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Energiewende International : Der Heizkörper Europas

Island ist Musterschüler bei sauberen Energien. Nun strengt sich das Land an, seine immensen Ressourcen noch viel stärker auszubeuten, und lockt energieintensive Industrien und Dienstleister aus aller Welt mit seinen Ressourcen. Auch Europa will direkt versorgt werden.
Geothermie auf Island

Noch 1940 sah es auf Island aus wie fast überall: Importierte Kohle deckte den Strombedarf fast vollständig, geheizt wurden die Häuser an der "Rauchbucht" Reykjavík mit Erdöl und Torf. Heute scheint es Island dagegen geschafft zu haben, denn die benötigte Energie liefern Wasserkraft und Geothermie komplett. Die Erdwärme befeuert gleichzeitig fast alle Häuser. Die letzten fossilen Energiequellen – Benzin und Diesel – sollen spätestens dann ersetzt werden, wenn Wasserstoff- oder Elektromobile verfügbar sind. Der Weg scheint sich auch volkswirtschaftlich zu lohnen: Die nationale Energiebehörde Orkustofnun schätzt, dass sich das kleine Land jährlich Einfuhren von 350 Millionen Euro für fossile Energieträger erspart. Das entspricht 1100 Euro für jeden der 320 000 Einwohner, die gleichzeitig durch saubere Luft profitieren. Aus dem vorletzten Environmental Performance Index der Yale University von 2010 ging Island auch dadurch als ökologischster Staat der Welt hervor, worauf viele Isländer stolz sind. Doch was den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien angeht, sind viele von ihnen kaum enthusiastisch. Denn die Wirtschaft des Landes wandelt sich derzeit rasant.

Aluminiumschmelze im Fjord | Das Aluminiumwerk Fjardarál ("Fjordaluminium") im Osten sorgte landesweit für Proteste. Für die energieintensive Industrieanlage wurde im ökologisch sensiblen Hochland der Kárahnjúkar-Staudamm gebaut.

Schwerindustrie im hohen Norden

In den letzten Jahrzehnten arbeiteten Unternehmen beständig daran, auf Island immer mehr Elektrizität zu gewinnen: Der Stromverbrauch pro Kopf ist heute mit Abstand der größte der Welt. Es sind allerdings nicht die Isländer selbst, die solche Energiemengen konsumieren, sondern die Schwerindustrie. Allein drei große Aluminiumschmelzen entlang der Küsten benötigen heute drei Viertel der elektrischen Leistung – Privathaushalte dagegen kaum noch fünf Prozent. Längst planen dutzende Interessenten, ihre stromintensiven Betriebe ebenfalls auf die Insel zu verlagern. Laut der größten Gewerkschaft Islands ASÍ sind das allein sechs neue Aluminiumschmelzen, mehrere Siliziumfabriken und eine Papierfabrik, die bis 2016 ihre Arbeit aufnehmen wollen. Auch mehrere große Rechenzentren, die weltweit einen wachsenden Anteil des Stromangebots nutzen, sind im Bau.

Immer mehr erneuerbare Energie | Islands Energieversorgung ist zu einem sehr großen Anteil erneuerbar. Doch das Potenzial ist dennoch kaum ausgeschöpft.

Grund für die einwandernden Industrien ist der global steigende Strompreis. Länder wie Deutschland blicken aus anderen Gründen interessiert über den Atlantik. Denn hier zu Lande destabilisieren Windräder und Fotovoltaikmodule zunehmend das Stromnetz, während dort Wasser und Erdwärme beständig das Inselnetz versorgen. Eine Anbindung ans Festland liegt nahe und wird bereits seit Jahrzehnten erwogen. Bis vor Kurzem waren die Leitungen aber noch zu teuer, was sich aber schon durch die steigenden Energiepreise in Europa schnell ändert. Technisch scheint die Fernleitung sogar bereits länger machbar: Seit vier Jahren verbindet etwa ein 580 Kilometer langes Gleichstromkabel Norwegen mit den Niederlanden. Eine Leitung von Island nach Schottland wäre gerade mal doppelt so lang, nach Deutschland kaum viermal länger.

