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Energetisches Sanieren: Eine Hülle für Häuser

Damit für Strom und Heizen weniger Treibhausgase entstehen, haben die Niederlande eine spezielle Häusersanierung konzipiert. Über alte Gebäude wird eine neue Fassade gestülpt.
An diesen Reihenhäusern in Nottingham wurde 2019 eine der ersten seriellen Sanierungen à la Energiesprong in Großbritannien vorgenommen.

In einem sonst ruhigen Wohngebiet außerhalb von Den Haag künden das Heulen der Hebebühne und das Zischen der Schweißgeräte von einer Revolution im Wohnungsbau. Über mir auf der Hebebühne, die neben einem Mehrfamilienhaus steht, hantieren vier Arbeiter. Sie lassen an der Hauswand eine gedämmte Fassade herabgleiten, die mehr als zwölf Meter breit und ein Stockwerk hoch ist. Das bräunliche Ziegelmauerwerk und die dreifach verglasten Fenster der neuen Fassade passen genau auf die Öffnungen des Gebäudes.

Durch die alten Fenster und Ziegelwände zog kalte Luft ins Haus und entwich warme Luft aus dem Inneren. Ein Großteil der Heizenergie ging so verloren. Die neue Fassade soll das nun verhindern. Sie besteht vor allem aus feuerfestem Schaumpolystyrol. Der Stoff setzt sich aus winzigen Kunststoffperlen zusammen, in die Luft eingeschlossen ist und die so eine dicke Dämmschicht bilden. Außen ist die Wand mit unzähligen dünnen Tonplättchen bedeckt, die Fachleute als Ziegelriemchen bezeichnen.

Die auf den Millimeter genau vermessene, vorgefertigte Gebäudehülle war im Frühsommer, als ich den Vorort besuchte, zusammen mit einem weiteren Dutzend solcher Fassaden an Häusern in Den Haag angebracht worden. Die Montage stellt eine von vielen Maßnahmen dar, mit denen die niederländische Regierung energetisch ineffiziente Sozialwohnungen in Niedrigenergiebauten umwandeln will – ohne dass dafür Putz von den Wänden geklopft oder ein Dachboden neu ausgebaut werden muss. Dazu werden die Gebäude in eine Art Thermojacke aus Dämmmaterial gehüllt. Auf dem Dach wird ein ebenfalls vorgefertigtes hochisolierendes Leichtbaumaterial samt Solaranlage aufgebracht.

Warum nicht mehr Menschen ihre Häuser energetisch sanieren

In Industriestaaten wie den Niederlanden geht ein großer Teil der Treibhausgasemissionen auf Energieverluste in Wohngebäuden zurück. Die Häuser auf die bisherige Art und Weise energetisch zu sanieren und so den Kohlenstoffdioxidausstoß zu verringern, ist oft aufwändig und teuer. Für einen Umbau müssen nicht nur mehrere Handwerker bestellt und die Dämmplatten einzeln angelegt werden, sondern womöglich auch Vorausdarlehen eingeholt werden. All das schreckt Hausbesitzer und Vermieter ab, trotz des langfristigen ökologischen und finanziellen Nutzens.

Vor etwas mehr als zehn Jahren reagierte die niederländische Regierung auf die negative Klimabilanz des Wohnungssektors. Sie setzte ein gemeinnütziges Programm namens Energiesprong (zu Deutsch »Energiesprung«) auf und investierte zunächst in die Planung. Ingenieure, Bauunternehmer, Baustofflieferanten, Geldgeber, Aufsichtsbehörden und Vermieter sollten ein Konzept erarbeiten, wie sich Häuser seriell sanieren lassen.

Das Ergebnis ist ein Verfahren, das in den Niederlanden seither an hunderten Häusern zur Anwendung kam. Zunächst scannt ein Lasergerät automatisch einige Stunden lang die gesamte Außenfassade eines Gebäudes. Die aufgezeichneten Maße werden an eine Fabrik übermittelt. Dort werden Wände, Fenster, Türen und Solardächer im seriellen Fertigbauverfahren hergestellt und passend für jedes Gebäude zusammengefügt. Anschließend transportiert man die fertigen Fassaden und Dächer zum Haus und bringt sie an. In der Folge, so berichten Gebäudeeigentümer und Bewohner, würden die jährlichen Energiekosten auf nahezu null fallen – dank der Solaranlage. Sie speist überschüssigen Strom ins Netz ein. Zumindest im Sommer lassen sich so Kilowatt an den örtlichen Netzbetreiber verkaufen.

