Eiskaltes Mitteleuropa: Homo sapiens kam Jahrtausende früher
Die Hoffnung auf einen Ausnahmefund war nicht allzu groß, als die Archäologen im Herbst 2015 unterhalb der Burg Ranis im Osten Thüringens mit ihren Arbeiten begannen. Doch gut acht Jahre später war ihnen gelungen, was sie nicht zu träumen gewagt hatten. Ihre Funde bezeugten: Der anatomisch moderne Mensch, Homo sapiens, war bereits vor mehr als 45 000 Jahren – und damit sehr viel früher als bislang bekannt – weit nach Westen und Norden in die kalten Steppen der Eiszeit vorgedrungen, die damals Mittel- und Nordwesteuropa prägten. Das berichtet eine große Forschungsgruppe um Jean-Jacques Hublin, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (EVA), in drei zusammenhängenden Beiträgen – in einer Studie in »Nature« sowie in zwei Fachartikeln in »Nature Ecology & Evolution«.
»Das ist eine sehr gute Studie, nach der Homo sapiens einige Jahrtausende früher als bisher gedacht in Mitteleuropa war«, erklärt Olaf Jöris. Der Archäologe forscht über die europäische Steinzeit am MONREPOS, dem Archäologischen Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution in Neuwied, war aber an den Forschungen in Ranis nicht beteiligt.
Die frühe Ankunft der modernen Menschen im damals eiskalten Mitteleuropa wirft zudem ein Schlaglicht auf das Verschwinden der Neandertaler. Offenbar war Homo sapiens zu einer Zeit in diesen Breiten aufgetaucht, als auch die Neandertaler noch auf dem Kontinent umherstreiften. Ihre jüngsten Überreste aus Südwesteuropa datieren Fachleute in eine Phase vor 42 000 Jahren.
Wer hatte die Technik des Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician erfunden?
Wenige Jahrtausende vor dem Verschwinden der Neandertaler waren Gruppen in einem Streifen von Europa unterwegs gewesen, der vom Süden des heutigen Polen über Thüringen und Belgien bis in den Süden Englands reichte. Die Hinterlassenschaften jener Menschen in diesem Gebiet bereiteten Forscherinnen und Forschern bisher einiges Kopfzerbrechen. Es handelt sich um Steinklingen, die auf beiden Seiten fein bearbeitet wurden und wohl als Speerspitzen dienten. Archäologen bezeichnen die Art, wie sie zugerichtet sind, und die zugehörige Kultur – heute spricht man auch von Technokomplex – als Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician (LRJ). Wer hatte diese Technik entwickelt? Waren es die alteingesessenen Neandertaler gewesen oder steckte Homo sapiens hinter den neuartigen Blattspitzen? War er bereits so weit in den Norden und Nordwesten Mitteleuropas vorgedrungen? Eine Antwort auf diese Fragen, so vermuteten Hublin und seine Kollegen, könnte die Ilsenhöhle unterhalb der Burg Ranis im Osten Thüringens liefern. Dort waren bereits von 1932 bis 1938 bei Ausgrabungen derartige beidseitig retuschierte Klingen aufgetaucht.
Nur war zunächst nicht klar, ob die alten Ausgräber überhaupt noch etwas für Hublin und seine Truppe übrig gelassen hatten. In den 1930er Jahren war die Höhle fast vollständig frei gelegt worden. Zudem hatte man danach auf dem Vorplatz eine Terrasse aufgeschüttet. Ob es noch ungestörte Schichten aus der Altsteinzeit geben würde, war unbekannt.
Deshalb untersuchten Jean-Jacques Hublin, der mittlerweile am Collège de France in Paris lehrt, Marcel Weiß von der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg und Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar, wie der Untergrund beschaffen war. Im Herbst 2015 führten sie elektrische Widerstandsmessungen durch. Sie wussten: In aufgefüllten Bereichen liegen verschiedene Materialien oft durcheinander. An solchen Stellen kann leicht Wasser in den Boden eindringen, das elektrischen Strom gut leitet. »Wir fanden aber auch trockenere Bereiche mit gewachsenen Sedimenten«, erinnert sich Weiß. Neue Grabungen schienen sich also zu lohnen, die dann im Jahr 2016 begannen.
Schon der Höhlenboden oder doch nur ein Felsbrocken?
