Polargebiete: Wie geht es den Eisbären wirklich?
Mal ist nur spritzendes Wasser zu sehen oder ein Blick über eine eisglitzernde Landschaft. In anderen Teilen des Films kommen zumindest eine schwarze Nase und reifverkrustetes, weißes Fell ins Bild. Am spannendsten aber sind die Szenen, in denen sich eifrige Schnauzen um einen frisch gefangenen Fisch balgen. Oder in denen es zu Annäherungsversuchen zwischen dem Hauptdarsteller und der vierbeinigen Kamerafrau kommt. So sieht also die Arktis aus der Eisbärenperspektive aus. In der südlichen Beaufortsee haben Wissenschaftler der amerikanischen Geoforschungsbehörde U. S. Geological Survey ein Weibchen der weißen Polarjäger mit einer Kamera ausgerüstet.
Die Bilder sollen nicht nur mehr über den Alltag und das Verhalten der Tiere verraten. Sondern sie sollen auch zeigen, wie diese in einer sich verändernden Welt zurechtkommen. Denn künftige Eisbärengenerationen werden wohl mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert sein als ihre Vorfahren. Schließlich erwärmt sich die Arktis im Durchschnitt dreimal so schnell wie die Erde. Schätzungen zufolge könnte der arktische Ozean daher schon um das Jahr 2030 im Sommer weitgehend eisfrei sein. Das aber wäre für Eisbären keine gute Nachricht.
Denn das Meereis ist bisher die große Bühne, auf der sich ihr Leben abspielt. Zwar können sie durchaus einen Teil des Jahres an Land verbringen. Doch wenn es ans Wandern oder Zeugen von Nachwuchs geht, ist festes Eis unter den Pfoten gefragt. In manchen Regionen werden auch die Jungbären auf dem gefrorenen Panzer des Nordpolarmeers geboren. Vor allem aber liegen dort die Reviere, in denen die weißen Jäger auf Robbenfang gehen.
Genügend Beute zu machen, ist dabei keineswegs einfach. Immerhin sind Eisbären heutzutage die größten Raubtiere der Erde, Männchen können bis zu 3,40 Meter lang und 800 Kilogramm schwer werden. Ein so großer Körper hält zwar relativ gut die Wärme, was in der Arktis überlebenswichtig ist. Nur braucht er eben auch reichlich Energie. Da kommen fette Robben gerade recht. Doch obwohl Eisbären durchaus geschickte Schwimmer sind, können sie so eine Beute im Wasser kaum erwischen. Also lauern sie häufig an Eislöchern, bis ihre Opfer zum Atmen auftauchen, und schlagen dann blitzschnell zu. Diese Methode erfordert viel Geschick, das sich Jungtiere erst mühsam antrainieren müssen. Und trotz aller Übung kommen auch erwachsene Jäger nur bei einer von zehn Attacken zum Erfolg.
Schmelzende Jagdreviere als Gefahr
Genau das ist der Grund, warum sich Wissenschaftler Sorgen um die Zukunft der Art machen. Denn wenn die Jagdreviere weiter schmelzen, dürften die Erfolgschancen der Angreifer immer schlechter werden. Mit diesem Problem werden sich künftig wohl alle Eisbären quer durch die Arktis auseinandersetzen müssen. Auf Satellitenbildern haben Kristin Laidre und Harry Stern von der University of Washington verfolgt, wie sich die Ausdehnung des Meereises zwischen 1979 und 2014 verändert hat. Unter die Lupe genommen haben sie dabei sämtliche Regionen, in denen heute Eisbären leben. Und in allen geht das Eis aktuell schon zurück. Im Frühjahr bricht es früher auf, im Herbst bildet es sich immer später neu. Dadurch verloren die Bären im Lauf der untersuchten 35 Jahre im Durchschnitt sieben Wochen mit guten Jagdbedingungen. Und dieser Trend dürfte sich den Modellen der Klimaforscher zufolge wohl weiter fortsetzen.
Die Weltnaturschutzunion IUCN hat den Eisbären daher als "gefährdet" auf die Rote Liste der bedrohten Arten gesetzt. Weltweit soll es nach Schätzungen der Organisation noch zwischen 22 000 und 31 000 Exemplare geben. Diese verteilen sich auf 19 Populationen in verschiedenen Regionen der Arktis, zwischen denen allerdings auch Tiere hin- und herwandern können. Im Jahr 2014 haben die IUCN-Experten die verfügbaren Informationen über die einzelnen Vorkommen ausgewertet und sind dabei auf unterschiedliche Trends gestoßen. Nur die Population im McClintock-Kanal im kanadischen Territorium Nunavut scheint demnach zu wachsen. Sechs weitere gelten als stabil, drei schrumpfen. Aus immerhin neun Regionen aber gibt es einfach nicht genug belastbare Daten, um die Entwicklung zuverlässig einschätzen zu können. Denn Eisbärenzählungen sind aufwändig und teuer, weil die Tiere oft weit verstreut in riesigen, unzugänglichen Gebieten leben.