Ein Masterplan für Energie

Wo die Nachfrage groß ist, muss das Angebot Schritt halten. Vor 15 Jahren gab die Regierung deshalb einen Masterplan in Auftrag. Wissenschaftler und Energieexperten sollten noch ungenutzte Ressourcen erkunden und vorschlagen, wie diese erschlossen werden können und welche davon eher schützenswert sind. Mehr als 100 denkbare Standorte für neue Kraftwerke wurden untersucht und viele davon aus ökologischen Gründen wieder verworfen. Das verbleibende Ausbaupotenzial ist dennoch enorm: Schon in wenigen Jahren sollen neue und erweiterte Geothermiekraftwerke mehr als doppelt so viel Energie liefern als heute, und die Ausbeute der Staudämme soll um über ein Viertel gesteigert werden. Weiteres Potenzial schlummert in bisher unzureichend untersuchten Gebieten. Gemeinsam mit ihnen ließe sich die bereits heute immense Stromproduktion Islands gut verdoppeln, wenn denn die Isländer diesen Wandel akzeptieren. Denn die sonst als technikfreundlich geltenden Inselbewohner sind kaum positiv gestimmt, überwiegend wegen des neuesten Großkraftwerks: Der Bau des Kárahnjúkar-Staudamms im abgelegenen Hochland war eng mit Islands ökonomischem Kollaps verknüpft.

Großer Staudamm | Der Kárahnjúkar-Staudamm liegt nördlich des Vatnajökull, der größten Eiskappe Europas. Richtung Norden verlassen etliche Flüsse den Gletscher, von denen drei an einem fast 200 Meter hohen Damm aufgestaut werden.

Island galt kurz vor dem Jahrtausendwechsel als Boomnation Europas, nicht nur im Finanzbereich. Davíd Oddson, der als Zentralbankchef während des Zusammenbruchs von 2008 stark angegriffen wurde, ist noch Premierminister und lässt weltweit Broschüren verteilen: Die "niedrigsten Energiepreise Europas" würden einladen, "neue Verträge" zu schließen. Die Interessenten stehen Schlange, und der weltweit drittgrößte Aluminiumkonzern Alcoa schlägt ein. In den wenig entwickelten Ostfjorden soll Islands größte Verhüttungsanlage entstehen und der dafür benötigte Strom aus einem neuen Staudamm kommen, der ebenfalls Superlative verdient. Mit einer Leistung von 690 Megawatt speist er eines der größten Wasserkraftwerke Europas. Durch das Aufstauen dreier Gletscherflüsse verschwinden dutzende Wasserfälle – und eine ökologisch sensible Gegend im subarktischen Hochland geht im 57 Quadratkilometer großen Staubecken unter.

Ein Jahr nach Fukushima und dem deutschen Atomausstieg ist die Energiewende hier zu Lande in vollem Gang. Aber wie sieht es in anderen wichtigen Industriestaaten oder aufstrebenden Nationen wie China aus? Steht die Kernkraft auch dort vor dem Aus? Wie verknüpfen Brasilien oder die USA Ökonomie und Ökologie? In einer mehrteiligen Serie werfen wir einen Blick auf diese Staaten.

Entsprechend stark ist die Gegenbewegung, getragen von einer breiten Bevölkerungsschicht, von Fischern, Biologen und Künstlern. Ein ganzes Album der Band Sigur Rós mit dem Titel "Heima" beschäftigt sich mit dem Verlust an "Heimat" durch den Kárahnjúkar-Damm. Kurz vor Ende der Bauarbeiten gehen nochmal 12 000 Isländer in Reykjavík auf die Straße – immerhin vier Prozent der gesamten Bevölkerung. Die ökologischen Risiken seien zu groß, das Hochland Nistplatz für viele Vögel und Lebensraum wild lebender Rentiere. Gleichermaßen richtet sich die Bewegung gegen die Regierung, die viel zu schwach gewesen sei gegenüber ausländischen Investoren: "Dies ist die größte unberührte Landschaft Europas", schreibt Journalistin Alda Sigmundsdóttir in ihrem Blog, "und sie wird ohne weitere Gedanken an den höchsten Bieter verkauft."

Von außen beeinflusst wird das kleine Island vor allem, nachdem im Zuge der Finanzkrise die drei größten Banken des Landes vom Staat übernommen wurden und dieser in enorme Zahlungsnöte geriet. Doch ausgelöst wurde die finanzielle Schieflage schon vorher: durch Investitionen in den 1,2 Milliarden US-Dollar teuren Kárahnjúkar-Staudamm. Für ihn musste sich das staatseigene Energieunternehmen Landsvirkjun hoch verschulden.

