Parentifizierung: Über die Last, die Älteste zu sein

Caroline wusste schon als Jugendliche, dass viel von ihr erwartet wurde. Ob bei Familienfesten oder im Alltag: Oft lag es an ihr, einen Streit zu schlichten oder andere Probleme zu lösen.
Hannah hingegen spürte ihre Rolle erst mit 16 Jahren, doch dann mit aller Wucht. Ihr Vater hatte schon immer viel getrunken, aber eines Abends war es schlimmer als sonst. Sie hörte, wie er ins Haus stürmte und ihre Großmutter anschrie. Hannahs kleiner Bruder stand mittendrin. Sie bekam Angst: Was, wenn ihr Vater handgreiflich würde? Also packte sie ihren Bruder, brachte ihn in Sicherheit – und warf den Vater aus dem Haus.
Hannah und Caroline, heute 24 und 30 Jahre alt, heißen eigentlich anders; ihre Namen wurden zum Schutz aller Beteiligten geändert. Die beiden verbindet ein Gefühl: zu früh zu viel Verantwortung getragen zu haben. Oder wie es Caroline ausdrückt: »Ich war als Zehnjährige dafür zuständig, dass es an Weihnachten nicht komplett eskaliert.« In den sozialen Netzwerken posten beide heute über das Eldest Daughter Syndrome, auf Deutsch: das »Älteste-Tochter-Syndrom« oder »Große-Schwester-Syndrom«.
»Der Begriff Eldest Daughter Syndrome ist recht schwammig«, erklärt Kirsten von Sydow, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Medical School Hamburg. Er beschreibe angebliche Eigenheiten ältester Töchter, die häufig Verantwortung für jüngere Geschwister, den Haushalt oder auch emotionale Nöte von Eltern übernehmen, weil diese das nicht selbst können oder wollen. Eine klare Definition fehle.
»Wenn Eltern ihre Probleme ständig bei den Kindern abladen, bleibt für deren eigene Themen kaum Raum«Peter Titzmann, Entwicklungspsychologe
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass älteste Töchter in gewissen Bereichen mehr Verantwortung schultern als ältere Brüder oder jüngere Geschwister. Zum Beispiel, indem sie eher auf Geschwister aufpassen: »Mädchen übernehmen im Allgemeinen mehr Verantwortung als Jungen, Ältere mehr als Jüngere«, erklärt Entwicklungspsychologe Peter Titzmann von der Leibniz Universität Hannover. Die älteste Tochter erfüllt gleich beide Kriterien. Was natürlich nicht heißt, dass sie in jeder Familie die Hauptlast trägt.
Die Biologie sorgt dafür, dass Töchter von überforderten Müttern schneller erwachsen werden, wie eine Studie der University of California 2024 nahelegte. Untersucht wurde, wie sich die Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft unter starkem Stress stehen, später entwickelten. Ergebnis: Bei den betroffenen Töchtern, aber nicht den Söhnen, begann die körperliche Reifung früher als üblich. Mit anderen Worten: Ihre Kindheit endete biologisch gesehen früher – und so verlängerte sich die Zeit, in der sie jüngere Geschwister betreuen und die Mutter unterstützen konnten.
Entscheidungen zu treffen, lag häufig in Carolines Verantwortung: In welchem Restaurant geht man essen, welcher Urlaub wird gebucht? Oder sie musste zwischen ihrem Vater und den anderen zu vermitteln. Für ein Weihnachtsfest wollte ihre Schwester ein Fünf-Gänge-Menü kochen. Zu aufwendig, zu teuer, sagte ihr Vater. Die Schwester weinte. Nun fühlte sich Caroline, damals 18 Jahre alt, verantwortlich, zu trösten und zu ermutigen: »Lass dich von ihm nicht von deinem Weg abbringen.«
Auch Hannah sah sich ständig in der Pflicht, allen zu helfen. Sie versteckte die Flaschen ihres Vaters, um ihn vom Trinken abzuhalten. Sie versuchte, ihn zu beschäftigen, um seine Stimmung zu heben. Sie hörte der aus Portugal stammenden Großmutter bei Beziehungsproblemen zu und übersetzte Briefe und Behördentexte für sie. Zeit für sich selbst? Fehlanzeige. »In meiner Familie war kein Platz für mich«, sagt Hannah. »Alle hatten genug mit sich selbst zu kämpfen.«
Fachleute nennen das Parentifizierung: Kinder übernehmen Aufgaben, für die eigentlich Erwachsene zuständig sind. Das kann je nach Kultur unterschiedlich aussehen, wie Forschende der University of California bereits 2010 herausfanden. Sie untersuchten die Hirnaktivität von 25 Jugendlichen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, während diese entscheiden sollten, ob sie kleine Geldbeträge entweder für sich selbst behalten oder an ihre Familie weitergeben wollten. Das Ergebnis: Bei den Jugendlichen aus lateinamerikanischen Familien war das Belohnungszentrum stärker aktiviert, wenn sie das Geld der Familie schenkten. Sie erlebten es als Glücksmoment, wenn sie ihre Familie unterstützten. Bei den »weißen« Versuchspersonen, wie die Autoren es formulieren, war das eher der Fall, wenn sie das Geld für sich behielten.
