Direkt zum Inhalt

Endometriose: Gewebe auf Abwegen

Millionen Frauen leiden unter einer häufig verkannten Krankheit, bei der sich Zellen aus der Gebärmutterschleimhaut im Körper ausbreiten und mitunter starke Schmerzen verursachen.
Unterleibsschmerzen

Jede Frau mit Endometriose kann ihre eigene Geschichte über den Moment erzählen, als ihr klar wurde, dass diese Bauchschmerzen nicht normal sind. Bei Emma geschah es, als sie eines Tages in der 10. Klasse während des Geschichtsunterrichts ohnmächtig wurde. Sie fühlte sich wie ein Kürbis, der von innen her ausgehöhlt wird. Ihr Frauenarzt vermutete außergewöhnliche Menstruationskrämpfe und verschrieb Antibabypillen. Das half nur wenig. »Er gab mir das Gefühl, ich wäre verrückt«, meint Emma, die inzwischen Ende 30 ist und ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. »Erst später begriff ich: Wenn eine Frau ein unklares medizinisches Problem hat, glaubt man ihr einfach nicht.«

Es dauerte sechs Jahre, bis ein Arzt durch eine Bauchspiegelung die Ursache der Schmerzen entdeckte. Jetzt wusste Emma, dass sie unter Endometriose leidet – einer Krankheit, bei der sich Gewebe der Gebärmutterschleimhaut (Endometrium) in anderen Teilen des Körpers festsetzt (siehe »Eine schmerzhafte Invasion«). Emmas Bauchorgane waren mittlerweile wie von einem Rankengeflecht umschlungen.

Vergleiche aus der Pflanzenwelt erscheinen bei der Beschreibung der Endometriose durchaus angebracht. Wie eine Schlingpflanze, die sich um Bäume und Sträucher windet, breiten sich versprengte Gebärmutterschleimhautzellen aus und hinterlassen vernarbtes Gewebe. Bauchorgane wie Blase, Darm oder Harnleiter können dabei befallen sein. Auch nach einer chirurgischen Entfernung wachsen schadhafte Stellen häufig wieder nach; mehr als die Hälfte der operierten Frauen müssen sich innerhalb von sieben Jahren einem zweiten Eingriff unterziehen. Den Chirurgen offenbart sich dann mitunter beim Öffnen des Bauchraums ein Netz aus vernarbtem Gewebe, das Darm, Eierstöcke und Nerven umhüllt oder die Eileiter derart zusammenquetscht, dass eine Eizelle nicht mehr hindurchpasst.

Trotz ihrer dramatischen Auswirkungen bleibt die Endometriose rätselhaft. Ärzte wissen, dass sie familiär gehäuft vorkommt und mit mehreren genetischen Varianten gekoppelt ist – die Erblichkeit beträgt schätzungsweise 50 Prozent –, aber Gene allein können weder ihr Auftreten erklären noch ihren Verlauf vorhersagen. Das Ausmaß der Narbenbildung sowie die Zahl und Lage der Schadstellen korrelieren kaum mit der Schwere der Symptome, zu denen neben Schmerzen auch starke Blutungen, Beschwerden beim Geschlechtsverkehr oder beim Stuhlgang sowie häufig Unfruchtbarkeit zählen. Mancher Patientin helfen Operationen und Medikamente; andere hingegen, bei denen nur wenig Gewebe betroffen ist, haben schon alles ausprobiert und leiden dennoch unter ständigen Schmerzen.

Rückfluss mit Folgen

»Als Erstes stellt sich die Frage: Wie kommt das Gewebe aus der Gebärmutter heraus?«, sagt die Bioingenieurin Linda Griffith vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge (USA). Die wissenschaftliche Leiterin des MIT Center for Gynepathology Research leidet selbst an Endometriose und ist von dem Rätsel fasziniert, das sich der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten stellt: Niemand weiß genau, wie oder warum Gebärmutterschleimhautzellen außerhalb ihres eigenen Organs auftauchen.