Die dazukommenden Zahlungsnöte durch die Finanzkrise machten den Staat schließlich angreifbar von außen: Der kanadische Energiekonzern Magma Energy nutzte die ökonomische Schwächung Islands geschickt, um sich die Mehrheit des zweitgrößten Energieunternehmens HS Orka zu verschaffen. Die übernommene Firma dringt nun darauf, die geothermischen Ressourcen im Südwesten stärker als bisher geplant auszubeuten – und könnte über das Ziel hinausschießen. Islands Energiedirektor Gudni Jóhannesson äußerte sich daraufhin in einem Zeitungsinterview besorgt, dass das Gestein unter dem Kraftwerk dabei zu schnell ausgekühlt werden könnte. Danach bräuchte es wohl etliche Jahrzehnte, bevor es wieder der Energiegewinnung dienen kann.

Wärme aus der Tiefe | Islands zweitgrößtes Geothermiekraftwerk Nesjavellir fördert 120 Megawatt Strom – und Wärme für den Großraum Reykjavík, die über ein gut ausgebautes Fernwärmenetz transportiert wird. Daneben setzt das Kraftwerk in geringem Umfang Treibhausgase frei.

Die vielen geplanten Erdwärmekraftwerke werden aber auch aus anderen Gründen angegriffen. Kritiker wie der Umweltaktivist Jaap Krater halten es für fragwürdig, den Erdwärmestrom massiv auszubauen, weil er selbst zum Treibhauseffekt beitragen würde. Zumindest in Islands vulkanischen Hochtemperaturgebieten entstünden durch Geothermie vergleichbar große Mengen Treibhausgase wie durch fossile Gaskraftwerke. Nach Angaben des isländischen Umweltministeriums werden die Emissionen aber schon durch die neuen Aluminiumfabriken stark ansteigen, die trotz des sauberen Stroms eigenes CO2 ausstoßen. Islands Emissionen würden demnach bis 2020 um zwei Drittel höher liegen als 1990, dem Referenzjahr des Kiotoprotokolls. Möglich werde das durch großzügige Ausnahmeregelungen im Vertragstext für Länder, die Schwerindustrie mit erneuerbaren Energien betrieben.

Verlorenes Gleichgewicht

Islands Gesellschaft gibt heute ein eigentümliches Bild ab: Während viele Länder der Welt vehement versuchen, stärker auf erneuerbare Energien zu setzen, nimmt auf der Insel der Widerstand dagegen weiter zu, nicht zuletzt wegen der übermächtigen Investoren aus dem Ausland. Er ist vielleicht auch der "atavistischen Xenophobie gegenüber fremden Barbaren an Islands Küsten" geschuldet, vermutet die Journalistin Sigrún Davídsdóttir in ihrem Blog. Denn Isländer gelten als stolzes Volk, das über die Jahrhunderte wusste, sein kulturelles Erbe zu bewahren. Darin spielt auch die Natur eine bedeutende Rolle.

Tatsächlich sind es gerade tiefgründige Gedanken über die Landschaft ihrer Insel, die den Bewohnern seit der Besiedlung im 9. Jahrhundert das Überleben sicherten. Damals waren die Küstenregionen noch dicht bewaldet, das Hochland von einer dicken Humusschicht bedeckt. Die eintreffenden Normannen verfeuerten die Wälder, die so nahe der Arktis nur langsam nachwuchsen. Zu viele Ziegen und Schafe dezimierten währenddessen die Vegetation im Hochland, den bleibenden Mutterboden hatte der strenge Wind schnell weggeblasen. Dort blieben tote Geröllhalden zurück, auf denen sich nur langsam wieder Leben ausbreitete. "Aus diesen Erfahrungen zogen die Isländer eine Lehre", schreibt der US-Biologe Jared Diamond in seinem Buch "Kollaps": "In diesem Land kann man sich den Luxus des Experimentierens nicht erlauben." Streng genommen sei die Insel also schon heute "das ökologisch am stärksten geschädigte Land Europas". Ein Zustand, den selbst saubere Energien gefährden könnten.

  • Quellen
Steingrímsson, B. et al.: Master Plan for Geothermal and Hydropower Development in Iceland, Vortrag auf der UN-Konferenz Resource Assessment and Environmental Managment, El Salvador, 2007

Íslandsbanki: Iceland Geothermal Energy Market Report Management, 2011

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