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El Molo: Das Fischervolk der schwarzen Wüste geht unter

Seit jeher leben die El Molo vom Turkanasee. Doch nun wird der Fisch rar, und das Wasser steigt in ihre Hütten. Was übrig bleibt, begehren Fremde auf der Flucht vor der Klimakrise. Unsere Autorin hat das Fischervolk besucht.
In T-Shirt und kurzer Hose schiebt ein Fischer ein Boot die letzten Meter an Land.
Lange Zeit nutzten die El Molo ausschließlich selbst gebaute Flöße. Seit einigen Jahren jedoch besitzen sie auch ein Motorboot, das nicht nur den Fischern auf ihren Ausfahrten, sondern auch den Kindern als Schultaxi zugutekommt.

Wer hier lebt, ist zäh. Schwarzgraues Geröll liegt inmitten krümeligen Basalts auf aschgrauem Staub. Kaum ein Baum, kaum ein Grashalm ist in Sicht. Vulkangestein dominiert die Landschaft bis zum Flimmern am Horizont, hinter dem sich der Turkanasee erstreckt. Der größte Wüstensee der Erde lockt Tiere und Menschen an. »In ihm lebt der Gott des Wassers. Doch obwohl wir ihn ehren, ist er uns nicht mehr wohlgesinnt«, sagt Julius Loyok Akolong.

Akolong gehört zu den El Molo, einer von Kenias kleinsten Volksgruppen. Seit Jahrtausenden leben sie am Turkanasee, wo die Temperaturen bis zu 45 Grad Celsius erreichen. Genau genommen leben sie von ihm: vom Salzwasser, seinen Fischen, seiner Vegetation. Seit jeher ist das jadefarbene Nass ihre Lebensgrundlage. Doch während es immer weniger El Molo gibt, gibt es immer mehr See. Ein ernsthaftes Problem, sogar für ein Fischervolk.

Bis etwa 2010 sah es so aus, als würde der Turkanasee austrocknen. Seither hat er sich um mehr als zehn Prozent ausgedehnt und rund 800 Quadratkilometer Land überflutet. Das erschwert den Fischfang, hat Süßwasserleitungen zerstört, Grabstätten überflutet und Krokodile, Schlangen und anderes Getier näher an die Behausungen gebracht, als den Bewohnern lieb ist. Und dann sind da noch die Fremden, die sich an den Ufern des Sees niederlassen, um in Zeiten anhaltender Dürre zu überleben.

Zum Beispiel im Städtchen Loiyangalani. »Als ich ein Junge war, gab es hier bloß eine Hand voll Hütten«, sagt der 39-jährige Akolong, Fischer und Tourguide, während er durch die Siedlung läuft. Aufwirbelnder Staub verklebt die Nase, die Luft ist so heiß, dass die Atemwege brennen. Nicht die El Molo, sondern die Turkana haben Loiyangalani in den 1960er Jahren gegründet, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass es nahe dem Salzsee inmitten der Wüste eine beständige Süßwasserquelle gibt. Loiyangalani bedeutet »ein Ort mit vielen Bäumen«. Von denen wachsen dort kaum noch welche. Sie wurden abgeholzt für Bauten und Feuerholz.

Auf ausgedörrtem Grund stehen die Behausungen aus gebeugten Palmblättern und straff gespannten Plastikplanen. Man lässt sich nieder, wo Platz ist. Hier und da sorgt ein Akazienbaum für Schatten, ein Funkmast für Handyempfang. »Es gibt mittlerweile Lebensmittelläden, eine Schneiderei und Geschäfte mit Dingen, ohne die wir El Molo lange ausgezeichnet zurechtkamen«, sagt Akolong. »Doch unsere Kinder, auch meine beiden Söhne, und die Leute, die herziehen, möchten mehr.«

Die Menschen im Norden Kenias haben grundsätzlich wenig, von dem sie leben können. Seit 2018 ist es noch weniger. Eine intensive Dürreperiode beherrscht das Land, es gibt Kleinkinder, die noch nie Regen gesehen haben. Millionen Tiere sind verendet, Millionen Menschen leiden Hunger. Viele Hirten haben all ihr Vieh verloren, und manche von ihnen hoffen, fortan vom Fisch aus dem Turkanasee zu überleben. Zum Nachteil der El Molo.