Die vorherrschende Theorie der retrograden Menstruation stellte der US-amerikanische Gynäkologe John Sampson (1873–1946) bereits vor fast 100 Jahren auf. Er beobachtete, dass Menstruationsflüssigkeit mit Uteruszellen zurück in die Eileiter fließen kann. Kleine Mengen davon, so seine Vermutung, bleiben an den Organen und der Innenhaut des Bauchraums haften oder schwimmen in der Bauchflüssigkeit und verbreiten sich auf weiter entfernte Stellen. Das passiert bei nahezu jeder Frau, wird allerdings in der Regel vom Immunsystem wieder behoben. Manchmal jedoch setzen sich nach Sampsons Hypothese die Zellen dort fest, wo sie zufällig gelandet sind. Das falsch platzierte Gewebe verhält sich dann wie in der Gebärmutter: Es bringt Hormonrezeptoren hervor und spricht auf die Signalstoffe an. Wie die Gebärmutterschleimhaut wächst es jeden Monat an, schüttet Hormone aus und wird zum Ende des Zyklus abgestoßen. Aber anders als bei der Menstruation bleiben Blut und Gewebe im Beckenraum gefangen und lösen hier Entzündungen aus, was im Lauf der Zeit zu Narbenbildung und Verklebungen führt.

Eine schmerzhafte Invasion | Nach der Theorie der retrograden Menstruation lösen während der Periode rückwärts durch die Eileiter in die Bauchhöhle fließende Gebärmutterschleimhautzellen Endometriose aus. Hier wächst das Endometrium weiter; mit dem Zyklus versucht der Körper es abzustoßen. Da aber Blut und Gewebe in der Bauchhöhle gefangen sind, vernarbt und entzündet sich die Stelle.

Adenomyose

Besonders schmerzhaft und zudem schwer diagnostizierbar ist es, wenn Endometriumgewebe in die muskulöse Gebärmutterwand einwächst.

Endometriom

Falsch platziertes Endometriumgewebe kann als Zyste auf dem Eierstock liegen, diesen blockieren und Schmerzen verursachen. Da solche Endometriome hauptsächlich altes Blut enthalten, werden sie auf Grund der dunklen Farbe auch als Teer- oder Schokoladenzysten bezeichnet.

Abgeklemmter Eileiter

Vernarbte Endometrium-Verklebungen können Organe umschließen und einquetschen. Mitunter wird dabei ein Eierstock oder ein Eileiter so eingeklemmt, dass Eizellen nicht mehr passieren können. Die Krankheit führt somit zur Unfruchtbarkeit.

Doch seit Sampsons Zeit streiten sich die Wissenschaftler über die eigentliche Ursache der Krankheit. Sind die abtrünnigen Gebärmutterschleimhautzellen die Schuldigen, die woanders gewissermaßen als Samen sprießen, oder liegt es am Umfeld im Bauchraum, das diesen Zellen den Boden bereitet? Mediziner auf der Seite der Samentheorie machen defekte Endometrium- oder Stammzellen verantwortlich. Für die Verfechter der Bodentheorie stellt Endometriose vor allem eine Fehlfunktion des Immunsystems dar. Eine dritte Theorie vereint beide Positionen und geht davon aus, dass der Boden den Samen verändert. »Frauen mit Endometriose hatten vermutlich normale Gebärmutterschleimhautzellen, bis die Schäden eintraten und das Gewebe veränderten«, erklärt Griffith, die in der Immunantwort die eigentliche Triebkraft sieht. Die dadurch ausgelöste Entzündung beeinflusst möglicherweise die Expression von Progesteron- und Östrogenrezeptoren in den Gebärmutterschleimhautzellen. Die Folge: Die Zellen schütten mehr Östradiol aus und treiben dadurch das Wachstum der Schadstellen an. Dass gesundes Gewebe tatsächlich die Krankheit auslösen kann, zeigten Tierversuche mit Pavianen, denen normale Uterusschleimhautzellen in die Bauchhöhle injiziert worden waren.

