Enheduana: Worte wie Donnerhall

Der erste mit Namen bekannte Autor der Menschheitsgeschichte war eine Frau. Sie hieß Enheduana, lebte in Mesopotamien, war die Tochter eines Königs – eines Reichsgründers gar – und verfügte als Hohepriesterin des Stadtgottes von Ur über die höchste religiöse Autorität in diesem Reich.
Enheduana schrieb, um die Geschehnisse ihrer Zeit zu beeinflussen. Das tat sie auf eine Weise, die heute befremdlich erscheinen mag: Sie verfasste Hymnen, religiöse Anrufungen, aber mit politischer Botschaft, gedichtet in sumerischer Sprache, wie sie um 2300 v. Chr. in Gebrauch war.
Damit ist Enheduana zugleich etwa anderthalb Jahrtausende älter als Homer, der Urahn der westlichen Dichtkunst, von dem nicht einmal sicher ist, ob er je gelebt hat oder ob seine Epen in Wahrheit nicht das Werk mehrerer Dichter waren. An Enheduanas Existenz hingegen besteht kein Zweifel. Man weiß, wann und wo sie lebte, kennt ihren Beruf und einige Details ihrer Biografie. Obendrein gibt es archäologische Belege für ihre Existenz, unter anderem ein zeitgenössisches Bildnis.
Priesterin am Altar
Bei Ausgrabungen während der 1920er-Jahre kamen in Ur (heute Irak) Bruchstücke einer Alabasterscheibe zum Vorschein. Einst war das Objekt sieben Zentimeter dick und maß im Durchmesser etwa 25 Zentimeter. Auf einer Seite der Scheibe sind in einem Relief vier Personen bei einer Kulthandlung aufgereiht. Hinter dem Mann an der Spitze, der an einem Altar ein Trankopfer darbringt, ist eine prunkvoll gekleidete weibliche Figur mit auffälligem Kopfschmuck zu sehen. Sie dürfte die Priesterin sein, die das Ritual leitet. Ihr folgen noch zwei weitere Personen. Wer diese beiden sind, ist unklar, aber über die Identität der zentralen Figur gibt eine Inschrift auf der Rückseite Auskunft:
»Enheduana, Priesterin des [sumerischen Mondgottes] Nanna, Gemahlin des Nanna, Tochter Sargons, des Königs der Welt, errichtete einen Altar im Tempel der Inanna-Zaza in Ur und nannte ihn Tisch des Himmels.«
Was bedeuten diese Zeilen? »Hier wird gesagt, dass Enheduana die Tochter des Sargon von Akkad ist, der politisch mächtigsten Person – das folgt allerdings erst auf der zweiten Ebene«, erklärt Annette Zgoll, Professorin für Altorientalistik und Mythosforschung an der Georg-August-Universität Göttingen. »Zuerst sagt die Inschrift, dass Enheduana die Priesterin und die Gemahlin des Mondgottes und Stadtgottes Nanna ist. Das bedeutet, dass sie in ihrer eigenen Zeit als göttlich angesehen wurde!« Einerseits war sie Priesterin für den Mondgott, andererseits huldigte sie auch Inanna, einer Schutzgöttin über das Reich von Akkad. Im alten Mesopotamien war es nicht ungewöhnlich, dass Geistliche im Dienst eines bestimmten Gottes standen, privat aber eine andere Gottheit bevorzugten.
Die Königstochter verfügte über eine Entourage, deren Aufgaben und Namen teils überliefert sind. So fand sich in einem Grab in Ur ein Rollsiegel, das folgende Inschrift trägt: »Enheduana, Tochter des Sargon von Akkad, Ilumpalil ist ihr Friseur.« Ähnliche Siegel verrieten, dass ein gewisser Adda ihre Güter verwaltete und einer ihrer Schreiber Sagadu hieß. Der Name einer anderen Person ist nur unvollständig erhalten, er endete auf -kituschdu. Enheduana wird noch viele weitere Untergebene gehabt haben. Schließlich war sie nicht nur die Tochter eines Königs, sondern hatte neben ihrer religiösen Autorität auch einigen politischen Einfluss und gebot über ausgedehnte Ländereien.