Noch schwieriger ist es, möglichen Verhaltensänderungen auf die Spur zu kommen. Haben die Bären bereits auf die ersten Veränderungen in ihrem Lebensraum reagiert? Dieser Frage ist ein Team um Charmain Hamilton vom Norwegischen Polarinstitut in Tromsø auf Spitzbergen nachgegangen. Rings um diese Inselgruppe schrumpft das Meereis noch schneller als in anderen Regionen der Arktis. Besonders dramatisch waren die Veränderungen im Jahr 2006. Damals zog sich nicht nur die Eisdecke auf dem offenen Meer im Sommer weiter nach Norden zurück. Auch das fest mit dem Land verbundene Eis in den Fjorden Spitzbergens schmolz drastisch zusammen. Beide Effekte halten bis heute an. Fragt sich also, ob sich dieser Wandel in den Eisverhältnissen auch im Verhalten der Eisbären und ihrer wichtigsten Beute, der Ringelrobbe, niederschlägt.
Fressbare Fische an der Gletscherfront
Um das herauszufinden, haben die Forscher 60 Robben und 67 Eisbären mit Sendern ausgerüstet, die deren Aufenthaltsorte übermitteln. Beide Arten verfolgen offenbar jeweils zwei unterschiedliche Strategien. Einige Bären und Robben schwimmen dem Meereis hinterher nach Norden. Andere aber bleiben trotz des Eisschwundes das ganze Jahr in Küstennähe. Die Robben halten sich dabei mit Vorliebe bei Gletschern auf, die dort ins Meer fließen. An deren Front finden sie nicht nur reichlich fressbare Fische und Krebstiere, sondern auch festes Eis als Rastplatz und Kinderstube. Kein Wunder also, dass auch die Eisbären im Frühjahr gern in diese Regionen kommen. Schließlich ist dies für sie eine kritische Zeit, in der sie ihre im langen Winter aufgezehrten Energiereserven möglichst schnell wieder auffüllen müssen – und gern zu nahrhaften Robbenmahlzeiten greifen. Daran haben die neuen Eisverhältnisse offenbar nichts geändert.
Im Sommer und Herbst aber verbringen die Bären heutzutage deutlich weniger Zeit in der Nähe der Gletscherfronten als vor dem dramatischen Eisschwund im Jahr 2006. Das kann nicht daran liegen, dass sie in der wärmeren Jahreszeit dort weniger zu fressen finden. Denn die Robben bleiben auch in diesen Monaten ihren alten Lieblingsplätzen treu. Allerdings rasten sie dann oft nicht mehr auf festem Eis, sondern auf im Wasser treibenden Stücken, die von der Gletscherfront abbrechen. Und das scheint für die Bären eine ziemlich ungünstige Situation zu sein. Statt sich auf weiten Eisflächen an ihre Beute heranpirschen zu können, müssen sie ihre Attacke aus dem Wasser heraus starten und ihre Opfer so überraschen. Möglicherweise ist das für viele Bären zu schwierig und nicht Erfolg versprechend genug. Jedenfalls halten sich die Jäger im Sommer heute nicht mehr so oft in der Nähe ihrer Lieblingsbeute auf wie früher.
Irgendetwas aber müssen die Tiere ja auch in der warmen Jahreszeit fressen. Zwar haben es andere Bärenarten durchaus geschafft, sich auf Zeiten mit knappem Nahrungsangebot einzustellen. Braunbären zum Beispiel ziehen sich im Herbst in einen Unterschlupf zurück, senken ihre Körpertemperatur ab und schalten ihren Organismus auf Sparflamme. Das hilft ihnen, Energie zu sparen und ohne Nahrung über den Winter zu kommen. Einen ähnlichen "Sommerschlaf" der hungernden Eisbären aber scheint es nicht zu geben, zeigt eine Untersuchung US-amerikanischer Forscher. Die schwindenden Jagdmöglichkeiten auf dem Meereis werden für die Tiere also tatsächlich zum Problem.
Auf längeren Laufstrecken überhitzen Eisbären
Denn an Land ist der Tisch für die großen Raubtiere nur spärlich gedeckt. Rentiere wären dort zwar eine lohnende Beute. Doch die laufen ihren Verfolgern in der Regel einfach davon. Zwar erreichen Eisbären im Sprint durchaus ein Tempo von mehr als 30 Stundenkilometern, auf längeren Strecken aber überhitzen sie leicht. Ausdauernde Verfolgungsjagden sind also nicht ihre Sache. Daher müssen sich die bis zu 800 Kilogramm schweren Jäger bei ihren Landgängen oft mit kargen Snacks wie Wühlmäusen, Vögeln oder Eiern begnügen.
Ein Team um Jouke Prop von der Universität im niederländischen Groningen hat beispielsweise festgestellt, dass die weißen Jäger auf Spitzbergen und Grönland heute deutlich häufiger in Vogelkolonien auftauchen als noch in den 1970er und 1980er Jahren. Etliche Tiere wurden auf frischer Tat ertappt, als sie die Eier von Weißwangengänsen, Eiderenten und Eismöwen verspeisten. In manchen Jahren blieb nicht einmal jedes zehnte Nest verschont. Ähnliche Berichte kommen auch aus Kanada. Wenn sich dieser Trend fortsetze, könne das den Bruterfolg der betroffenen Vogelarten massiv beeinträchtigen, warnen die Forscher. Dazu kommt noch ein anderes Problem: Je länger die Bären an Land ausharren müssen, umso häufiger geraten sie in die Nähe von Menschen. Da sind Konflikte vorprogrammiert.