Der Gynäkologe Kevin Osteen von der Vanderbilt University in Nashville verdächtigt als mögliche Auslöser Umweltschadstoffe wie das extrem giftige industrielle Nebenprodukt Dioxin oder polychlorierte Biphenyle (PCB) – dioxinähnliche Chemikalien, die in Fleisch, Fisch, Milchprodukten und in unterschiedlichen Mengen auch im Körper jedes Menschen vorkommen. Nach Osteens These beeinträchtigen solche Giftstoffe die physiologischen Vorgänge in der wachsenden Gebärmutterschleimhaut. Als er und seine Kollegen menschliches Endometrium Dioxin aussetzten, neigte das Gewebe zu Entzündungen und reagierte weniger auf Progesteron. Das Hormon zügelt normalerweise so genannte Matrixmetalloproteinasen – Enzyme, die den allmonatlichen Wiederaufbau der Uterusschleimhaut regulieren. Ohne Progesteron könnte das Gewebe invasiv werden und sich über sein normales Revier hinaus in der Gebärmutter ausbreiten.

Linda Griffith glaubt, dass der Auslöser ihrer Krankheit, was auch immer es gewesen sein mag, schon lange zurückliegt. Retrograde Menstruation könne zwar viele Fälle erklären, aber vermutlich nicht ihren eigenen. Denn bei ihr setzten die quälenden Symptome schon am ersten Tag ihrer ersten Periode ein – lange bevor menstruationsbedingte Schädigungen Zeit gehabt hätten, sich zu entwickeln. Manche Wissenschaftler vertreten die Ansicht, bei solchen Patientinnen habe der Rückfluss von Endometriumzellen vielleicht bereits während einer normalen Vaginalblutung stattgefunden, die bei weiblichen Säuglingen häufig kurz nach der Geburt auftritt. Beim ungeborenen Mädchen im Mutterleib können ebenfalls zum Endometrium heranreifende Stammzellen außerhalb des Uterus landen; manchmal sogar an weit entfernten Stellen wie Lunge oder Gehirn, wie man bei Föten nach einer Fehlgeburt oder Abtreibung beobachtet hat. »Solche Zellen könnten dort lauern«, erklärt Griffith, »bis das Mädchen in die Pubertät kommt« – als tickende Zeitbomben. Ähnlich wie Krebs offenbart sich Endometriose somit als ein Leiden mit vielen Gesichtern. Oder wie Griffith es formuliert: »Es handelt sich vermutlich nicht um eine Krankheit, sondern um viele.«

Rückgang der Lebensfreude

Wenn Frauen über Endometriose reden, reden sie über Schmerzen. Sie berichten von Krankheitstagen in der Schule oder im Beruf, von verlorener Zeit und entgangenen Möglichkeiten, vom Rückgang der Lebensfreude. Sie schildern, wie sie ihren Kalender rund um ihre Periode organisieren oder eine Nacht unter Morphium in der Notaufnahme verbringen. Zu den schlimmsten Dingen, die sie zu hören bekommen, gehört die Behauptung, ihre Schmerzen seien »nur in ihrem Kopf«.

Dass Ärzte Leiden von Frauen herunterspielen, hat eine lange Tradition. So stellten US-Forscher 2008 fest, dass Patientinnen mit Bauchschmerzen in der Notaufnahme länger als Männer auf Hilfe warten müssen und mit einer um bis 25 Prozent geringeren Häufigkeit Opiate zur Schmerzlinderung bekommen. Nach einer früheren Studie erhalten männliche Patienten von Krankenschwestern eher Schmerzmedikamente, Frauen dagegen nur Beruhigungsmittel. Und selbst wenn ihnen ein Analgetikum gegeben wird, könnte es gefährlicher oder weniger wirksam sein, weil Arzneimitteltests meist an Männern oder männlichen Mäusen durchgeführt werden.

Selbst nachdem bei Emma endlich die richtige Diagnose gestellt worden war, musste ihr mit 26 Jahren ein Eierstock entfernt werden. Zehn Jahre später brachte sie eine Tochter zur Welt. Heute lebt sie relativ beschwerdefrei, aber noch immer bedauert sie die verlorenen Jahre ohne Diagnose und Therapie. »Wenn ich mein Leben noch einmal führen könnte«, sagt sie, »hätte ich früher auf Antworten gedrängt.« Als ihre Beschwerden begannen, wusste sie noch nicht einmal, dass es so etwas wie Endometriose überhaupt gibt. Und, so ergänzt sie, ihre Ärzte anscheinend auch nicht.