Laut Titzmann spielen dabei nicht nur kulturelle, sondern auch ökonomische Gründe eine Rolle: »Gerade in den USA müssen die eingewanderten Eltern oft zwei oder drei Jobs machen, um über die Runden zu kommen«, erklärt er. »Dadurch müssen die Kinder dann im Haushalt oder bei der Geschwisterbetreuung einspringen und erleben das als hilfreich für die Familie.«
»Das Kind hat das Gefühl: Ich muss jetzt in die Bresche springen, sonst geht die Welt unter«Kirsten von Sydow, Psychotherapeutin
Hannah hat es nie als belastend erlebt, für ihre portugiesische Großmutter zu übersetzen. Doch »bei solchen Aufgaben kann es schnell kippen«, warnt Titzmann. Wenn Kinder etwa eine schlechte Nachricht überbringen, indem sie beispielsweise eine Diagnose oder einen Abschiebebescheid übersetzen, dann tragen sie eine psychische Last, die eigentlich die Erwachsenen selbst schultern sollten.
Wie kommt man aus der Rolle der ältesten Tochter wieder heraus? Hannah und Charlotte lernten zunächst durch Konflikte, mehr Abstand zu einem Teil ihrer Familie zu gewinnen.
Caroline hatte als älteste Tochter oft das Gefühl, das »Vorzeigekind« sein zu müssen. So folgte sie dem Beispiel ihres Vaters und gründete mit 20 eine eigene Firma. Doch eine Bemerkung eines Unternehmensberaters ließ sie zweifeln: »Warum machst du dich immer so abhängig davon, deinen Vater glücklich zu machen?« Zuerst tat sie das als Unsinn ab. Doch die Frage blieb ihr im Gedächtnis.
Bei Hannah geschah es etwas plötzlicher. Eines Abends stellte ihr Vater eine Frage. Worum es ging, daran kann sie sich nicht mehr erinnern, aber an die Reaktion auf ihre Antwort, die am Abend folgte. Er rammte die Tür ihres Zimmers ein, beleidigte sie, drohte, sie rauszuwerfen. Da fasste sie einen Entschluss: »Wenn du mir mein Zuhause nehmen willst, gehe ich lieber selbst.«
Die zwei Arten der Parentifizierung
Wann wird es zu viel? »Ein gewisses Maß an Verantwortung kann förderlich sein«, erklärt Titzmann. Er unterscheidet zwischen instrumenteller Parentifizierung – Aufgaben im Haushalt, Betreuung der Geschwister – und emotionaler Parentifizierung, bei der Kinder Eltern trösten oder deren Krisen abfangen. Instrumentelle Aufgaben können stärken. Emotionale Überlastung dagegen macht Kinder oft hilflos.
Entscheidend sei in beiden Fällen die Dosis, sagt die psychologische Psychotherapeutin Kirsten von Sydow, zu deren Forschungsschwerpunkten die Bindungstheorie und bindungsorientierte Therapie zählen. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter könne ihrem Kind erklären, dass das Geld knapp ist und deshalb keine großen Geschenke möglich sind. »Problematisch wird es, wenn sich die Mutter regelmäßig bei dem Kind ausweint – etwa über den Vater, der keinen Unterhalt zahlt.« In solchen Fällen wäre es besser, wenn die Mutter sich professionelle Hilfe sucht, sagt von Sydow. Neben ihrer Professur an der Medical School Hamburg bietet sie in eigener Praxis systemische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie an. Dabei beobachtet sie gelegentlich, dass ehemals »parentifizierte« Kinder selbst noch als Erwachsene in Loyalitätskonflikte geraten: Manche haben das Gefühl, sie dürften ihren Vater nicht lieben – aus Solidarität mit der Mutter. Oder sie fühlen sich weiterhin verantwortlich, Elternteile zu trösten oder deren Streitereien zu schlichten. Die Psychotherapeutin hat ein Buch über die Folgen der Parentifizierung im Erwachsenenalter geschrieben, das 2026 erscheint.
»Wichtig ist, dass die Arbeit der Kinder gesehen und anerkannt wird und dass sie auch einmal ›Nein‹ sagen können«Kirsten von Sydow, Psychotherapeutin
Titzmann betont, dass es entscheidend ist, in welchem Maß das Kind die Verantwortung trägt. »Wenn Eltern ihre Probleme ständig bei den Kindern abladen, bleibt für deren eigene Themen kaum Raum«, sagt er. Jugendliche sollten laut den Sozialwissenschaftlern Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel in dieser Phase bestimmte Aufgaben bewältigen: ihre sexuelle Orientierung erkunden, Werte aufbauen, selbstständiger werden. Dafür brauchen sie Rückhalt – und keine zusätzliche Last auf dem Rücken, etwa weil die Eltern ihre Sorgen bei ihnen abladen.
