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Teilchenphysik: Das Neutron bleibt symmetrisch

Seit Jahrzehnten suchen Physiker nach einer Asymmetrie im Neutron. Das Problem: Sofern es überhaupt eine gibt, müsste sie winzig sein. Nun gibt es neue Daten. Und Ernüchterung.
Rotierende Atomkerne

Das Neutron – unverzichtbarer Bauteil aller Atomkerne mit mehr als einem Proton – ist nach außen hin zwar elektrisch neutral. Aber es setzt sich aus geladenen Bestandteilen zusammen. Diese wiederum könnten in seinem Inneren unsymmetrisch angeordnet sein. Dann würden sie das ganze Teilchen in einem elektrischen Feld ausrichten wie eine Kompassnadel im Magnetfeld – das Neutron besäße ein so genanntes elektrisches Dipolmoment.

Ein solches ist Bestandteil verschiedener Theorien, die das Standardmodell der Teilchenphysik erweitern und grundlegende Fragen zu den Vorgängen in den ersten Augenblicken nach dem Urknall beantworten sollen. Darum suchen Physiker schon seit Jahrzehnten nach einem elektrischen Dipolmoment des Neutrons. Das Problem: Sofern es überhaupt eines gibt, müsste es winzig sein – und die Experimente entsprechend empfindlich. Die bisher genauesten Grenzen hatten Wissenschaftler in einem Versuch von 2006 gezogen. Nun hat ein internationales Team um Philipp Schmidt-Wellenburg am Paul Scherrer Institut im schweizerischen Villingen den bekannten Wert mit sorgfältigen Messungen noch einmal deutlich verbessert und festgestellt: Er ist höchstens halb so klein wie bisher in den Lehrbüchern stand.

Teilchenphysik: Neutronen im freien Flug

Veröffentlicht am: 06.04.2020

Laufzeit: 0:03:22

Sprache: deutsch

Winziger Unterschied mit dramatischen Folgen

Hätte das Neutron ein elektrisches Dipolmoment, würde das auf die Spur jener Vorgänge führen, die im frühen Kosmos die Materie von der Antimaterie getrennt haben. Denn dass es seit dem Urknall nicht bloß reine Energie, sondern Galaxien und letztlich uns gibt, verdanken wir einer fundamentalen Asymmetrie.

Eigentlich sollten sich – auf Basis unserer Alltagserfahrungen und vernünftiger Anschauungen – die Naturgesetze nicht unterscheiden, wenn man alle Ladungen umkehrt, die Welt im Spiegel betrachtet oder die Zeit rückwärtslaufen lässt. Es ändert sich höchstens ein Vorzeichen. Bei Vorgängen, an denen lediglich die Gravitation oder die elektromagnetische Kraft beteiligt sind, ist das auch so. Doch seit Jahrzehnten enthüllen immer mehr Versuche kleine Unregelmäßigkeiten bei Wechselwirkungen in der subatomaren Welt.

Lediglich eine dreifach gespiegelte Realität sollte wieder vollends den bekannten Regeln folgen. Dazu muss man alle drei Operationen vereinen und sowohl Teilchen gegen Antiteilchen (englisch charge, C) als auch die Raumkoordinaten (Parität, P) sowie die Zeitrichtung (englisch time, T) wechseln. Das wird als CPT-Invarianz der physikalischen Gesetze bezeichnet. Bei weniger umfassenden Kombinationen von C-, P- oder T-Vertauschungen können sich die Zusammenhänge ändern. Besonders interessant sind für Theoretiker CP-Verletzungen, also abweichende Gesetzmäßigkeiten nach einer kombinierten Ladungs- und Raumspiegelung. Der sowjetische Physiker Andrei Sacharow zeigte in den 1960er Jahren: Die CP-Verletzung hat dafür gesorgt, dass nach dem Urknall mehr Materie als Antimaterie übrig geblieben ist.

Verzerrte Spiegelwelt

Heute suchen Teilchenphysiker mit diversen Experimenten Systeme, in denen die CP-Symmetrie gebrochen ist. So haben sie bereits mehrere entsprechende Prozesse entdeckt und ins Standardmodell eingebaut. Doch die bisher bekannten CP-Verletzungen reichen zusammengenommen nicht aus, um den Materieüberschuss im Kosmos zu erklären.

Wissenschaftler hoffen, eine weitere Asymmetrie auch beim Neutron zu finden. Hätte es nämlich ein elektrisches Dipolmoment, würde das die T-Symmetrie verletzen. Das liegt daran, dass das Neutron einen quantenmechanischen Drehsinn besitzt, den Spin. Unter Zeitumkehr würde er sich ändern, wie beim Video eines Kreisels, das man rückwärtslaufen lässt. Ein etwaiges elektrisches Dipolmoment wäre aus quantenmechanischen Gründen in gleicher Richtung orientiert wie der Spin. Doch die dafür ursächliche innere Ladungsverteilung würde sich bei der Zeitumkehr nicht vertauschen, so wenig, wie sich ein Kreisel in einem rückwärtslaufenden Film auf den Kopf stellt. Das verletzt die T-Symmetrie. Um die unumstößliche CPT-Invarianz insgesamt wieder herzustellen, gäbe es gewissermaßen zum Ausgleich auch eine CP-Verletzung.

