Einzelgänger: Warum leben manche Tiere lieber allein?

Lonesome George, der letzte Vertreter der Pinta-Riesenschildkröten, starb 2012, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Sein einsames Dasein hatten Menschen verschuldet. Sie rotteten seine Artgenossen aus und setzten auf der Galapagosinsel Ziegen aus, die den Lebensraum zerstörten. Doch George störte sich vermutlich kaum daran, allein zu sein. Schildkröten leben meist für sich und treffen sich nur zur Paarung. Das gilt auch für die meisten Reptilien und viele Säugetiere wie etwa Bären, Elche, Tiger, Nashörner, Schnabel-, Faul- und Schuppentiere.
Menschen dagegen sind soziale Wesen und deshalb oft fasziniert von Tiergesellschaften – von Wolfsrudeln bis zu Ameisenkolonien. Um Sozialverhalten zu verstehen, lohnt es sich jedoch, auch die andere Seite betrachten: Weshalb ziehen manche Tiere das Alleinsein vor? Forscher haben dieser Frage bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. »Man interessiert sich vor allem für Arten mit komplexen Gesellschaften«, sagt Carsten Schradin vom Hubert Curien Pluridisciplinary Institute in Straßburg. »Aber wer nicht versteht, warum ein Leben als Einzelgänger oft die bessere Lösung ist, kann auch das Leben in Gemeinschaften nicht vollständig begreifen.«
Sind Säugetiere ursprünglich Einzelgänger?
Lange gingen Biologinnen und Biologen davon aus, dass Einzelgängertum in der Evolution der Tiere der Urzustand war – ein Konzept, das keiner weiteren Erklärung bedürfe. Säugetiere entwickelten sich vor etwa 225 Millionen Jahren aus den sogenannten Cynodonten. Wie diese galten auch die frühen, spitzmausähnlichen Säuger als Einzelgänger – und man nahm an, dass diese Lebensweise bis heute vorherrscht. »Ich bin mit der Auffassung aufgewachsen, dass die meisten Säugetiere Einzelgänger sind, weil sie klein sind«, sagt Schradin. Eine Studie von 2013 schien das zu bestätigen: 68 Prozent der Säugetierarten leben demnach allein.
Doch viele dieser angeblich asozialen Arten wurden nie in freier Wildbahn beobachtet, da sie nachtaktiv oder schwer zu erfassen sind. Schradin wollte es genauer wissen. Gemeinsam mit Lindelani Makuya von der University of the Witwatersrand in Südafrika untersuchte er nur Arten, für die es verlässliche Daten aus natürlichen Populationen gab. Sie identifizierten davon jene, die überwiegend einzelgängerisch leben, also solche, bei denen Männchen und Weibchen allein schlafen und getrennt nach Nahrung suchen. Die Studie aus 2024 zeigte, dass weniger als ein Viertel – nur 131 von 592 Arten – vornehmlich allein leben.
Die seltene Verbreitung der einzelgängerischen Lebensweise deutet darauf hin, dass Einzelgängertum wohl doch nicht die ursprüngliche Lebensform aller Säugetiere war. Fossilien stützen diese Annahme: Vor rund 250 Millionen Jahren lebten frühe Cynodonten in Erdhöhlen, in denen mehrere erwachsene Tiere oder Eltern mit Nachwuchs zusammenfanden – ein klarer Hinweis auf Gruppenleben. Auch Studien an Primaten stützen die These: Der gemeinsame Vorfahr aller Primaten war ein kleiner, nachtaktiver Baumbewohner. Seine nächsten lebenden Verwandten sind Lemuren. Obwohl sie als Einzelgänger gelten, zeigte Schradin mit seinem Team, dass sie ziemlich gesellig sind. Eine Analyse von Felddaten aus 493 Populationen von 215 Primatenarten ergab: Nur drei Prozent der Populationen und sechs Prozent der Arten leben hauptsächlich allein. Manche Arten suchen zwar allein nach Nahrung, teilen sich aber Schlafplätze oder Reviere mit anderen. Daraus schließen die Forscher, dass die frühesten Primaten wahrscheinlich paarweise lebten.