Tabus verhindern offene Gespräche über Schmerzen bei der Menstruation, beim Stuhlgang oder beim Sex

Ein Grund für die Ignoranz von Medizinern und sogar von Betroffenen liegt darin, dass die Qualen während der Menstruation aufflammen, wenn sich Frauen »erwartungsgemäß« nicht wohlfühlen. »Schmerzen sind sehr subjektiv«, erklärt der Gynäkologe Hugh Taylor von der Yale School of Medicine in New Haven. »Als einzig ›normal‹ gelten Krämpfe, und es lässt sich kaum feststellen, wann dieser Schmerz anormal wird.« Gesellschaftliche Tabus, fügt er hinzu, hätten früher offene Gespräche über Beschwerden bei der Menstruation, beim Stuhlgang oder beim Sex verhindert – alles Warnzeichen für Endometriose. »Glücklicherweise sinkt hier mittlerweile die Hemmschwelle.« Ärzte wie Patientinnen stören sich zunehmend nicht mehr daran, solche Themen offen anzusprechen und den Ursachen nachzugehen.

Mittlerweile werden auch die Betroffenen aktiv. »Schon seit Jahrzehnten bilden Patientenorganisationen Gemeinschaften, die Patientinnen unterstützen, informieren und aufklären«, sagt die Aktivistin Casey Berna. »Die frühere, herablassende Haltung zur Krankenversorgung gibt man immer mehr auf und hört auf die Stimmen der Betroffenen, insbesondere bei komplexen Krankheiten.«

»Wegen der derzeitigen Standards mussten Millionen von Patientinnen jahrzehntelang leiden«Casey Berna

Im April 2018 organisierten Berna und ihre Mitstreiter in Washington eine Protestdemonstration von Patientinnen vor der Zentrale der US-amerikanischen gynäkologisch-geburtshilflichen Fachgesellschaft ACOG (American College of Obstetricians and Gynecologists). Sie forderten, die ärztlichen Mitglieder der Gesellschaft besser diagnostisch zu schulen und den Patientinnen die neuesten Therapieverfahren zugänglich zu machen, statt etwa unnötige Gebärmutterentfernungen zu verschreiben. »Um es klipp und klar zu sagen«, betont Berna, »wegen der derzeitigen Standards mussten Millionen von Patientinnen jahrzehntelang leiden. Wir fordern die ACOG auf, mit Patientinnenvertretern und Endometrioseexperten zusammenzuarbeiten und alle Mittel zu nutzen, um diese Versorgungskrise in den Griff zu bekommen.«

Fachleute sind sich einig, dass zu viele Mediziner die Krankheit immer noch übersehen. »Kinderärzten und den meisten Hausärzten fehlt das nötige Wissen über Endometriose«, meint Taylor. Fehldiagnosen verschlimmerten oft das Leiden. »Am falschen Ort angesiedeltes Gebärmutterschleimhautgewebe enthält große Mengen des Enzyms Aromatase, das an den geschädigten Stellen für einen hohen Östrogenspiegel sorgt, was dann wiederum das Gewebswachstum anregt«, erklärt Pamela Stratton von den National Institutes of Health. Zusätzlich werden die Schadstellen resistent gegen Progesteron, das normalerweise Wachstum und Entzündungen drosselt. Der Krankheitsprozess verstärkt sich dadurch: Prostaglandine – schmerzvermittelnde Hormone, die in geschädigtem Gewebe gebildet werden – sowie entzündungsfördernde Zytokine wirken auf die Nervenenden und treiben die Schmerzempfindlichkeit in die Höhe. Im Lauf der Zeit bilden sich Verklebungen und beeinträchtigen die Funktion der Bauchorgane, was weiteres Leid verursacht.

In ständiger Alarmbereitschaft

Es gehört zu den seltsamen Aspekten der Endometrioseschmerzen, dass sie kaum im Zusammenhang mit der Schwere oder der Lage der geschädigten Körperstellen stehen. Eine Frau mit nur wenigen Läsionen hat unter Umständen das Gefühl, ihre Organe würden durch den Fleischwolf gedreht, während eine Patientin im schweren Stadium IV mit einem bereits angeschwollenen Bauch vollkommen beschwerdefrei ist. Manche Ärzte übersehen eine Adenomyose, bei der die Muskulatur der Gebärmutter befallen ist. Hier sind die Gewebeschäden auch bei einer Operation kaum zu erkennen, aber die Patientin erduldet Höllenqualen. Viele Frauen leiden selbst dann weiter, wenn die Läsionen sich zurückgebildet haben oder chirurgisch entfernt worden sind.