Doch 2019 drohten alle Hoffnungen zu platzen, als die Ausgräber auf soliden Fels stießen. Bis dahin hatten sie kein einziges Steinzeitrelikt aufgetan. Sollten sie also bereits den Boden der Höhle erreicht haben? Tatsächlich entpuppte sich die vermeintliche Enttäuschung als großer Glücksfall: Die Archäologen hatten nicht den Felsboden, sondern einen verstürzten Felsbrocken von zirka 1,7 Meter Dicke frei gelegt. Er war ein Teil der ursprünglichen Höhlendecke gewesen, die in der späten Altsteinzeit heruntergekracht war und die Überbleibsel aus den vorherigen Phasen versiegelte. Und das, bevor Hyänen und andere Höhlentiere den Boden mit den darin steckenden Knochen und Steingeräten auf der Suche nach Fressbarem durchwühlen und die Schichten durcheinanderbringen konnten. »Das war eine große Überraschung und entschädigte uns für die mühevolle Arbeit an der Fundstelle«, sagt Marcel Weiß laut einer Pressemitteilung.
Denn der Felsbrocken musste zerteilt und zertrümmert werden, um ihn Stück für Stück aus dem acht Meter tiefen Grabungsschnitt an die Oberfläche zu holen. Danach zeigte sich, dass die Ausgräber der Jahre 1932 bis 1938 unter dem Block nie gearbeitet hatten. »So konnten wir dort Fragmente von Steinwerkzeugen und einige Knochen ausgraben«, berichtet Weiß.
Allerdings waren die meisten Knochen zu fragmentiert und zu klein, um mit anatomischen Methoden zu ermitteln, welcher Spezies die Gebeine einst angehört hatten. Es schlug die Stunde moderner naturwissenschaftlicher Analysen. »Zunächst haben wir die in den Knochen vorhandenen Proteine untersucht«, erklärt Jean-Jacques Hublin. Ähnlich wie eine Erbgutanalyse verrät die als Proteomik bezeichnete Methode, zu welcher Art die untersuchten Überreste zu rechnen sind. Die Fachleute profitieren bei solchen Untersuchungen auch davon, dass die Proteine meist langsamer abgebaut werden als DNA. Die Chancen, Spuren von Eiweißen des Knochenkollagens zu erhaschen, stehen also recht gut.
Das Ergebnis übertraf die Erwartungen: Vier Knochensplitter gehörten gemäß den Proteinanalysen eindeutig zu einem Menschen. Ob nun zu Homo sapiens oder zu einem Neandertaler, gaben die Daten jedoch nicht preis. Dafür fehlten den Forschenden präzise Vergleichsdaten in ihren Proteindatenbanken.
Also machte sich eine Gruppe um den Archäogenetiker und EVA-Direktor Johannes Krause an eine Erbgutanalyse. Um festzustellen, von welcher Menschenform die Überreste stammen, reichte eine Untersuchung der mitochondrialen DNA. Diese mtDNA liegt in einer Probe sehr viel häufiger vor als Genschnipsel aus dem Zellkern, aussagekräftige Treffer sind damit wahrscheinlicher. Und in der Tat bestätigte die Genanalyse von Krauses Team: Damals war zweifelsohne der moderne Mensch in der Ilsenhöhle zugange gewesen.
Dem Team um Hublin, Weiß und Schüler kam dann ein weiterer Zufall zupass. Normalerweise fotografieren Archäologen größere und als wichtig erachtete Objekte in Fundlage, um die genauen Umstände der Entdeckung möglichst gut zu dokumentieren. Stücke wie die kleinen Knochenfragmente werden in der Grabungsfläche meist nur in drei Dimensionen des Raums eingemessen. Einer der vier menschlichen Knochenstückchen war aber deutlich auf einer Übersichtsaufnahme zu sehen.
»Das war natürlich ein Jackpot unserer Studien«, erzählt Weiß. Denn der Knochen »lag genau in der gleichen Schicht wie die LRJ-Blattspitzen, die keine Hyäne jemals durcheinandergebracht hatte«. Damit war eine weitere Überraschung perfekt: Die Steinwerkzeuge des LRJ waren sicher nicht von Neandertalern, sondern von Homo sapiens hergestellt worden. Es war demnach klar, dass die modernen Menschen bereits in Mitteleuropa waren, als die Neandertaler noch in West- und Südwesteuropa umherstreiften. »Mit modernen naturwissenschaftlichen Methoden wie Protein- und Erbgutanalysen konnte die Gruppe um Jean-Jacques Hublin also Klarheit (in dieser Frage) schaffen«, erklärt Olaf Jöris.
Insgesamt 13 Knochenreste von Homo sapiens
Als die Fachleute um Hublin und Krause auch bislang unbestimmte Knochenfragmente aus den alten Grabungen mit Hilfe von Proteomik- und DNA-Analysen untersuchten, erhielten sie prompt eine Bestätigung für ihre bisherigen Erkenntnisse. Sie identifizierten unter den Altfunden neun weitere Knochenreste von Homo sapiens, aber keinen einzigen von Neandertalern. Mehr noch: Die mtDNA aus einem Knochensplitter der neuen Grabungen war identisch mit den Gendaten aus vier in den 1930er Jahren geborgenen Knochen. »Entweder gehörten die Knochen zum gleichen Individuum oder es handelte sich zumindest um enge Verwandte in der mütterlichen Linie«, erklärt Marcel Weiß. Denn das Erbgut der Mitochondrien, der Kraftwerke in den Körperzellen, geben nur Mütter an ihren Nachwuchs weiter.
