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Klimawandel: Eisige Kanarienvögel im Treibhaus

Berge bröckeln, Gletscher schwinden: Die Alpen befinden sich in einem rapiden Wandel - ausgelöst durch steigende Temperaturen. Wie wird sich das Gebirge in den nächsten Jahren verändern? Und welche Folgen hat das vor allem auf das Leben der Menschen?
Föhnwolken über dem Jungfraugebiet
Ein Gebirge zerfällt – zumindest ein bisschen: Im letzten Jahrhundertsommer 2003 stürzten am schweizerischen Matterhorn mehr als 1000 Kubikmeter Fels in die Tiefe, jetzt drohen am Eiger insgesamt mehr als zwei Millionen Tonnen Gestein zu Tal zu gehen. Auch wenn dies nur zwei – allerdings medial sehr plakative – Ereignisse sind, so stehen sie doch exemplarisch für die gegenwärtigen Entwicklungen in den Alpen.

Tschiervagletscher im Oberengadin | Der Gletscher ist bereits jetzt Mitte Juli sehr stark ausgeapert, die Schneedecke bis in große Höhen zurückgeschmolzen: Die Gletscher in der Berninagruppe leiden ähnlich wie im Extremsommer 2003, als alpenweit die Eisriesen etwa acht Prozent ihres Umfangs einbüßten. Im Vordergrund sind die Moränen aus dem 19. Jahrhundert zu sehen – sie zeigen den damaligen Gletscherstand an.
Europas zentrales Hochgebirge ächzt bereits heute unter den Folgen steigender Temperaturen – hervorgerufen vom menschengemachten Klimawandel, da sind sich fast alle Wissenschaftler einig. Den deutlichsten Hinweis, dass etwas in den Alpen vor sich geht, geben die großen und kleinen Gletscher der Region: In den letzten 150 Jahren verloren sie mehr als die Hälfte ihrer damaligen Fläche, wobei die Verlustraten im letzten Jahrzehnt noch deutlich anstiegen. Auch diesen Sommer könnten die Eisriesen wieder, wie 2003, insgesamt fünf bis zehn Prozent ihres Gesamtvolumens einbüßen.

Nach neuen Modellrechnungen könnten die Alpen bis zum Ende des Jahrhunderts sogar fast gänzlich eisfrei sein. Nur Riesen wie der Aletschgletscher in der Schweiz oder Eisfelder jenseits der 4000-Meter-Marke könnten nach Ansicht von Wilfried Haeberli, einem der Autoren der Studie, wenigstens teilweise bis dahin überdauern – als restgefrorene "Leichen aus vergangenen Tagen", so der Forscher.

"Die Gletscherschmelze sendet ein auch für Laien deutlich sichtbares und verständliches Signal aus, dass eine zunehmend schnelle Veränderung in der alpinen und globalen Umwelt abläuft"
(Wilfried Haeberli)
Für den Fachmann von der Universität Zürich sind die Eiszungen im Treibhaus Erde denn auch so etwas wie die sprichwörtlichen Kanarienvögel als "Alarmanlage" der Minenarbeiter: "Die Hauptbedeutung der Gletscherschmelze für die Wissenschaft liegt nicht nur beim Verlust eines wichtigen Landschaftselementes. Vielmehr sendet sie ein auch für Laien deutlich sichtbares und verständliches Signal aus, dass eine zunehmend schnelle Veränderung in der alpinen und globalen Umwelt abläuft." An diesem Demonstrationsobjekt können heutige und nachfolgende Generationen klar ablesen, welche der prognostizierten Klimaszenarien tatsächlich eintreffen.

Ein langfristiges Risiko

Doch das große Tauen hat noch weit über diesen Anschauungscharakter hinaus Folgen – und die deutlichsten zeigen sich gegenwärtig an der Ostwand des Eigers. Denn mit dem Schwinden der Gletscher verlieren deren seitliche Bergflanken ihr Widerlager. Dadurch kommt es zu einer Entspannung im Fels und Druckentlastungsklüfte tun sich auf. In diese Risse dringt nun verstärkt Schmelz- und Regenwasser ein, das zum einen selbst das Gestein weiter lockern kann, beim neuerlichen Gefrieren zum anderen aber auch durch Ausdehnung starke Sprengkraft entfaltet. Solche Vorgänge spielen sich bei den großen Talgletschern ab, die zum Teil heute noch die angrenzenden Hänge regelrecht festhalten.