Organe auf einem Chip | Mit Multi-Organ-Chips sollen Medikamente zur Behandlung von Endometriose im Labor getestet werden. Eine solche Plattform enthält lebende Zellen, die zu für die Krankheit relevanten Miniaturorganen gruppiert sind und über eine Mischkammer zur Simulation des Kreislaufs verbunden werden. Die am Massachusetts Institute of Technology konstruierte Plattform »PhysioMimetics« besteht aus Gebärmutterschleimhaut und Eierstock, die wiederum mit Darm, Leber und Knochenmark verbunden sind, da diese Organe am Medikamentenstoffwechsel und der Immunantwort mitwirken.

An diesem Punkt beschränke sich das Problem nicht mehr auf den Bauchraum, erklärt Stratton, jetzt liege eine Störung des Zentralnervensystems vor. In allzu vielen Fällen hat sich das Gehirn so lange auf Schmerzen eingestellt, dass es sie selbst dann nicht mehr ausschalten kann, wenn die Ursache beseitigt wurde. In diesem Zustand der zentralnervösen Sensibilisierung liegen die neuronalen Schaltkreise quasi in ständiger Alarmbereitschaft. Dann löst jeder kleine Reiz, sei es der Eisprung, die Monatsblutung oder Sex, Beschwerden aus und erhält sie aufrecht. Nach Strattons Ansicht dürften hier ebenfalls genetische Faktoren eine Rolle spielen, die Details seien allerdings noch kaum geklärt. Schon bei winzigen Läsionen könnten die Betroffenen unter quälenden, chronischen Schmerzen leiden, was wiederum zur zentralnervösen Sensibilisierung führe, erklärt sie. Fatalerweise hören gerade solche Frauen am häufigsten von ihrem Arzt, es sei alles in Ordnung, denn viele Gynäkologen denken nicht an eine Sensibilisierung. »Sie sind keine Neurologen«, betont Stratton. »Deshalb berücksichtigen sie nicht, was Neurowissenschaftler mittlerweile über Schmerzen wissen.«

Stratton, die als Gynäkologin und Chirurgin in beiden Welten zu Hause ist, sucht nach Methoden, das Leiden zu bekämpfen und möglicherweise auch die zentralnervöse Sensibilisierung rückgängig zu machen. Wenn ein Medikament über längere Zeit Beschwerden lindern kann, setzt das Zentralnervensystem eventuell die Schmerzschwelle wieder herauf. Möglich wäre das mit Botulinumtoxin, im Volksmund Botox genannt: In den Beckenboden injiziert, lockert es Muskelkrämpfe und beeinflusst vielleicht die Substanzen, die an der Übertragung von Schmerzsignalen beteiligt sind. Nach Strattons Angaben wenden manche Ärzte Botox bereits außerhalb der zugelassenen Indikationen gegen Endometriosebeschwerden an. Ob die Behandlung wirklich hilft, muss sich noch zeigen.

Es geht um viel. Chronische Schmerzen verursachen Schlafprobleme, Ängste, Depression, Reizbarkeit und Denkstörungen. Mehrere Studien mit bildgebenden Verfahren wiesen Veränderungen der grauen Hirnsubstanz nach, darunter im für das Gedächtnis wichtigen Hippocampus und im präfrontalen Kortex, der für kognitive Funktionen zuständig ist. In einer kleinen Studie an Endometriosepatientinnen mit chronischen Unterleibsschmerzen beobachtete man eine Schrumpfung des Thalamus, der Inselrinde sowie anderer Hirnareale, die an der Schmerzsteuerung beteiligt sind. Wie Wissenschaftler der Northwestern University in Chicago entdeckten, kann die graue Hirnsubstanz bei chronischem Rückenleiden Jahr für Jahr 1,3 Kubikzentimeter einbüßen – was einer Alterung um 10 bis 20 Jahre entspricht.