Mehr Nahrung fördert Geselligkeit
Wenn Einzelgängertum nicht die ursprüngliche Lebensweise von Primaten und anderen Säugetieren war, muss es sich als Anpassung auf bestimmte Umweltbedingungen entwickelt haben. Doch welche Faktoren begünstigen diesen Lebensstil? Um das herauszufinden, untersuchten Biologinnen und Biologen auch soziale Tiere, über die sie deutlich mehr wissen.
Eine Erklärung für Gruppenbildung liefert die sogenannte »resource dispersion hypothesis«. Ist Nahrung in bestimmten Gebieten knapp, aber anderswo reichlich vorhanden, versammeln sich viele Tiere in den fruchtbaren Zonen und verteidigen gemeinsam ihre Ressourcen. Ist Nahrung jedoch gleichmäßig verteilt oder schlecht teilbar, fördert das das Alleinleben. Eine Studie von 2024 stützt diese Hypothese. Sie untersuchte das soziale Leben von Mardern und verwandten Arten, die als besonders einzelgängerisch gelten. Joshua Twining, damals an der Cornell University in New York, analysierte mit seinem Team Daten von Kamerafallen, die sieben Arten weltweit erfassten. Sie zählten, wie oft Tiere gemeinsam vor der Kamera auftauchten, und nahmen dies als Maß für deren Geselligkeit. Die Unterschiede waren groß: Der Buntmarder (Martes flavigula) aus Ost- und Südostasien erwies sich als ausgesprochen sozial. Entscheidend war jedoch: Die Geselligkeit hing mit der Verteilung der Nahrung zusammen. Tiere, die auf unregelmäßig verteilte Ressourcen wie Früchte, Insekten oder große Beutetiere angewiesen sind, bildeten eher Gruppen.
Doch dieses Prinzip erklärt nicht alle Unterschiede im Sozialverhalten verwandter Arten, sagt Peter Kappeler von der Universität Göttingen. Seit 30 Jahren beobachtet der Biologe acht Lemurenarten auf Madagaskar. »Sie leben im selben Wald, sitzen buchstäblich in denselben Bäumen. Doch zwei Arten leben in Gruppen, drei paarweise und drei allein«, sagt er. »Vielleicht fressen sie leicht verschiedene Dinge, aber es gibt keinen offensichtlichen Grund für ihre unterschiedlichen sozialen Systeme.«
Ein weiterer oft genannter Grund für Gruppenleben ist Schutz vor Fressfeinden: In der Gruppe ist man sicherer. Allerdings gilt das vor allem für große Tiere, meint Schradin. »Auch wenn 100 Mäuse zusammenleben – gegen einen Schakal oder Greifvogel können sie nichts ausrichten.« Für kleine Tiere ist das Alleinleben oft sicherer, weil sie schwerer zu entdecken sind. Gruppen müssen zudem größere Strecken zurücklegen, um Nahrung zu finden. Einzelgänger kommen mit kleineren Gebieten aus. Das senkt ihr Risiko, beim Umherziehen gefressen zu werden. Selbst diese Theorie erklärt jedoch nicht alles, denn Einzelgängertum kann auch für Raubtiere erfolgreich sein. Schätzungsweise mehr als 80 Prozent der Arten in der Ordnung Carnivora – darunter Katzen, Hunde und Bären – leben allein und kommen nur zur Paarung und Jungenaufzucht zusammen.
Einzelgängertum hat überraschende Vorteile
Laut Schradin und Makuya bietet das Leben Einzelgängern drei wichtige Vorteile: Sie suchen meist in einem kleineren Gebiet nach Nahrung und sparen so Energie. Sie infizieren sich seltener mit Parasiten oder Krankheiten. Und sie vermeiden den Stress sozialer Interaktionen, etwa Konkurrenz um Paarungspartner. Einzelgänger haben deshalb oft bessere Chancen, sich fortzupflanzen. Bei geselligen Arten wie Erdmännchen paaren sich meist nur wenige dominante Tiere.