Die El Molo sind gern für sich, doch dauernd kommt jemand vorbei

Jahrhundertelang waren Akolongs Leute reine Selbstversorger. Es gab schlicht niemanden in der Region, mit dem sie ihren Fisch gegen Milch und Fleisch hätten tauschen können – geschweige denn wollten. »Gegen Morgen tauchten in zwei bis drei Kilometer Entfernung […] fünf Kanus mit fischenden El Molo auf. […] ein paar unserer Leute eilten sofort auf sie zu, konnten die Eingeborenen jedoch nicht dazu bewegen, näher zu kommen. Auch das Geschenk, welches wir ihnen anbieten ließen, wiesen sie zurück und meinten, dass sie vorerst heimkehren und sich beraten müssten«, schrieb der österreichische Afrikaforscher Ludwig Ritter von Höhnel in einem Expeditionsbericht von 1892. »Sie betrachten sich selbst und werden von anderen Völkern in der Region als eine eigene und besondere Gruppe von Menschen betrachtet«, formulierte es die US-Amerikanerin Joann Carole Scherrer in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1978. »Wir sind stolz darauf, außergewöhnlich zu sein«, sagt Julius Akolong heute. Rund 1500 Menschen zählt er zu seiner Volksgruppe, 3000 oder mehr sind es, wenn man die mitrechnet, die ihr Glück außerhalb der El-Molo-Gemeinschaft suchten.

Mittlerweile sitzt Akolong mit anderen Fischern und der Reporterin in einem Boot auf dem Weg zur Insel Komote. »Insel« – das klinge noch immer komisch, sagt er. Die gab es bis zum Jahr 2020 nämlich noch gar nicht. Dann aber überspülte das Wasser die schmale Landzunge mitsamt der Piste, die zu ihrem Dorf führte. Was die El Molo auszeichne? »Freundlichkeit, Widerstandsfähigkeit, Mut.« Akolong zeigt auf eine Narbe am Oberarm: »Die ist von einem Krokodil.« Ein Zeichen von einem Kampf als junger Mann? »Nein, ich wollte ein Selfie mit ihm machen.« Aber früher, da habe er tatsächlich mal ein Krokodil niedergerungen.

Die Gemeinschaft bewahre Aspekte einer fernen Vergangenheit, die heute nicht mehr existiert, schrieb Purity Kiura, damals Leiterin der Archäologieabteilung an den National Museums of Kenya, in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005. Obwohl sich die Menschen in den beiden Dörfern Komote und Layeni noch immer als reine El Molo identifizierten, schrieb Kiura weiter, hätten ihre Kontakte mit anderen Stämmen in der Region – insbesondere den Turkana, Samburu und Rendille – diese Identität verändert.

Isoliert | Vor zwei Jahren war das Dorf auf Komote noch mit dem Festland verbunden. Heute erreicht man es bloß per Floß oder Boot.

Heutzutage ist es El-Molo-Frauen erlaubt, Männer anderer Volksgruppen zu heiraten und das Dorf zu verlassen. Weil jedoch nicht viele Frauen aus anderen Stämmen in die Gemeinschaft einheiraten – die meisten El-Molo-Männer können sich den Brautpreis nicht leisten –, fürchtet mancher, die El Molo werde es in absehbarer Zeit nicht mehr geben.

Auf Komote betreiben Solarzellen einen Kühlschrank und liefern Strom für Handys. Beine stecken in Khakihosen statt in Baströcken. Und während einige Männer wie Akolong zwischen der Insel und dem Festland pendeln, um Geld zu verdienen, haben andere aus Sorge, der See würde sie verschlucken, auf dem Festland neue Häuser für ihre Familie gebaut – aus Beton statt Palmblättern.

Eine neue Einkommensquelle: Touristen

Wer das Dorf verlässt, wird nicht mehr verflucht, sondern tut es dieser Tage mit dem Segen der Ältesten. Bernad Guyo Lekapna ist einer von ihnen. Er selbst möchte bis zu seinem Tod auf Komote bleiben. Jeden Tag hockt er unter einer Pergola aus Metallstreben und getrockneten Palmblättern auf einem Holzschemel und wacht über seine Leute, wenn er nicht gerade auf seinem Stock gestützt den Hügel hinabschlurft, um Besuchern Interviews zu geben. Gegen Bezahlung, versteht sich, schließlich wollen die Leute etwas von ihm, nicht andersherum – geschäftstüchtig sind die El Molo sehr wohl.

