Psychiatrie: Eine neue Ordnung für Psychodiagnosen
Eine Studie aus den USA und Australien hat die bekannten psychiatrischen Diagnosen in ihre Einzelteile zerlegt und nach empirischen Kriterien neu zusammengesetzt. Die alten Kategorien, definiert in den Diagnosemanualen DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und ICD (International Classification of Diseases), hatten sich immer wieder als wenig trennscharf erwiesen. Beispielsweise kann sich die Symptomatik bei ein und derselben Diagnose deutlich unterscheiden, und umgekehrt können sich Symptome von Menschen mit unterschiedlichen Diagnosen stark ähneln. Deshalb hat eine Forschungsgruppe ein alternatives Modell der Psychopathologie entwickelt, das sich allein an den von Betroffenen berichteten Symptomen orientiert.
Für Persönlichkeitsstörungen existieren solche Ansätze schon länger, und seit einigen Jahren gibt es auch Versuche, alle psychischen Störungen empirisch zu definieren, etwa mit dem HiTOP-Modell. Doch auch diese Versuche fußten bislang auf den altbekannten Kategorien. Darum wählte die Gruppe um den Psychologen Robert Krueger von der University of Minnesota als kleinste Analyseeinheit nicht Kategorien, sondern Symptome. Diese stammten von zwei Stichproben, darunter rund 3200 Menschen aus der Allgemeinbevölkerung in Australien und rund 1800 Psychiatriepatientinnen und -patienten in den USA. Von beiden zusammen lagen Selbsteinschätzungen für knapp 800 Symptome aus 18 DSM-Diagnosen vor.
Die Angaben zu den einzelnen Symptomen fassten die Forschenden nun nach statistischen Kriterien zu rund 250 Symptomclustern zusammen, etwa »Angst vor der Angst«, »Stimmenhören«, »Suizidpläne« und »Schlafprobleme«. Bei beiden Stichproben tauchte eine ähnliche Struktur auf, sowohl bei den Clustern als auch auf höheren Analyseebenen. Die Cluster ließen sich drei Dimensionen zuordnen: »Denkstörungen«, »Internalisieren« und »Externalisieren«. Zur Dimension »Externalisieren« zählten vor allem Sucht und Substanzmissbrauch sowie impulsives Verhalten. Den Kern der »Denkstörungen« bildeten Psychosen, Manie und Zwangssymptome. Und die Dimension »Internalisieren« umfasste die meisten Probleme, darunter Ängste, Depressionen, Suizidalität, Ärger, Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität.
Die Clusterstrukturen entsprachen zwar weitgehend den bekannten Kategorien, doch mit »einigen bemerkenswerten Abweichungen von der Struktur des DSM«, wie das Team um Krueger berichtet. Beispielsweise werden Zwangssymptome traditionell eher den internalisierenden Ängsten zugeordnet; die Autoren verorteten sie jedoch gleichermaßen bei den Denkstörungen. Die Agoraphobie wiederum, im DSM assoziiert mit der Panikstörung, gesellte sich hier eher zu den sozialen Ängsten und spezifischen Phobien. Und einige Symptome einer klassischen depressiven Episode waren eng verbunden mit anderen Syndromen, zum Beispiel die Schuld- und Versagensgefühle mit sozialen Ängsten.
Ihren Versuch, psychiatrische Diagnosen auf empirische Füße zu stellen, bezeichnet die Forschungsgruppe als »die erste detaillierte Analyse der hierarchischen Struktur von Psychopathologie, die auf Symptomebene ansetzt«. Die Ergebnisse müssten nun an weiteren Stichproben und mit anderen Methoden erneut überprüft und ausgeweitet werden. Unter anderem, weil die Fragen zu Symptomen nur 18 Diagnosekategorien umfassten: »Wenn künftige Studien Persönlichkeitsstörungen und andere Psychopathologien breiter abdecken, könnten andere Strukturen auftauchen«, räumen Krueger und sein Team ein. Doch der erste Schritt, verlässliche und detaillierte Phänotypen der Psychopathologie zu identifizieren, sei getan.
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