»Ich glaube, die Geselligkeit von Einzelgängern wird generell unterschätzt«Rick Heeres, Biologe
Einzelgängertum hat nicht bloß verschiedene Ursachen, es gibt auch verschiedene Arten, allein zu leben. So gibt es beispielsweise große Unterschiede, wie aggressiv einzelgängerische Tiere gegenüber anderen Individuen sind. Hamstermütter greifen sogar ihre eigenen, erwachsenen Jungen an und vertreiben sie. Busch-Lamellenzahnratten (Myotomys unisulcatus) sind dagegen viel duldsamer. Sie leben in den Halbwüsten Südafrikas und Namibias und sind ebenfalls meist allein unterwegs. Doch nach der Paarung bilden sie kleine Familiengruppen und bauen Hütten aus Zweigen, die die Jungen von ihren Müttern übernehmen. Tiere, die nahe beieinanderleben, sind häufig verwandt und teilen ihre Futterplätze. »Sie sind sehr tolerant«, sagt Makuya, die sie erforscht. »Dies widerspricht der Annahme, dass Einzelgängerarten allein leben, weil sie aggressiv sind.«
Viele vermeintliche Einzelgänger führen zudem ein verborgenes Sozialleben. Ein höchst überraschendes Beispiel liefert eine Studie zu Pumas: Kamerafallen und GPS-Daten zeigten, dass sie ihre Beute häufig mit nicht verwandten Tieren teilen – und diese sich dann oft revanchieren. Auch Braunbären sind geselliger als gedacht. Ein Team um Rick Heeres von der University of South-Eastern Norway analysierte GPS-Daten von 153 Bären in Schweden. Die meisten sozialen Kontakte konnten die Forscher während der Paarungszeit zwischen Männchen und Weibchen ermitteln. Doch auch außerhalb dieser Zeit gab es Begegnungen – zwischen Männchen, Weibchen und Familiengruppen. »Wenn sie nicht gerade Winterschlaf halten, scheinen sie mit mehreren anderen Tieren Kontakt zu haben«, sagt Heeres. »Aber wir wissen nicht, wieso diese Begegnungen außerhalb der Paarungszeit stattfinden.« Vielleicht beobachten Männchen ihre Rivalen oder prüfen, welche Weibchen bald paarungsbereit sind. Möglich ist auch, dass sie sich an Futterstellen treffen. In Nordamerika passiert das an Flüssen mit Lachsen oder Müllhalden. Solche Orte gab es im Studiengebiet allerdings nicht.
Was wir von Einzelgängern lernen können
»Ich glaube, die Geselligkeit von Einzelgängern wird generell unterschätzt«, sagt Rick Heeres. Vermutlich, weil die Tiere oft so schwer zu beobachten seien. »Außerdem könnten sie auch auf weniger offensichtliche Weise miteinander interagieren, etwa über Duftstoffe oder Laute«, so der Wildtierexperte. »Ich denke, wir können noch erstaunliche Beispiele entdecken, bei denen Einzelgänger ein ganzes soziales Netzwerk haben, von dem wir bisher nichts wissen.«
»Nur eine winzige Minderheit der Arten lebt wirklich allein«Peter Kappeler, Biologe
Peter Kappeler sieht das ähnlich: »Meiner Meinung nach verstehen wir die Vielfalt, die es da draußen gibt, nicht vollständig. Sicher ist: Nur eine winzige Minderheit der Arten lebt wirklich allein.« Angesichts dessen, was wir inzwischen wüssten, seien Begriffe wie »Einzelgänger« und »gruppenbildend« zu stark vereinfachend.