»Vor langer Zeit gab es hier viele Bäume, die Schatten gespendet haben. Der Fisch, den wir heute essen, schmeckt anders als früher. Und überall ist dieses schreckliche Plastik«, erzählt Lekapna, der für das Gespräch selbst auf einem Plastikstuhl sitzt, während um ihn herum Küken zwitschern, Fliegen surren und Fischer versuchen, den Motor eines Boots zu reparieren. Ob er sich vorstellen könnte, die Insel zu verlassen? »Nein. Auf dieser Insel zu leben, hält mich fern von Clankämpfen und Krankheiten … ich möchte nicht fort.«

Bernad Guyo Lekapna | Der Älteste ist einer der Letzten, die noch Lieder in der Sprache der El Molo singen können.

El Molo suchten selten Kontakt, nie Streit, sagt Lekapna. Er legt die von der Sonne ledern gebackenen Hände mit den langen Nägeln an spröde Lippen, den Ringfinger ziert ein Siegelring. Man wolle anderen nichts nehmen, nur genug für sich selbst. Anders als die, die seit einigen Jahren an den See strömen. Arm, verzweifelt, bewaffnet und zum Kämpfen bereit.

Lekapna ist einer von wenigen, die noch Lieder in der Sprache der El Molo beherrschen. Er überlebte auch die Probe, die traditionell einen Jungen zum Mann machte: die Flusspferdjagd, die den El Molo bei anderen kenianischen Volksgruppen den Ruf der Tapferkeit einbrachte. Nilpferde und Krokodile zu töten, ist mittlerweile verboten, und mit jedem Zentimeter, den das Wasser steigt, fordert der See mehr, als er geben kann. »Unsere kleine Welt wird noch kleiner, bald gibt es auch hier für uns keinen Platz mehr«, sagt Lekapna.

Der See bietet den El Molo alles, was sie brauchen, für den Preis, sich ihm vollkommen hinzugeben. »Wir trinken das Wasser, baden, waschen, jagen darin«, sagt Akolong. Nun ist der See allerdings nicht nur salzig, sondern auch alkalisch und reich an Mineralien. Verantwortlich dafür ist das umliegende vulkanische Gestein, das, wenn es verwittert, das Wasser so alkalisch macht wie Seifenlauge.

Rund 80 Fischarten kümmert das wenig, und auch die El Molo lassen sich davon nicht beirren. »Mit der Folge, dass unsere Zähne wegen des hohen Fluoridgehalts braun werden«, sagt Akolong und lächelt zum Beweis. »Auch unsere Knochen werden schwach. Auffallend viele von uns haben missgebildete Gliedmaßen, wie O- oder X-Beine. Das Wasser verändert auch die Haarfarbe von Schwarz zu Gelb.« Wenn all das bekannt sei, warum trinkt man dann noch aus dem See, badet und wäscht sich darin? »Weil wir keine Alternative haben. Im Jahr 2010 wurde mal ein Trinkwassersystem installiert, das aber von den Regenfällen weggeschwemmt und nie repariert wurde. Also sind wir wieder auf das Seewasser angewiesen.« Warum man sein Lager nicht woanders aufgeschlagen habe in all den Jahren? »Alles, was wir können, ist fischen.«

Tilapia ist begehrt, aber landet immer seltener im Netz

Am nächsten Morgen ist die Oberfläche des Sees flüssiges Silber, in dem sich die Strahlen der aufgehenden Sonne spiegeln. Sanft schwappen Wellen gegen das Boot, das zwischen Komote und dem Festland treibt. Ein Netz, mehrfach geflickt, wird ausgeworfen, mit aufgeschnittenen Kanistern schöpfen die Fischer beständig Wasser aus dem Fußraum des Boots. »Ich fahre lieber mit meinem kleinen Floß aus Doum-Palmenstämmen und jage mit der Harpune«, sagt Akolong. Es sind jahrtausendealte Methoden, mit der die El Molo regelmäßig noch immer Welse, Karpfenfische und – laut Akolong das Beste – Tilapia fangen.

  • Wer sind die El Molo?

    Die Volksgruppen Kenias gehören zu den faszinierendsten der Welt. Aktuell sind 44 Gemeinschaften offiziell von der Regierung anerkannt, die basierend auf der Sprache in drei Gruppen eingeteilt sind: Bantu, Niloten und jene, welche kuschitisch sprechen.