Manche Theorien, die über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausgehen, liefern vergleichsweise große Werte für das elektrische Dipolmoment des Neutrons. Die bereits ins Standardmodell integrierten, bekannten CP-Verletzungen ergeben jedoch höchstens ein sehr kleines. Je genauer Physiker den Betrag des elektrischen Dipolmoments eingrenzen, desto besser können sie exotische Einflüsse abschätzen und unpassende Ansätze ausschließen.

Magnetisch-elektrische Kreiselspiele

Doch die Experimente mit Neutronen sind enorm aufwändig, weil ein etwaiges elektrisches Dipolmoment extrem klein wäre. Viele störende Einflüsse aus der Umgebung sind viel größer und müssen sehr genau bekannt sein, damit die Wissenschaftler sie herausrechnen können. Deswegen hat es mehr als ein Jahrzehnt gedauert, um im Labor vom bislang besten Wert (der auf einer 2015 vorgenommenen Neuauswertung des Experiments von 2006 beruht) zu dem zu kommen, den die Forscher nun in der Schweiz bestimmt haben.

Um das elektrische Dipolmoment des Neutrons zu vermessen, nutzten sie dessen Spin aus. Dieser innere Drehsinn richtet sich nach einem äußeren Magnetfeld aus, so ähnlich, wie sich ein rotierender Kreisel entlang der Schwerkraft aufstellt. Wenn man den Kreisel leicht anstößt, kippt er nicht um, sondern seine Drehachse kommt ins Trudeln, was man Präzession nennt. Eine ähnliche Bewegung führt der Spin des Neutrons im Magnetfeld aus, wenn man ihn etwas aus seiner Vorzugsrichtung auslenkt.

Würde das Neutron neben dem Spin zusätzlich ein elektrisches Dipolmoment besitzen, sollte dieses ganz analog an dem Teilchen zerren, sobald man ein elektrisches Feld anlegt. Schaltet man dieses zusätzlich zum magnetischen Feld an, kommen also beide Effekte zusammen. Das verändert die Präzessionsfrequenz. Diese wiederum lässt sich sehr genau bestimmen – in der Medizin ist das zu Grunde liegende Prinzip für die Magnetresonanztomografie wichtig.

Paella mit kalten Neutronen

Dafür haben die Forscher in der Schweiz »kalte« Neutronen verwendet und die damit sehr langsamen Teilchen über längere Zeit in einem Tank von der Größe einer Paellapfanne eingesperrt. Das ermöglicht präzise Messungen an ihnen. Die Wissenschaftler haben alle paar Minuten Pakete mit über 11 000 Neutronen eingeschleust, etwa eines pro Kubikzentimeter. Bevor die Teilchen durch Kollisionen mit den Wänden der Kammer wieder verloren gingen, konnten die Forscher sie untersuchen. Das haben sie im Lauf von zwei Jahren insgesamt mehr als 54 000-mal wiederholt.

Auf dem Weg zu höchster Präzision war das Magnetfeld der entscheidende Faktor, denn von ihm hängt die Stärke der Taumelbewegung ab. Die Forscher mussten es in der gesamten Apparatur exakt kontrollieren. Dabei half neben verbesserter Technik ein Trick: Gemeinsam mit den Neutronen befanden sich als Referenz Quecksilberatome in der Kammer. Auch sie richten sich magnetisch aus, doch ihre Elektronenhülle schirmt ein etwaiges elektrisches Dipolmoment des Kerns ab. Der Vergleich der Präzessionsfrequenzen von Neutronen und Quecksilberatomen lieferte dann genaue Werte, um verbliebene Unregelmäßigkeiten im Magnetfeld herauszurechnen.

Die Teams haben anschließend die Daten und alle möglichen Einflussfaktoren in zwei voneinander unabhängigen Gruppen eingehend untersucht und verglichen. Daraus haben die Forscher ein Gesamtergebnis errechnet – sie konnten kein elektrisches Dipolmoment feststellen. Statistische und systematische Effekte beschränken die Genauigkeit des Resultats auf eine neue Obergrenze von 1,8 · 10-26 Elektronenladungen mal Zentimeter. Das bedeutet: Wäre ein Neutron so groß wie die Erde, könnten die elementaren Ladungen darin höchstens um einen Abstand voneinander getrennt sein, welcher etwa der Länge eines Bakteriums entspricht.

Der Vergleich verdeutlicht die enorme Präzision der Messung, doch auch der neue Wert ist nur ein Zwischenstand auf dem Weg zu noch genaueren Untersuchungen. Seit dem Ende der Experimente 2017 bauen die Physiker bereits am n2EDM genannten Nachfolger. Er soll noch einmal deutlich bessere Einblicke in das Neutron liefern und damit in das grundlegende Ungleichgewicht des Kosmos.

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