Zu allem Überfluss scheinen sich diese mühsamen und riskanten Fresstrips nicht einmal so recht zu lohnen. Mit einem Computermodell haben Cody Dey von der University of Windsor in Kanada und seine Kollegen zum Beispiel durchgespielt, wie sich die Beziehungen zwischen Eiderenten und Eisbären in Zeiten schrumpfender Eisdecken entwickeln könnten. Demnach dürfte der Anteil der ausgeräumten Nester steigen, während sich der körperliche Zustand der Plünderer gleichzeitig verschlechtert.
Auch viele andere Biologen bezweifeln, dass Eisbären ihren hohen Energiebedarf an Land decken können. Zumal die Tiere dort oft weite Strecken zurücklegen müssen, um überhaupt etwas in den Magen zu bekommen. Das treibt ihren Energiebedarf noch weiter in die Höhe. Tatsächlich scheint der Rückgang des Eises in manchen Regionen schon an den Bärenkräften zu zehren. So haben kanadische Forscher den Body-Mass-Index und andere Fitnessindizien von 900 Tieren aus der südlichen Hudson Bay verglichen und einen deutlichen Zusammenhang gefunden: Die eisfreie Saison in dieser Region hat zwischen 1980 und 2012 um rund 30 Tage zugenommen. Gleichzeitig ist die körperliche Verfassung der ortsansässigen Eisbären schlechter geworden. Was sie an Land an Fressbarem aufgestöbert haben, konnte den Verlust der Robben offenbar nicht ausgleichen.
Neue Speisepläne für Aufenthalt an Land
Das scheint aber nicht für alle Populationen zu gelten. So gibt es bei den Polarjägern auf Spitzbergen keine Hinweise darauf, dass sie heutzutage weniger fit wären oder weniger Junge hätten als früher. Das Gleiche gilt auch für ihre Artgenossen in der Tschuktschensee, die nördlich der Beringstraße zwischen Russland und Nordamerika liegt. Zwar hielten sich die dortigen Tiere zwischen 2008 und 2013 im Durchschnitt 30 Tage länger an Land auf als noch zwischen 1986 und 1995. Bisher scheinen sie das aber recht gut zu verkraften. Karyn Rode vom Alaska Science Center in Anchorage und ihre Kollegen sehen dafür zwei mögliche Erklärungen. Entweder die Tiere fressen sich in den eisreichen Monaten so viele Fettvorräte an, dass sie auch die Hungersommer schadlos überstehen. Oder sie haben sich andere Nahrungsquellen erschlossen. So sind Eisbären in dieser Region bereits mehrfach dabei beobachtet worden, wie sie die Kadaver von Grauwalen, Moschusochsen und Rentieren fraßen.
Gute Nachrichten kommen aus dem Foxe Basin im nördlichen Kanada. Jüngste Schätzungen gehen davon aus, dass in dieser Region zwischen rund 2000 und mehr als 3000 Eisbären leben. Damit sind die Bestände auf einem ähnlichen Niveau geblieben wie in den 1990er Jahren. Auch die robusten Geburtenzahlen sprechen dafür, dass die Population bisher trotz des schwindenden Eises in gutem Zustand ist. Haben also diese Tiere ebenfalls ihren Speiseplan geändert? Um das herauszufinden, haben Melissa Galicia von der York University im kanadischen Toronto und ihre Kollegen Proben aus dem Fettgewebe von mehr als 100 Eisbären aus dieser Population untersucht. Die Zusammensetzung der darin enthaltenen Fettsäuren verrät, dass die Tiere in einigen Regionen vor allem Ringelrobben fressen, während sie in anderen auch Sattelrobben und Walrossen nachstellen. Neben solchen klassischen Menüs aber haben die Bären in allen Teilen des Foxe Basins auch Grönlandwale auf ihren Speiseplan gesetzt.
Seit dem Ende der kommerziellen Jagd zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich die Bestände dieser Meeressäuger in der Region erholt. Die Eisbären selbst haben zwar keine Chance, so ein Tier zur Strecke zu bringen. Doch da die Eisbarrieren zunehmend schmelzen, tauchen im Foxe Basin auch immer mehr Orcas auf. Die erlegen durchaus Wale und lassen dabei offenbar genügend Reste für hungrige Bären übrig. Doch ob das eine Dauerlösung ist? Melissa Galicia und ihre Kollegen haben da ihre Zweifel. Ihrer Einschätzung nach werden sich die Bären auch in Zukunft nicht allein von Walkadavern ernähren können. Davon gibt es wohl einfach nicht genug, um die bewährten Jagdstrategien komplett über Bord zu werfen. In einer eisfreien Zukunft gehen die Jäger im weißen Pelz also harten Zeiten entgegen.
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