Eine Sinfonie aus Hormonen und Immunsystem – allerdings ohne Dirigenten

Sprechen Patientinnen über ihre Ängste, nimmt unerfüllter Kinderwunsch einen hohen Stellenwert ein. Ungefähr die Hälfte aller unfruchtbaren Frauen leiden an Endometriose, wobei sich ihre Schmerzen in einer bitteren Ironie der Natur mitunter wie Wehen anfühlen. Ist der Eileiter blockiert, können die Eizellen unter Umständen nicht aus dem Eierstock in die Gebärmutter wandern; Entzündungen durch Narbenbildung oder chirurgische Eingriffe im Umfeld der Eierstöcke beeinträchtigen zusätzlich Qualität und Menge der Eifollikel. Entzündungsfördernde Zytokine und andere Substanzen in der Bauchhöhlenflüssigkeit vermindern die Beweglichkeit der Samenzellen in den Eileitern und schädigen sowohl Eizellen als auch Embryonen.

Hormonelle Probleme können ebenfalls auftreten. Die Befruchtung funktioniert wie eine Sinfonie mit einem Orchester aus Hormonen und dem Immunsystem – bei Endometriose hat der Dirigent den Saal verlassen. Normalerweise sinkt nach dem Eisprung die Konzentration der Östrogenrezeptoren in der Gebärmutterwand, um sie auf die Einnistung vorzubereiten. Der Progesteronspiegel steigt dagegen an und gibt damit der Gebärmutterschleimhaut das Signal, sich auf die Aufnahme und Ernährung der befruchteten Eizelle vorzubereiten. Das Hormon stellt die Gebärmutter ruhig und unterbindet Kontraktionen. Bei Endometriose jedoch spricht die Gebärmutterschleimhaut nicht auf Progesteron an, und sein Gegenspieler Östradiol behält die Oberhand – einer von mehreren Faktoren, die ein wenig freundliches Umfeld für den frühen Embryo schaffen. Und selbst wenn es zur Einnistung kommt, erhöht die Progesteronresistenz das Risiko für eine Fehl- oder Frühgeburt.

Noch komplizierter wird das Ganze durch die Bakteriengesellschaft in der Gebärmutterschleimhaut. Studien zufolge dominieren Lactobacillus-Bakterien im Uterus und wirken sowohl bei der Einnistung als auch bei der Ernährung des wachsenden Embryos mit. Wie Forscher spekulieren, könnte die durch Endometriose verursachte chronische Entzündung diese Bakterien abtöten und so in der Gebärmutter ein mikrobiologisches Klima schaffen, das die Entzündung aufrechterhält und zur Unfruchtbarkeit führt. Hierzu passen die vorläufigen Ergebnisse, die eine spanische Arbeitsgruppe 2016 veröffentlichte: Wenn andere Mikroorganismen statt Lactobacillus in der Gebärmutterschleimhaut vorherrschen, kommt es dreimal seltener zur Einnistung, und die Zahl der Fehlgeburten schießt in die Höhe. Auch wenn die Ursachen hierfür noch unklar sind, regen solche Studien weitere Untersuchungen an, die Rolle des Gebärmutterschleimhaut-Mikrobioms bei Endometriose genauer zu erforschen. Manche Ärzte werden vielleicht in Zukunft Bakterienkulturen von der Gebärmutterschleimhaut anlegen, bevor sie Unfruchtbarkeit behandeln.

Sieben Jahre vergehen im Schnitt bis zur Diagnose

Es gibt aber auch Erfolgsgeschichten. Je nach Krankheitsstadium werden 43 bis 55 Prozent aller Endometriosepatientinnen nach einer In-vitro-Fertilisation schwanger, und der Anteil lebend geborener Kinder liegt dann ähnlich hoch wie bei gesunden Frauen. Unter den hormonellen Bedingungen der Schwangerschaft lassen die Symptome in der Regel nach. Stillen mindert ebenfalls das Endometrioserisiko, berichten Wissenschaftler aus Boston, die 2017 einen Datenbestand von mehr als 70 000 Frauen gesichtet hatten: Alle drei Monate sank bei ausschließlich stillenden Frauen das Erkrankungsrisiko um 14 Prozent. Ob Hormone und immunologische Faktoren, die beim Stillen eine Rolle spielen, Endometriosesymptome lindern können, bleibt offen.