    Die El Molo gehören der kuschitischen Sprachgruppe an. Früher unterhielt man sich in einer eigenen El-Molo-Sprache. Jedoch gibt es kaum noch jemanden, der sie beherrscht, weshalb die UNESCO sie im Jahr 2008 bereits als gefährdet eingestuft hat. Die Ältesten am Turkanasee kennen noch Kinderlieder, auch arbeitet man an einem Wörterbuch, um Kindern der Volksgruppe zumindest einzelne Vokabeln beizubringen.

  • Woher kamen sie?

    Es wird angenommen, dass die El Molo um das Jahr 1000 v. Chr. aus Äthiopien in das Turkanabecken eingewandert sind. Die meisten leben am Turkanasee im Nordosten Kenias. 1934 berichtete V. E. Fuchs von 84 Personen dort, 1958 zählte Paul Spencer 143 EI Molo und im Jahr 1973 ging man von 214 aus. Mittlerweile leben in der Region laut aktuellem Zensus rund 1100 von ihnen, der El Molo Julius Akolong spricht von 1404, »beziehungsweise mehr als 3000, wenn man auch die dazuzählt, die sich mit Turkana, Samburu oder anderen zusammengetan haben«. Es gibt eine Siedlung auf dem Festland und eine auf einer Insel, die vor wenigen Jahren noch eine Halbinsel war. Layeni und Komote sind etwa fünf Kilometer voneinander entfernt.

  • Wie überleben die El Molo?

    Die Menschen leben vom Fischfang. Früher bauten sie Flöße aus Doum-Palmenstämmen und fingen Fische mit Speeren aus Oryxhorn, fein geknüpften Netzen und scharf geschnitzten Harpunen. Heute besitzt die Gemeinschaft zudem Motorboote, mit denen die El Molo zum Fischen und zur Jagd ausfahren, Kinder zu Schule bringen und die Heiligtümer auf einer Nachbarinsel ansteuern.

    Lange Zeit jagten die El Molo Flusspferde, Krokodile und Schildkröten. Doch das hat die Regierung mittlerweile untersagt, um Tiere vor dem Aussterben zu schützen. Der Gemeinschaft fehlen damit allerdings Fleisch sowie Haut und Knochen, um Gegenstände wie Teller, Löffel und Schmuck zu fertigen. Die Folge: Die El Molo nutzen im Alltag immer mehr Kunststoffe, ohne Müll ordentlich entsorgen zu können.

  • Welche Rollen haben Frauen, welche Männer?

    Die El-Molo-Gesellschaft ist in sieben Sippen geteilt, die sich voneinander durch ihre verschiedenen Nahrungstabus und Verwandtschaften von ihren Nachbarn unterscheiden. Ein Ältestenrat leitet die jeweilige Gemeinschaft.

    Traditionell stellen die Männer der El Molo Eisengegenstände, Fischerboote und Holzarbeiten her. Sie gehen jagen und fischen. Die Frauen kümmern sich hingegen um die Kinder, den Haushalt und fertigen Körbe, Töpfe und Schmuck.

Obwohl die Fischer sich auf ihr Handwerk verstehen, muss an manchen Tagen ein Fisch für die gesamte Familie reichen. Weshalb so wenig ins Netz geht? »Weil der See schmutziger geworden ist«, sagt einer. »Weil wir auf dem tieferen See weiter rausfahren müssen, wo es windiger und gefährlicher für uns ist, da unsere Boote leicht kentern können«, sagt Akolong. »Weil die Fremden besser ausgerüstet sind und viel schneller viel fangen«, sagt der nächste. »Weil Dämme in Äthiopien mal mehr, mal weniger Wasser fließen lassen«, vermutet ein weiterer.

Tatsächlich ist die Ursache der Veränderungen unklar. Der Turkanasee bietet den Menschen in der Region zwar seit Menschengedenken Nahrung, Einkommen und Heimat, aber unter den großen Seen Afrikas ist er der am wenigsten erforschte. Immerhin: Es gibt Theorien. Sie beschäftigen sich mit der Besiedlung, der Geologie und den Folgen des Klimawandels im kenianisch-äthiopischen Grenzgebiet.

Steigt das Wasser als Folge des Klimawandels?

Der Turkanasee liegt im Ostafrikanischen Graben und damit an einem Ort, an dem die tektonischen Kräfte kilometerlange Klüfte in die Erdkruste reißen. Als wichtigster Wasserlieferant gilt der Fluss Omo, der ganzjährig Wasser führt und 90 Prozent des Zuflusses einbringt. Weil der See in einem endorheischen Becken eingebettet ist – Wasser fließt hinein, aber nicht hinaus –, ist es üblich, dass sich die Uferlinie saisonal verschiebt. Niederschlag und Verdunstung wirken im Wechselspiel. Allerdings verleibte sich der See zuletzt eben immer mehr Land ein.

