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Energiewende: Windenergie - Streitfall Rotmilan

Der Ausbau der Windkraft in Deutschland lahmt, und der Naturschutz soll dafür mitverantwortlich sein. Wird der Rotmilan durch die Windräder gefährdet - oder nicht?
Rotmilan im Schwebeflug

Es waren gute Nachrichten – für die Windbranche ebenso wie für den Naturschutz. »Der Bestand des Rotmilans ist langfristig stabil«, teilte der Branchenverband Windenergie im August 2019 mit und berief sich dabei auf Daten, die das Bundesumweltministerium im Rahmen seiner Berichtspflicht im Naturschutz an die EU-Kommission nach Brüssel gemeldet hatte.

Dass ein Industrieverband sich zum Befinden einer Vogelart äußert, ist eher ungewöhnlich, hat aber einen guten Grund. Denn der Rotmilan (Milvus milvus), ein gut bussardgroßer Greifvogel mit leuchtend hellrotem Gefieder und tief eingegabeltem Schwanz, hat sich in den letzten Jahren zu so etwas wie dem Wappenvogel im Konflikt zwischen Energiewende und Naturschutz gemausert. Keine andere Tierart steht so oft im Mittelpunkt von Genehmigungsverfahren und Gerichtsprozessen, wenn es um den Neubau von Windrädern geht.

Weil die Vögel nach deutschem und europäischem Recht streng geschützt sind und einem Tötungsverbot unterliegen, folgen Gerichte in Streitfällen oft den Richtlinien der staatlichen Vogelschutzwarten und genehmigen den Bau von Windrädern nur dann, wenn sie weiter als 1500 Meter vom nächstgelegenen Rotmilanhorst entfernt sind. Das sei nötig, um die für Kollisionen mit den Rotoren der Windräder besonders anfälligen Greifvögel zu schützen, argumentieren etwa Naturschutzverbände. Auch in der vom Landesumweltamt Brandenburg geführten zentralen »Schlagopferdatei« rangiert der Rotmilan mit fast 500 unter Windrädern tot aufgefundenen Vögeln weit oben. Allerdings fallen durch die Tabuzonen für neue Windräder viele Flächen für die Windkraftnutzung weg.

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Ausbau der Windkraft verläuft schleppend

Die wegen des schleppenden Ausbaustands ohnehin unter Druck stehende Windenergiebranche beklagt deshalb seit Längerem eine »überzogene, unverhältnismäßige Auslegung des Artenschutzes«. Das sei das Haupthemmnis für den weiteren Ausbau der Windenergie und das Erreichen des Ziels eines Ökostromanteils von 65 Prozent bis 2030. In einem jüngst veröffentlichten »Aktionsplan« fordert der Branchenverband ein Umsteuern beim Artenschutz: »Im Zweifel für die Windenergie« müsse das Prinzip künftig lauten.

Dass ausgerechnet dem Rotmilan trotz der Errichtung von mittlerweile rund 30 000 Windrädern von der Bundesregierung eine stabile Population bescheinigt wird, erscheint vielen in der Branche als Bestätigung für die überzogenen Sorgen des Artenschutzes. Die Zahlen des Umweltministeriums – ermittelt vom unabhängigen Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) – seien ein »gutes Signal, weil damit anschaulich wird, dass sich der Bestand dieser wertvollen Art unabhängig vom Ausbau der Windenergie entwickelt«, erklärte der Bundesverband Windenergie. Der Rotmilan mutierte vom gefiederten Bremsklotz für den weiteren Ausbau der Windenergie zu einer Art Kronzeuge.

Wissenschaftler widersprechen

Dieser Lesart widerspricht jetzt vehement ausgerechnet jener Verband, auf dessen Daten sich der Windbranchenverband bezieht. In einer eigenen Analyse zu den Auswirkungen der Windkraft auf die Bestände des Greifvogels kommen die Forscher des DDA nämlich zu einem exakt gegenteiligen Ergebnis wie der Windenergieverband.