Wenn Ärzte über Endometriose reden, nennen sie stets das Siebenjahresproblem: Ein so langer Zeitraum vergeht im Schnitt zwischen dem Auftreten erster Beschwerden und der Diagnose – dann sind vielfach schon große Schäden eingetreten. Derzeit erfordert die Diagnose eine Bauchspiegelung (Laparoskopie). Viel einfacher wäre es, ließe sich die Krankheit über schlichte Blut-, Speichel- oder Urintests dingfest machen; hierfür braucht man allerdings geeignete Marker.

Seit einigen Jahren konzentrieren sich Wissenschaftler in mehreren Instituten auf microRNA (miRNA) – kurze, nicht codierende RNA-Sequenzen, welche die Genexpression regulieren. 2016 identifizierte Hugh Taylors Arbeitsgruppe drei miRNAs, die bei Endometriosepatientinnen im Vergleich zu Kontrollpersonen in größerer Menge vorkommen. Taylors Unternehmen DotLab will mit Hilfe dieser miRNAs einen ersten diagnostischen Speicheltest für Endometriose entwickeln, der nach seinen Angaben mit einer Genauigkeit von weit über 90 Prozent funktionieren wird. Damit könnten Frauen früher eine Therapie erhalten, und es ließe sich leichter feststellen, ob ein verschriebenes Medikament auch wirkt. Schließlich stellt eine Diagnose allein noch keine Gewähr für eine Symptomlinderung dar. Manche Arzneien helfen am Anfang, verlieren aber dann ihre Wirksamkeit. Andere lösen Symptome aus, die denen der Wechseljahre ähneln.

Medizinischer Avatar aus Hautzellen

Wenn es nach der Gynäkologin Julie Kim von der Northwestern University in Chicago geht, sollte in Zukunft die Diagnose mit einer Hautbiopsie beginnen: Zellen aus einem winzigen Stück Haut, das vom Oberschenkel oder von der Hüfte entnommen wird, ließen sich gentechnisch in ihrer Entwicklung zurückdrehen – als induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) können sie dann zu jeder anderen Körperzelle heranwachsen, seien es Leber-, Nieren- oder Gebärmutterschleimhautzellen. Jeder derartige Zelltyp kann als Keim für ein »Mikroorgan« auf einem elektrischen Schaltkreis von der Größe eines Tabletcomputers dienen, der den gesamten Organismus repräsentiert – gewissermaßen als medizinischer Avatar.

Mehrere solcher Avatare mit einem Multi-Organ-Chip gibt es bereits (siehe »Organe auf einem Chip«). Die Arbeitsgruppe von Teresa Woodruff von der Northwestern University, zu der auch Kim gehört, nannte ihr Gerät EVATAR: ein weibliches Fortpflanzungssystem im Miniaturformat, einschließlich Eierstöcken, Eileitern, Gebärmutter, Gebärmutterhals und Leber. Wie bei anderen Patientenavatar-Systemen liegen die »Organe« von EVATAR in münzgroßen Gefäßen, die auf einer mit einem Computer verbundenen Platte stehen. Dazwischen fließt durch Mikrokanäle künstliches Blut, das Hormone, Nährstoffe sowie Wachstums- und Immunfaktoren transportiert. Wie sein biologisches Vorbild hat der EVATAR einen monatlichen Zyklus, blutet jedoch nicht.

Da jedes Mikroorgan auf der EVATAR-Plattform den einzigartigen genetischen Bauplan einer bestimmten Patientin enthält, ließe sich feststellen, welche Medikamente ihr mit der größten Wahrscheinlichkeit helfen werden. Möglich wäre auch, experimentelle Wirkstoffe zu testen, welche die Gewebeschäden der Gebärmutterschleimhaut vermindern sollen, erklärt Kim. Während des Menstruationszyklus könnten die Wissenschaftler die Daten aus allen Organen sammeln und analysieren, um so auf Zellebene festzustellen, ob das Medikament wirkt und ungefährlich ist. Mit solchen Experimenten ließen sich Tests an Versuchstieren und Menschen vermeiden, deren Übertragbarkeit auf betroffene Frauen unklar ist; gleichzeitig eröffnet sich der Weg zu einer personalisierten Medizin.

