in der Lage, Nerven zu regenerieren oder sie vor dem Absterben zu bewahren.”

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