Fassade auf Fassade | Im französischen Longueau wurden 2018 – wie hier im Bild – gedämmte Wandelemente installiert.

Die durchschnittlichen Kosten für die Nachrüstung der Einfamilienhäuser, bei denen es sich meist um Reihenhäuser handelt, belaufen sich in den Niederlanden auf etwa 70 000 bis 80 000 Euro. Das sei vergleichbar mit routinemäßigen Wartungsausgaben, die nicht zur Energieeinsparung vorgenommen werden. In einem Stadtviertel in Utrecht wurden 2019 ein Dutzend Häuser und etwa 250 Wohnungen seriell saniert. Anschließend sank der Energiebedarf von zirka 225 auf durchschnittlich 50 Kilowattstunden pro Quadratmeter. Was darüber hinaus noch an Energie nötig war, wurde mit Solarstrom abgedeckt.

Die Einsparungen sind beträchtlich. Einige Hauseigentümer haben sich daher für eine Dämmung à la Energiesprong entschieden, ohne staatliche Förderung in Anspruch zu nehmen – obwohl das für die Solaranlage möglich wäre. Inzwischen haben auch andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, die USA und Deutschland begonnen, Programme nach dem Energiesprong-Konzept aufzusetzen. So hat die New York State Energy Research and Development Authority 30 Millionen US-Dollar für ein eigenes Programm namens RetrofitNY bereitgestellt. Hier zu Lande beschäftigt sich die bundeseigene Deutsche Energie-Agentur mit dem Energiesprong-Prinzip; das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz finanziert die Entwicklung und Umsetzung des Programms.

Die Herstellung der Dämmfassade läuft seriell

Die Fassaden, die in Den Haag angebracht wurden, hat die Firma RC Panels hergestellt. Das Unternehmen, das östlich der Stadt in Lemelerveld liegt, ist auf die Dämmung von Reihen- und Mehrfamilienhäusern spezialisiert. Die Leiterin der Geschäftsentwicklung Lianda Sjerps-Koomen führt mich durch eine Fabrikhalle von der Größe eines Flugzeughangars und zeigt mir, wie Arbeiter aus verschiedenen Rohmaterialien eine Wandfassade zusammenbauen. Vakuumkräne befördern die Platten auf ein Fließband, wo eine Maschine dann Fenster- und Türöffnungen ausschneidet. Produktionsroboter stanzen zuletzt Ziegelriemchen auf die Fassade.

»Für die Energiewende müssen wir Millionen von Häusern sanieren«, sagt Sjerps-Koomen. Ihre Fabrik stellt jedes Jahr Dämmwände für hunderte Gebäude in den Niederlanden her – in Serienproduktion ähnlich wie eine Auto- oder Möbelfabrik. Dieses Konzept sei allerdings auf dem Markt für Häuserdämmung noch nicht sehr verbreitet, und entsprechend wenig sei die Produktionsweise daran angepasst, erklärt Sjerps-Koomen.

Bei Factory Zero, einem anderen niederländischen Unternehmen, haben Ingenieure ein Dachmodul entwickelt, in dem ein Elektroboiler für Warmwasser, eine Wärmepumpe für die Beheizung des Hauses, ein »Smart Meter« (ein intelligentes Messsystem) und ein Solarstromanschluss stecken. Diese Teile werden oft bei einer energetischen Sanierung eingebaut, normalerweise aber Stück für Stück von verschiedenen Bauunternehmen. Die Komponenten müssen zudem an das jeweilige Gebäude angepasst werden, was entsprechend teuer sein kann.

Wenn bei Factory Zero eine Bestellung eingeht, dauert es nur einige Tage, bis ein Kran das fertige Modul auf ein Hausdach hievt. Das Unternehmen produziert etwa 1000 Module pro Jahr, pro Montage fallen etwa 13 500 Euro an. Nach Aussage der Firma würde ein vergleichbarer Umbau, bei dem mehrere Handwerker beauftragt werden müssen, fast 30 000 Euro kosten. Allerdings sollten die Kosten noch weiter sinken, wenn in Zukunft mehr Häuser nachgerüstet werden. Das könnte zur Folge haben, dass beispielsweise ganze Gemeinden ihre Bauten im großen Stil nachrüsten lassen und die Dämmung dann innerhalb der regulären Gebäudeinstandhaltung finanzieren könnten.