Nun ging es daran aufzuklären, wann genau sich die modernen Menschen in der Ilsenhöhle aufgehalten hatten. Dafür nahm das Forschungsteam Datierungen mit Hilfe der Radiokarbonmethode vor. Es untersuchte knapp 30 Objekte – Holzkohlestücke, menschliche Knochen und Tierüberreste, vor allem solche, die Spuren von Steinzeitgeräten aufwiesen. Diese dürften dann ganz sicher einst Menschen in Händen gehalten haben. Das Ergebnis der 14C-Analyse: Die menschlichen Knochen sind ungefähr 45 000 Jahre alt. Alle Daten umfassen ein Zeitfenster von vor ungefähr 47 500 bis 43 200 Jahren. Sporadisch, so deutet Koautorin Helen Fewlass vom Francis Crick Institute in London die Ergebnisse, könnte Homo sapiens die Stätte also bereits vor 47 500 Jahren aufgesucht haben.
»Das war eine Zeit, in der es in Mitteleuropa plötzlich recht kalt wurde«, sagt Steinzeitexperte Olaf Jöris. Das bestätigte auch eine Reihe weiterer Analysen der Forschungsgruppe um Hublin. So identifizierte das Team anhand der Tierknochen und mittels der Proteinuntersuchungen, welche Überreste welcher Spezies einst in die Ilsenhöhle gelangten. Es waren Rentiere, Höhlenbären, Wollnashörner und Pferde – alles Tierarten, die während der Altsteinzeit in kalten Klimazonen lebten.
Zum selben Ergebnis führte eine Untersuchung der stabilen Isotope, die Hublins Team aus den Proben von Tierzähnen und -knochen gewonnen hat. Sie zeugen ebenfalls von einem frostigen Kontinentalklima, als es 7 bis 15 Grad Celsius kälter war als heute. Die Landschaft dürfte damals einer mit Gras bewachsenen Steppe geglichen haben, in der fast keine Bäume gediehen. Auch wenn es heute in Mitteleuropa eine solche Landschaft nicht mehr gibt, lassen sich die einstigen klimatischen Bedingungen mit dem heutigen hohen Norden Skandinaviens und mit den Tundren Sibiriens vergleichen, kalt und unwirtlich. Die ersten Homo sapiens in Mitteleuropa scheinen den widrigen Bedingungen zum Trotz dort herumgestrichen zu sein – anders als Fachleute bislang vermuteten.
Stippvisite kleiner Gruppen vor mehr als 45 000 Jahren
Die neuen Grabungen ergaben zudem, dass hauptsächlich Hyänen und Höhlenbären in der Ilsenhöhle gehaust hatten, während die kleinen Menschengruppen eher selten und dann nur für kurze Zeit dort vorbeikamen. Hinweise auf Neandertaler fanden sich keine. »Diese lebten aber vermutlich gar nicht so weit entfernt im heutigen Frankreich und im Südwesten Europas«, erklärt Hublin. Das legt ein weiteres Szenario nahe: »Offensichtlich lebten Neandertaler und Homo sapiens wenige Jahrtausende nebeneinander in Europa«, so Weiß.
In den vergangenen Jahren haben Fachleute bereits an Fundorten in Südosteuropa frühe Überreste von Homo sapiens entdeckt. Das mitochondriale Erbgut von diesen und den Menschen aus der Ilsenhöhle, die praktisch zur selben Zeit gelebt hatten, unterscheidet sich aber, wie die Forschungsgruppe herausfand. So hatte Hublin 2020 von rund 45 000 Jahre alten menschlichen Überresten aus der Batscho-Kiro-Höhle in Bulgarien berichtet.
Auch von anderen Homo-sapiens-Funden dieser Epoche weichen die Besucher der Ilsenhöhle ab. »Das widerlegt eine weitere, recht populäre Überlegung, der zufolge moderne Menschen in einer großen Welle aus Afrika kamen«, meint Hublin. »Sie kamen vielmehr in kleinen Gruppen.« Von den Erstankömmlingen seien im Genom heutiger Menschen jedoch »praktisch keine Spuren mehr« erhalten. Möglicherweise waren sie zu wenige und gingen in der Menge späterer Einwanderer unter.
Ihr Erbgut mag heute zwar verschwunden sein. Ihre Spuren haben diese Menschen aber womöglich noch woanders in Europa hinterlassen. Denn Steingeräte des LRJ fanden sich nicht nur in der Ilsenhöhle. Sie kamen in einem Gebiet, das von Polen bis England reicht, zum Vorschein.
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