Auch für Kirsten von Sydow ist die Balance entscheidend. »Wichtig ist, dass die Arbeit der Kinder gesehen und anerkannt wird und dass sie auch einmal ›Nein‹ sagen können.« In gesunden Familien könne man darüber verhandeln, wie viel ein Kind übernimmt. Ein bisschen Mithilfe im Haushalt und bei der Betreuung jüngerer Geschwister ist nicht schädlich und fördert die Entwicklung von Kompetenzen und Selbstwertgefühl. Doch »wenn Eltern zum Beispiel durch eine psychische Krankheit in einer emotionalen Notlage sind, gibt es manchmal keinen Spielraum mehr«, erklärt sie. »Dann hat das Kind das Gefühl: Ich muss jetzt in die Bresche springen, sonst geht die Welt unter.«
Die Folgen von Parentifizierung
Wohldosiert kann das Übertragen von Verantwortung auch positiv wirken. Vor allem bei der instrumentellen Parentifizierung, also wenn man etwa öfter auf die Geschwister aufpassen muss oder bei Entscheidungen einbezogen wird. Laut Titzmann kann das den Selbstwert steigern, das Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, Lösungen für Probleme zu suchen.
Die emotionale Last ihrer Eltern sollten die Kinder allerdings nicht tragen, sonst verschwimmen die Rollen von Eltern und Kind. »Daraus entstehen Probleme, sich von den Eltern abzugrenzen«, sagt von Sydow. Auch später, in ihren Partnerschaften, komme es dann oft zu einer Schieflage: Sie sind diejenigen, die trösten, zuhören, sich für die andere Person aufopfern.
Nach den Konflikten mit ihren Vätern holten sich Hannah und Caroline jeweils professionelle Hilfe, die eine in einer Therapie, die andere bei einem Coaching. Hannah hat heute keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern. Dafür hat die inzwischen 24-Jährige gelernt, für sich selbst einzustehen. Sie merkte, dass sie immer wieder dieselben Beziehungsmuster wiederholte: Sie wählte Partner mit Drogen- oder Alkoholproblemen und versuchte, ihnen zu helfen, »vielleicht weil ich es bei meinem Vater nicht geschafft habe«, erzählt sie. Doch irgendwann entschied sie sich dafür, ihr eigenes Leben nicht mehr für andere Menschen aufzugeben.
Caroline bemühte sich wieder und wieder um Gespräche mit ihren Eltern über die Last, die sie tragen musste. Doch als sie merkte, dass sie kein Gehör fand, brach sie den Kontakt zu ihrem Vater ab. Das Verhältnis zur Mutter hat sich gebessert, nachdem Caroline vor zwei Jahren begann, in den sozialen Netzwerken über ihre Vergangenheit zu posten. Auch über das Eldest Daughter Syndrome; die älteste Tochter, die niemand hört und von der erwartet wird, dass sie alles auf die Reihe bekommt. Ihre Mutter war zunächst verletzt. Doch irgendwann saß sie bei Caroline im Garten, weinend. Sie sagte, sie habe nie gemerkt, dass sie ihre Tochter mit ihrem Druck überfordert hatte.
»Kinder müssen auch Frustrationen erleben. Daran wachsen sie«Kirsten von Sydow, Psychotherapeutin
Nach Ansicht beider Experten sollte das Thema Parentifizierung viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. »Es ist eine enorme Leistung, was Jugendliche alles stemmen, besonders in Familien mit Migrationshintergrund«, sagt Titzmann. Das müsse stärker wahrgenommen und gewürdigt werden.
Man dürfe Kindern durchaus auch Aufgaben zumuten, erklärt von Sydow. In ihrer therapeutischen Arbeit erlebe sie manchmal, dass Mütter ihrem Kind gar nichts abverlangen, nicht einmal kleine Trennungen zumuten, etwa es in den Kindergarten zu geben, weil sie fürchten, das könne das Kind zu sehr belasten. Eltern bräuchten ihren Nachwuchs aber nicht in Watte zu packen: »Kinder müssen auch Frustrationen erleben«, sagt die Professorin, »daran wachsen sie.« Wichtig sei, empathisch zu bleiben und darauf zu achten, wie es ihnen damit geht.
Hannah und Caroline haben das Gefühl, dass ihre Rollen in der Familie sie sehr geprägt haben. Hannah schreibt ein Buch für Kinder – darüber, wie sie mit Gefühlen umgehen können, falls doch mal alles zu viel wird. Caroline ist jetzt selbst Mutter. Ihrem Sohn will die 30-Jährige beibringen, dass Fehler erlaubt sind. »Ich hatte das Gefühl, immer an allem schuld zu sein«, sagt sie. »Das soll er nicht erleben.« Sie möchte ihn fordern, aber nicht überlasten.
Beide wissen: Ihre Erfahrungen lassen sich nicht ungeschehen machen. Aber sie können sie weitergeben – in den sozialen Netzwerken, in Büchern, im Alltag. Und so anderen helfen, die noch mittendrin stecken.
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