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Evolution: Eine prüde Dame

Warum gibt es Sex? Um schnell mit Veränderungen der Umwelt Schritt halten zu können - lautet eine gängige Annahme, die als Red-Queen-Hypothese bekannt wurde. Doch genauere Betrachtungen zeigen, dass die "Rote Königin" dem Sex eher abgeneigt ist.
"Sex ist ein rätselhaftes Phänomen", sagte einst der vor kurzem verstorbene Evolutionsbiologe John Maynard Smith. In der Tat grübeln die Kollegen des berühmten Forschers schon lange darüber nach, warum die meisten Organismen der Erde auf eine sexuelle Vermehrung setzen. Schließlich geht es viel einfacher – und auch schneller –, über schlichte Zellteilung die Ausbreitung des eigenen Genoms sicherzustellen. Doch selbst Bakterien, welche die asexuelle Vermehrung seit der Entstehung des Lebens mit großem Erfolg praktizieren, verzichten nicht ganz auf Sex und tauschen bei Gelegenheit kleine Stücke ihres Erbguts untereinander aus. Wozu diese Liebesmüh?

Als Vorteil des Genaustauschs wird eine schnellere Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen genannt: Werden die Karten des Erbguts neu gemischt, dann steigt die Chance, hierbei für die Lotterie der Selektion das große Los zu ziehen. Schließlich müssen sich die Arten nicht nur an die unbelebte Umwelt anpassen, sondern auch sich ständig mit anderen Lebewesen auseinandersetzen – seien es Konkurrenten, die ihnen Ressourcen streitig machen, oder Beuteorganismen, die ihnen als Leckereien dienen, oder schließlich Räuber, die ihnen nach dem Leben trachten. Dadurch entsteht ein permanenter Wettlauf der Spezies untereinander, wobei die evolutionäre Veränderung der einen Art die Anpassung der anderen antreibt.

Das bedeutet wiederum, dass eine schnelle Veränderung einer Beute, die ihr beispielsweise hilft, sich dem Räuber besser zu entziehen, nur einen kurzzeitigen Vorteil verschafft, da der Räuber hierauf entsprechend schnell reagieren wird. Die beiden Arten rennen also ständig weiter – und kommen nicht vom Fleck. Genauso erging es Alice hinter den Spiegeln in dem gleichnamigen Roman von Lewis Carroll: Als sie in der Märchenwelt auf einem Schachbrett eine rote Dame traf, ließ sie sich mit der Schachfigur auf ein Wettrennen ein. Doch obwohl Alice so schnell rannte, wie sie konnte, kam sie keinen Schritt voran. Zu Ehren des Kinderbuchautors bezeichnete der Evolutionsbiologe Leigh van Valen das Phänomen des fruchtlosen Wettkampfs zweier Arten als "Red-Queen-Prinzip".

Und die "Rote Königin" sollte auch die Entwicklung der sexuellen Fortpflanzung erklären: Der dadurch praktizierte Genaustausch ermöglicht den Arten, sich dem ständigen Wettrennen zu stellen. Doch stimmt das überhaupt?

Sarah Otto und Scott Nuismer waren sich da nicht so sicher. Die beiden Wissenschaftler – Otto arbeitet an der Universität von British Columbia, Nuismer an der Universität von Idaho – kritisieren, dass bisherige Studien nur eine geringe, überschaubare Anzahl an Interaktionen zwischen den Spezies berücksichtigt haben. Sie entwickelten daher ein mathematisches Modell, das die ökologischen Gegebenheiten wesentlich breiter und damit besser widerspiegeln sollte. Darin konnten sie die verschiedenen Stufen der Interaktionen variieren: Konkurrenz, die beide Arten schädigt, Mutualismus, der beiden Arten nützt, und Antagonismus, bei dem die eine Art auf Kosten der anderen profitiert. Die Frage war nun: Wird der Wettkampf Arten vorziehen, die sich häufig sexuell vermehren?

Und das Ergebnis des Computerspiels: Die rote Dame erwies sich als außerordentlich prüde. Bei fast allen Faktorenkombinationen wurde Sex eher herausselektioniert als gefördert. Nur unter der Annahme einer strengen Selektion waren die Arten bevorzugt, die besonders häufig auf die sexuelle Karte setzten.

Otto und Nuismer wollen jetzt die Rote Dame nicht gleich in die Wüste schicken. Doch als alleinige Erklärung für die Erfindung des rätselhaften Phänomens Sex reicht sie ihrer Meinung nach nicht aus.

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