Die Statistiker und Biologen betrachteten nicht allein die bundesweite Gesamtzahl der Milanpaare, sondern untersuchten auch die regionale Bestandsentwicklung der Greifvögel in 285 Landkreisen. Diese setzten sie in Beziehung zur Zahl der dort errichteten Windkraftanlagen. »Die Auswertungen zeigen einen negativen Zusammenhang zwischen der Bestandsentwicklung regionaler Rotmilanpopulationen und der Windkraftanlagendichte«, fassen die Autoren ihre Ergebnisse im Fachmagazin »Der Falke« zusammen.

Vereinfacht ausgedrückt: je mehr Windräder, desto negativer die Bestandsentwicklung. Die negative Korrelation sei zudem statistisch hoch signifikant. In Landkreisen mit einer hohen Dichte an Windrädern seien die Populationen sogar teilweise stark eingebrochen. Die größten Brutpaarverluste habe es in Teilen Sachsen-Anhalts, Ostwestfalens und Mittelhessens gegeben, jeweils dort, wo sich Windräder konzentrierten. Dass die Milanpopulation insgesamt bundesweit mit 14 000 bis 16 000 Brutpaaren noch stabil sei, liege einzig daran, dass Rotmilane in Regionen mit wenig oder gar keinen Windrädern im Einklang mit der Entwicklung in den europäischen Nachbarländern zunähmen und die Verluste in den Windkraftgebieten noch kompensierten, so das Fazit der Studie.

Im Bestand gefährdet | Der Rotmilan besitzt seinen Verbreitungsschwerpunkt in Deutschland – und ist durch den weiteren Ausbau der Windkraft im Überleben bedroht. Das geht aus verschiedenen Studien hervor.

Erkenntnis mit Sprengkraft

Die Darstellung des Branchenverbands, die Windenergie habe keinen negativen Einfluss auf die Milanbestände, sehen die Forscher mit ihrer Studie widerlegt. »Die selektive und stark verkürzte Interpretation unserer Daten ist wissenschaftlich nicht seriös und führt zu nicht haltbaren Schlussfolgerungen«, kritisiert DDA-Geschäftsführer Christoph Sudfeldt den Verband. Die DDA-Studie besitzt Sprengkraft. Denn mit ihren Ergebnissen lässt sich die von der Branche und Teilen der Regierungskoalition im Ringen um das Erreichen der Klimaziele angestrebte Lockerung des Artenschutzes zur Schaffung neuer Flächen für die Windkraft nicht rechtfertigen. Die Datenlage tauge nicht als »Freifahrtschein für eine Aufweichung des Naturschutzrechts«, sagt Sudfeldt, »wenn es uns eigentlich darum gehen muss, gemeinsam eine tragfähige Balance zwischen den Anforderungen des Artenschutzes und einer erfolgreichen Energiewende zu finden«.

Auch die Haltung einiger Umweltverbände könnte durch die neuen Erkenntnisse unter Druck geraten. Zuletzt hatten sich namhafte Organisationen wie WWF, Deutsche Umwelthilfe und Greenpeace den Forderungen der Windbranche nach Lockerungen im Artenschutz angenähert. In einer gemeinsamen Erklärung mit Verbänden aus der Energiewirtschaft hatten sie eine Festschreibung eines »überwiegenden Interesses« der Windenergie im Bundesnaturschutzgesetz gefordert, das »Ausnahmen vom Artenschutz unter klar definierten Voraussetzungen rechtfertigt«.

Andere Umweltverbände wie der NABU hatten sich den Forderungen nicht angeschlossen. Sie sehen sich nun bestätigt. Zwar hält auch der NABU Ausnahmeregelungen im Artenschutz grundsätzlich für denkbar, um den Ausbau der Windkraft zu ermöglichen. Allerdings müssten zuvor zwingend in der jeweiligen Region Hilfsprogramme für die dort betroffene Vogelart umgesetzt werden, um beispielsweise über eine Aufwertung des Lebensraums ein verbessertes Nahrungsangebot zu erreichen. Verliefen diese Programme erfolgreich und sorgten sie für »mindestens stabile« Bestände, könne dies den Weg für den Neubau von Windrädern auch über Ausnahmeregelungen frei machen. »Ein Durchwinken von artenschutzrechtlichen Ausnahmen ohne entsprechende effektive Schutzprogramme verbietet sich aber«, betont der Leiter des Bereichs Ornithologie und Vogelschutz beim NABU, Lars Lachmann.

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