Laut Fachleuten könnte ein besseres Verständnis davon, wie Tiere zusammenleben, nicht nur die evolutionären Ursprünge des Sozialverhaltens klären – es könnte auch Hinweise auf die neurologischen Mechanismen geben, die soziales und asoziales Verhalten steuern. »Ein Grund, warum wir Einzelgängertum erforschen, ist, dass auch gesellige Wesen wie Menschen nicht alle gleich sozial sind. Es gibt ein Spektrum«, sagt Tali Kimchi vom Weizmann Institute of Science in Israel. Manche Menschen leiden darunter, isoliert zu sein – etwa während der Lockdowns in der Covid-19-Pandemie –, andere hingegen fühlen sich allein deutlich wohler.
Traditionell erforscht man menschliches Sozialverhalten oft an Mäusen und Ratten als Modellorganismen, da sie uns genetisch, neurologisch und physiologisch ähneln. Doch die Nager sind soziale Tiere. Um das ganze Bild zu erfassen, müssen wir verschiedene Arten mit unterschiedlichen Graden an Sozialität betrachten, erklärt Kimchi. »Ich denke, wenn wir das bei Tieren verstehen, könnten wir auch neuropsychologische Störungen, die das Sozialverhalten betreffen [wie Autismus], besser begreifen«, sagt sie.
Ein guter Ausgangspunkt könnte ein Vergleich von äußerlich ähnlichen Arten sein, die dennoch völlig unterschiedliche soziale Lebensweisen haben. Ehrenberg-Blindmäuse (Nannospalax ehrenbergi) etwa sind extrem einzelgängerisch. Sie leben allein in unterirdischen Tunneln und reagieren äußerst feindselig auf Artgenossen. »Wenn sie sich versehentlich begegnen, wird einer verletzt oder stirbt sogar«, sagt Kimchi.
Ganz anders verhalten sich Nacktmulle (Heterocephalus glaber). Sie leben ebenfalls unterirdisch, aber in Kolonien mit Dutzenden oder Hunderten von Tieren. Wie bei manchen Ameisen und Bienen gibt es eine Königin und wenige fortpflanzungsfähige Männchen, der Rest sind Arbeiter. Wieso diese beiden Arten so unterschiedlich leben, ist noch unklar. Kimchi schlägt vor, sie anders zu betrachten: »Man kann die Kolonie auch als Superorganismus sehen. Und dieser Superorganismus lebt einzelgängerisch«, erläutert sie. Die Koloniebewohner tolerieren sich gegenseitig, greifen Eindringlinge aus anderen Kolonien jedoch mit derselben Aggression an wie Ehrenberg-Blindmäuse ihre Artgenossen. Das wirft Fragen zur Reichweite und Stärke von sozialen Bindungen auf – auch mit Blick auf menschliche Beziehungen.
Über einzelgängerische Tiere gibt es noch viel zu entdecken. Um besser zu verstehen, weshalb sich manche Tiere zusammenschließen und andere allein leben, haben Makuya und Schradin eine digitale Wissenschaftsplattform gegründet, in der Forscher ihre Ergebnisse und Ideen austauschen können. »Immer mehr Leute untersuchen einzelgängerische Arten und stellen die richtigen Fragen, aber sie sind noch nicht gut genug vernetzt«, findet Schradin. Er ist überzeugt: Je mehr wir über diese Tiere wissen, desto besser können wir sie schützen. Und wie Kimchi glaubt er, dass wir durch sie auch uns selbst besser verstehen.
»Eine wichtige Erkenntnis ist: Man muss nicht asozial sein, um allein zu leben«, sagt Schradin. »Man kann allein leben und trotzdem bedeutungsvolle soziale Kontakte zu seinen Nachbarn pflegen.« Für Menschen ist soziale Isolation oft mit schlechter Gesundheit verbunden. Doch auch Zeit allein kann uns guttun. Und Einzelgänger unter den Tieren könnten uns helfen, diese Vorteile besser zu verstehen. »Vielleicht sollten wir akzeptieren, dass es für manche Menschen – oder für uns selbst in bestimmten Lebensphasen – völlig in Ordnung ist, lieber allein zu sein und soziale Konflikte zu vermeiden.«
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