»Wir versuchen, den Preis für ein modernes Energiesystem auf ein Niveau zu senken, das für jeden erschwinglich ist«, sagt Jasper Van den Munckhof, einer der Gründer des Unternehmens. Seiner Meinung nach müsste die serielle Umrüstung von Häusern jedoch deutlich ausgeweitet werden, damit die Regierung ihr Emissionsziel bis 2050 erreicht. Die Niederlande müssten »jeden Tag 1000 Sanierungen zum Nullenergiehaus durchführen«, erklärt er. »Derzeit schaffen wir gerade mal zehn.«

Wie Energiesprong zum Erfolg werden soll

Donal Brown ist Fachmann auf den Gebieten Nachhaltigkeit und Niedrigenergiebau, er leitet die britische Firma Sustainable Design Collective und hat jüngst eine Studie darüber mitverfasst, wie sich das Energiesprong-Konzept auf das Vereinigte Königreich übertragen ließe. Seiner Meinung nach hängt der Erfolg des Konzepts von der massenhaften Produktion ab. Energiesprong sei ein völlig anderes Geschäftsmodell, das auch von Seiten der Politik unterstützt werden müsse. Die niederländischen Stromversorger gestatten dafür den Hauseigentümern, im Sommer den selbst erzeugten Solarstrom ins Netz einzuspeisen, und rechnen das als Kredit an. Wäre dem nicht so, müsste die im Winter verbrauchte Energie bezahlt werden. Außerdem wäre eine neue Gebäudehülle laut Brown nur dann bezahlbar, wenn sehr viele Häuser umgestaltet würden. Damit die Kosten auf rund 45 000 Euro pro Haus sinken, müssten tausende Module zur selben Zeit installiert werden.

In Deutschland wurde die erste serielle Sanierung im Februar 2021 fertig gestellt. In Hameln bekamen drei Häuser aus den 1930er Jahren eine neue Energiesprong-Fassade. Laut der Deutschen Energie-Agentur sind die Gebäude nun als klimaneutral einzustufen. »Eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach erzeugt über das Jahr gerechnet so viel Energie, wie für Heizung, Warmwasser und Strom benötigt wird«, heißt es in einer Pressemitteilung. Sensoren in den Häusern messen den Verbrauch. Ein weiteres Umbauprojekt läuft zurzeit in Köln, und bundesweit gibt es viele Interessenten. So weit wie in den Niederlanden ist man aber freilich noch nicht.

Auch in den USA schreitet die Entwicklung nur sehr langsam voran. Zwar bieten einige Bundesstaaten den Hausbesitzern Vergünstigungen an, wenn sie ihre Bauten energetisch sanieren lassen. Doch zurzeit ist ein solcher Umbau mühselig und verlangt die Beauftragung mehrerer Firmen und Handwerker. Die Folge: Kaum jemand dämmt sein Haus. Und dadurch werden auch die Treibhausgasemissionen nicht nennenswert verringert.

Im US-Bundesstaat New York hat die Energieforschungsbehörde nun einen Teil ihrer 30 Millionen US-Dollar für RetrofitNY in einen Wettbewerb investiert. Zunächst sollen Wohngebäude für eine Nachrüstung ausgewählt werden und teilnehmende Unternehmen anschließend für die Gebäude ein kosteneffizientes Sanierungskonzept vorschlagen. Die Geschäftsführerin der Behörde Doreen Harris sagt, sie wolle als eine Art Katalysator wirken, damit mehr Investitionen in die serielle energetische Nachrüstung von Wohnhäusern fließen – auch um zu zeigen, dass dieses Konzept tatsächlich funktionieren kann. Ihr Team hat kürzlich 1,8 Millionen US-Dollar für ein Projekt frei gegeben, das insgesamt 20 Millionen US-Dollar benötigt und für das neun Gebäude mit 146 Wohnungen im Stadtteil Bushwick in Brooklyn saniert werden sollen. Der gemeinnützige Eigentümer des Komplexes geht davon aus, dass die Sanierung den Energieverbrauch langfristig um 80 Prozent senken wird – und damit die jährlichen Kosten um zirka 180 000 US-Dollar zurückgehen werden. Sollte das Projekt erfolgreich sein, entscheiden sich vielleicht mehr Menschen dafür, über ihre Gebäude eine Styroporhülle zu stülpen.

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