Der Schwund der Bernina-Gletscher | Die Alpengletscher, wie hier im Bernina-Gebiet, sind ein deutlicher Anzeiger für den Klimawandel: Von 1850 (rote Linie) über 1973 (blaue Linie) bis heute haben sie einen großen Teil ihrer Masse und Ausdehnung eingebüßt.
Diese zunehmende Instabilität wird die Bewohner und Besucher der Alpen nach Aussage von Haeberli selbst dann noch beschäftigen, wenn der letzte Eisflecken längst verschwunden sein wird. Die Veränderung der Stabilität von Bergflanken ist ein langfristiger Prozess. Manche Felsstürze der vergangenen Jahrtausende können noch eine indirekte Folge des großen Gletscherschwundes zum Ende der letzten Eiszeit sein. Und auch am Eiger dauerte es immerhin Jahrzehnte vom Schwinden des Grindelwaldgletschers bis zum heutigen Abrutschen von Teilen seiner Ostflanke.

"Für Alpinisten und Bergwanderer erhöht sich in bestimmten Regionen das Gefahrenpotenzial"
(Werner Bätzing)
Ganz andere Probleme verursachen hingegen die kleinen Gletscher und Eisfelder auf steilen Hängen, so Haeberli: Zieht das Eis sich zurück, legt es große Mengen Schutt frei, die bei starken Niederschlägen – oder auch nur einer kleinen Verlagerung eines Bachbetts – plötzlich als Muren zu Tal gehen können. Erst jüngst fiel im Schweizer Corvatsch-Gebiet eine deutsche Touristin einer derartigen Schlammlawine zum Opfer. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich zudem durch den Verlust des Permafrosts, der bislang als Dauergefrornis Fels- und Schuttpartien im Hochgebirge wasserdicht macht und somit dessen Stabilität erhöht.

Über dem Jungfraumassiv | Noch kann man so schöne Bilder von zerrissenen Föhnwolken über schneebedeckten Gipfellagen der Alpen wie hier über dem Jungfraumassiv schießen – doch man sollte sich sputen.
Die meisten dieser Veränderungen betreffen die Hochgebirgsregionen jenseits der Waldgrenze und stellen damit für Wilfried Haeberli wie auch Werner Bätzing von der Universität Erlangen-Nürnberg weniger ein Problem für die Dauersiedlungen der Alpen dar: "Insofern geht es in der Mehrzahl der Fälle nicht darum, einzelne Gebiete komplett zu räumen. Allerdings erhöht sich in bestimmten Regionen, die von Alpinisten und Bergwanderern aufgesucht werden, das Gefahrenpotenzial", so Bätzing, der seit Jahren den kulturgeografischen Wandel in den Alpen dokumentiert.

Vertrauen auf technische Lösungen

Direkt betroffen sind gegenwärtig vor allem die Betreiber von Skiliften, die den Verlust der Gletscher an ihrem eigenen Geldbeutel spüren. Im letzten Jahr machte etwa die Meldung Schlagzeilen, dass die Betreiber des Skigebiets am Gurschengletscher bei Andermatt ihre Einnahmequelle mittels Spezialfolien vor der Sonne schützen wollten. Während der letzten anderthalb Jahrzehnte hatte sich die Gletscheroberfläche im Bereich der Gemsstock-Bergstation um zwanzig Meter abgesenkt, sodass die Distanz mit einer künstlichen Rampe überbrückt werden musste. Ohne diese teuer instand gehaltenen Zufahrten oder die ebenfalls kostspieligen Planen wäre mancherorts bereits heute kein Wintertourismus auf Gletschern mehr möglich – ab etwa 2020 oder 2030 ist es dort dann aber nach den Berechnungen der Forschungsgruppe von Haeberli mit dem vermeintlich "ewigen" Eis wohl endgültig vorbei.

Bernina-Gletscher aus der Luft | In den letzten Jahren hat sich die Abschmelzrate der Alpengletscher noch einmal deutlich beschleunigt: Modellrechnungen sagen ihren fast vollständigen Verlust bis 2100 voraus.
Knapp zehn Prozent aller Seilbahnen der Schweiz sind zudem über Permafrost gebaut: Standorte, die zukünftig vermehrt wackelig sein dürften. Experten rechnen allein bei den Corvatschbahnen in den kommenden zehn Jahren mit zehn Millionen Franken Zusatzkosten durch Schäden an den Anlagen – nicht eingerechnet mögliche Verluste im Tourismusgeschäft. Die Betreiber vertrauen jedoch auf vollständige Handhabbarkeit dieser Schwierigkeiten.