Maßgeschneiderte Medikamententests und Krankheitsmodelle im Computer

Eine Machbarkeitsstudie mit dem EVATAR haben die Forscher der Northwestern University erfolgreich abgeschlossen; nach Kims Angaben kann es allerdings etwa fünf Jahre dauern, bis eine Plattform für Endometriose entwickelt ist. Bis zur Anwendung bei einzelnen Patientinnen dürfte entsprechend mehr Zeit vergehen.

Eine maßgeschneiderte Medikamentenerprobung per Patientenavatar bleibt laut Linda Griffith wohl noch unerschwinglich, dennoch spielen Multi-Organ-Chips bei der weiteren Erforschung der Endometriose eine wichtige Rolle. Statt eine Plattform für einzelne Patientinnen anzuwenden, hält Griffith es für sinnvoller, Endometriosepatientinnen ähnlich wie bei Brustkrebs anhand molekularer Marker in Kategorien einteilen, um dann für jeden einzelnen Typ passende Wirkstoffe zu entwickeln. »Jede Patientin ist anders«, betont sie, »aber wir glauben, dass es Gruppen mit gemeinsamen Merkmalen gibt.«

Um solche Gruppen aufzuspüren, bräuchte man zunächst Krankheitsmodelle im Computer sowie einige hypothetische Klassifikationsschemata, erläutert Griffith. Danach müsste man mehrere hundert Patientinnen aus zahlreichen Kliniken rekrutieren, um die Modelle an ihnen zu erproben. Griffith prophezeit, dass sich dabei drei bis fünf Gruppen mit unterschiedlichen Fehlfunktionen herauskristallisieren werden, die jeweils charakteristische molekulare Kennzeichen tragen.

Produktivität der betroffenen Frauen sinkt enorm

Auch wenn Multi-Organ-Chips und andere Hilfsmittel viel versprechende Möglichkeiten eröffnen, bleibt für die Medizinergemeinde noch ein langer Weg, bis man Endometriose wirksam bekämpfen kann. Die Finanzierung der Erforschung dieser Krankheit steht nach wie vor in keinem Verhältnis zu ihren gesellschaftlichen Kosten: Laut einer 2011 erschienenen Studie der World Endometriosis Research Foundation, in der mehr als 1400 Frauen in zehn Ländern befragt worden sind, sinkt durch die Krankheit die Produktivität der betroffenen Frauen am Arbeitsplatz um nahezu elf Stunden pro Woche, also um mehr als ein Viertel bei einer 40-Stunden-Woche. Allein in den Vereinigten Staaten gehen damit der Gesellschaft durch verlorene Arbeitsproduktivität und unmittelbare Kosten für die medizinische Versorgung jährlich 62 Milliarden Dollar verloren. Andererseits wurde 2018 in den USA nach Angaben der National Institutes of Health für die Diabetesforschung nahezu eine Milliarde Dollar ausgegeben; für die Erforschung von Endometriose, von der ungefähr der gleiche Anteil der Frauen betroffen ist, standen jedoch nur sieben Millionen Dollar zur Verfügung.

Glücklicherweise, so Griffith, ziehe das Forschungsgebiet begabten Nachwuchs an, sei die Arbeit doch »wissenschaftlich faszinierend« und gesellschaftlich relevant. Schließlich gibt es außer einem chirurgischen Eingriff immer noch keine Heilung. Helfen würde, wie Emma meint, »das subjektive Fehlen von Schmerzen«. Lassen die chronischen Beschwerden nach, heilt auch der Geist. Die graue Hirnsubstanz kann nachwachsen, und das tut sie. Doch wie eine Schlingpflanze lässt sich Endometriose kaum zurückdrängen – dazu bedarf es der gemeinsamen Anstrengungen von Wissenschaftlern und Ärzten, aber auch des finanziellen Engagements einer Gesellschaft, die diese Krankheit endlich ernst nimmt.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Cosar, E. et al.: Serum MicroRNAs as Diagnostic Markers of Endometriosis: A Comprehensive Array-Based Analysis. In: Fertility and Sterility 106, S. 402–409, 2016

Moreno, I. et al.: Evidence that the Endometrial Microbiota Has an Effect on Implantation Success or Failure. In: American Journal of Obstetrics & Gynecology 215, S. 684–703, 2016

Xiao, S. et al.: A Microfluidic Culture Model of the Human Reproductive Tract and 28-Day Menstrual Cycle. In: Nature Communications 8, 14584, 2017

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.