Verantwortlich dafür ist unter anderem der Mensch und sein Eingreifen in die Natur. Wegen Abholzung und nicht nachhaltiger Landwirtschaft fließe inzwischen nachweislich mehr Wasser oberirdisch in den See, anstatt wie früher zu versickern, heißt es in einem Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) aus dem Jahr 2021. Davon abgesehen könnten laut Forschenden geologische Aktivitäten für folgenreiche Verwerfungen im Erdboden gesorgt haben: Wasser suchte sich eine neue Bahn und landet jetzt im Turkanasee. Zudem gab es zuletzt verstärkte Regenfälle in den Einzugsgebieten der Seen – der Klimawandel begünstige solche Extremwetter, schreiben die Autorinnen und Autoren in dem Bericht.

Und es soll noch nasser werden. Wissenschaftler haben simuliert, dass sich der Klimawandel in den kommenden 20 Jahren auf das Leben am Turkanasee merklich auswirken wird: Mehr Regen wird dem Report zufolge die Zuflüsse des Sees zu manchen Zeiten noch stärker füllen und den Wasserspiegel weiter ansteigen lassen. Kombiniert mit den häufigeren Überschwemmungen könnten dann, je nach Szenario, bis zu acht Siedlungen rund um den See regelmäßig unter Wasser stehen.

Julius Loyok Akolong | Als junger Mann hat der El Molo Krokodile gejagt, nur mit einem Speer bewaffnet. Heute fängt er bloß noch Fische, arbeitet zudem als Tourguide und führt etwa selbst gebaute Wasserspender vor.

Er sei es gewohnt, dass Teile seiner Heimat von Zeit zu Zeit geflutet sind, sagt Julius Akolong. Darauf hatte man sich eingerichtet. Doch der Anstieg der vergangenen Jahre sei unbezwingbar. »Jeden Morgen müssen die Schulkinder dieses Boot nehmen und hier aussteigen«, sagt Akolong nach der Rückkehr zum Festland. »Früher konnten sie kostenlos laufen, nun müssen sie für die Überfahrt bezahlen. Manche gehen deshalb nicht mehr hin.« Auch seien Teile des Schulgeländes unbenutzbar geworden, er zeigt auf ein Häuschen im Wasser: »Dort waren mal Toiletten, und sehen Sie die Reste des Zauns? Der hat mal vor Krokodilen geschützt. Jetzt kommen sie bis zum Schulhof.«

Ein Staudamm könnte die El Molo retten – oder vernichten

Gegen die Wassermassen helfen könnte ausgerechnet der Staudamm Gilgel Gibe III. Das gigantische Bauwerk liegt den Omo stromaufwärts in Äthiopien. Es galt von Anfang an als Katastrophe für Land und Leute und hat nach jetziger Kenntnis wahrlich nur wenige bereichert und stattdessen vielen Menschen geschadet. Vor allem den Bewohnern des Unteren Omo in Äthiopien. Sie wurden umgesiedelt, weil sie dem Damm und seiner Nutzung im Weg waren.

Den El Molo könnte der Damm mit seiner Macht über den Omo Zeit schenken. Wenn Gilgel Gibe III weniger Wasser passieren lässt, könnte das den klimawandelbedingten Anstieg ausgleichen. Auch der UNEP-Report skizziert das in einem Szenario: »Eine grenzüberschreitende Win-win-Situation, bei der Äthiopien mehr Wasser entnehmen könnte, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern, was gleichzeitig helfen würde, Überschwemmungen rund um den Turkanasee zu vermeiden.«

Bedenkt man, mit welchen Unsicherheiten solche Prognosen berechnet werden, wirkt der Ansatz äußerst optimistisch. Letztlich könnte der Damm ebenso zum Ende der El Molo beitragen, weil er Zuflüsse trockenlegt und noch mehr Menschen an den Turkanasee zwingt, während es immer weniger Fisch, fruchtbares Land und sauberes Wasser gibt.

Fest steht: Das Fischervolk der schwarzen Wüste versinkt derzeit. »Ich sorge mich um unsere Kultur«, sagt Akolong. Was er sich für seine Söhne wünscht? »Dass sie frei sein, in die Welt ausziehen und lernen können, um zurückzukehren und mit ihrem Wissen unsere Zukunft am See zu sichern.«

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