Eine Sichtweise, die sich auch die Alpenbewohner mittlerweile vollständig zu eigen gemacht haben, wie Werner Bätzing anmerkt: "Seit etwa einer Generation hat sich auch in den Alpen eine 'städtische' Umgehensweise mit den Gefahren des Hochgebirges herausgebildet, welche die alten Verhaltensweisen verdrängt hat. Die Verantwortung für die Stabilität der eigenen Umwelt – etwa des eigenen Tals als Lebens- und Wirtschaftsraum – wird nicht mehr selbst wahrgenommen, sondern an Spezialisten weitergegeben, die dafür technischen Lösungen suchen und realisieren sollen. Passiert doch etwas, sieht man dies als Versicherungsfall oder Versagen der Politiker."

Und da die weitaus meisten Einheimischen vor Ort wohnen bleiben möchten, fordern sie die Problemgebiete technisch zu sichern, um Risiken möglichst auszuschließen oder zumindest zu minimieren – eine Einstellung, die sich nach Einschätzung der beiden Geografen zukünftig wieder ändern muss. Rein technische Strategien sind extrem teuer und können dennoch keine hundertprozentige Sicherheit gewähren, wie jüngst der tödliche Felssturz auf der Gotthard-Autobahn trotz Hangverbauungen zeigte.

Mit Vollgas in die Kurve?

Wissenschaft, Behörden und Bevölkerung müssten deshalb deutlich stärker zusammenarbeiten und möglichst lokal angepasste Lösungen finden. Und auch ein genauerer Blick auf die Berge sei nun wieder nötig, unterstützt durch moderne technische Mittel wie beispielsweise hoch auflösende Satellitenbilder, Präzisionsvermessung und Rechenmodelle.

Auch der Aletschgletscher ist betroffen | Auch der Aletschgletscher ist vom Abtauen betroffen – wegen seiner enormen Größe dürfte er als einer der wenigen bis zum Ende des Jahrhunderts überleben.
In diesem Zusammenhang warnt Werner Bätzing vor einer Instrumentalisierung der Gefahrenthematik durch politische Gruppierungen: "Sie stellen die dezentrale Besiedlung der Alpen in Frage und behaupten, dass eine dezentrale Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur in den Alpen prinzipiell zu teuer sei – vor allem auch wegen der kostspieligen Sicherung von Wohnstandorten und Verkehrslinien gegen Naturkatastrophen. Ein Scheinargument: Denn eigentlich wolle man Konzentration der staatlichen Ausgaben auf die Ballungszentren und Rückzug der Förderung aus der Fläche, was man aber in dieser Deutlichkeit aus politischen Gründen nicht sagen kann."

Abseits dieser politischen Scharmützel drängt aber bereits die Zeit, um Lösungen für die betroffenen Alpengebiete zu finden, denn die Geschwindigkeit, in der der Klimawandel die Gebirgsnatur verändert, steigt. Gleichzeitig werden die Abstände zwischen katastrophalen Ereignissen kleiner wie etwa im Fall der beiden so genannten "Jahrhundert"-Hochwässer, die 1999 und 2005 die Schweiz heimsuchten. Das Zeitfenster für Entscheidungen schrumpft also, die Freiheitsgrade für die Wahl geeigneter Maßnahmen nehmen ab.

"Wir fahren nachts und bei Nebel auf eine Kurve zu, und vernünftigerweise sollten wir das Tempo drosseln und die Scheinwerfer einschalten"
(Wilfried Haeberli)
An der Reduzierung der menschlichen Treibhausgasemissionen führt aber nicht nur nach Wilfried Haeberlis Meinung kein Weg vorbei: Sie ist die einzig realistische und effektive Maßnahme. Anpassung ist überlebenswichtig, aber Folien oder Rampen sind im besten Fall kurzfristige Heftpflaster. Grundsätzliches Umdenken und weitsichtiges Handeln ist dringend notwendig. Oder wie es der schweizerische Forscher in einem Bild ausdrückt: "Wir fahren nachts und bei Nebel auf eine Kurve zu, von der wir nicht genau wissen wie eng sie ist. Vernünftigerweise sollten wir das Tempo drosseln und die Scheinwerfer einschalten. Stattdessen beschleunigen wir noch und blenden die weitere Zukunft aus. Damit reduzieren wir den Handlungsspielraum: Ist man zu schnell oder die Kurve zu eng, kann man vielleicht nur noch entscheiden, ob man mit offenen oder geschlossenen Augen aus der Kurve fliegen will."

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