Enheduanas Vater Sargon von Akkad, ein Abkömmling semitischer Einwanderer in Sumer, gelang es um 2300 v. Chr., die bis dahin unabhängigen Stadtstaaten Mesopotamiens zu unterwerfen. Das so entstandene Reich von Akkad war der erste dynastisch regierte Flächenstaat der Geschichte und erstreckte sich phasenweise vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf. Vermutlich um seine Macht zu festigen, ernannte er seine Tochter zur Hohepriesterin im Heiligtum des Mondgottes Nanna in Ur, einer der größten und bedeutendsten Städte des Zweistromlands.
Königstochter, Hohepriesterin, Schmuck des Himmels
Welchen Namen die Königstochter bei ihrer Geburt bekam, ist unbekannt. Enheduana hieß sie erst bei Antritt ihres Amtes, der bereits in früher Jugend erfolgt sein dürfte. Der Name ist aus den sumerischen Worten »en« (Hohepriesterin), »hedu« (Schmuck) und »ana« (Himmel) zusammengesetzt und bedeutet: Hohepriesterin, Schmuck des Himmels. Als solche sollte sie auf religiösem Weg bekräftigen, was ihrem Vater militärisch und politisch gelungen war: die Vereinigung von Sumer und Akkad samt den angrenzenden Gebieten.
Sargons zentralistischer Ansatz stieß bei den Sumerern, deren Zusammenleben über Jahrhunderte hinweg durch Stadtstaaten geprägt war, nicht unbedingt auf Zustimmung. Immer wieder schlossen einzelne Städte Bündnisse und erhoben sich gegen den Dynastiegründer und seine Nachfolger, die Sargoniden. Von den Ereignissen während eines dieser Aufstände erzählt das wohl bedeutendste Werk der Priesterin, das aus etwa 100 Tontafeln rekonstruiert werden konnte und nach den ersten drei Wörtern im Text benannt ist: »Nin me šara«, Herrin der unzähligen göttlichen Mächte.
»Dieses Werk ist einzigartig in der unmittelbaren Art und Weise, wie es Gedanken, Gefühle und Geschehnisse beschreibt«, sagt Zgoll, die auch die neueste deutsche Übersetzung des Liedes erarbeitet hat. »Das liegt daran, dass es mitten in einem dramatischen Bürgerkrieg als ritueller Text für die höchste Göttin geschrieben ist, um sie zum Handeln zu bewegen.«
Akkad in Aufruhr
Der historische Hintergrund ist in Grundzügen bekannt. Als Sargons Enkel Naramsin (2254–2218 v. Chr.) regierte, kam es zu größeren Aufständen im Reich. In Ur, wo die inzwischen wohl über 70 Jahre alte Enheduana seit Jahrzehnten als Hohepriesterin waltete, ergriff ein Mann namens Lugalane die Macht. Bei ihm dürfte es sich um den in der altbabylonischen Überlieferung bezeugten Lugalanna handeln, einen Rebellen gegen Naramsin. Er gab vor, seine Herrschaft sei durch den Mondgott Nanna legitimiert, also durch ebenjenen Gott, dem die Priesterin ihr Leben geweiht hatte.
Enheduana, immer noch die höchste religiöse Autorität im Land, verweigerte jedoch Lugalane die Anerkennung als Stadtfürst. Der Rebellenführer enthob sie daraufhin des Amtes, vertrieb sie aus Tempel wie Stadt und legte ihr nahe, sich das Leben zu nehmen. »Wie eine Schwalbe hat er mich vom Fenster weggescheucht«, schrieb sie im Exil, das sie wahrscheinlich in dem Provinzstädtchen Girsu fristete. »Die wirkmächtige Tiara des hohepriesterlichen Amtes hat er mir entrissen, hat mir einen Dolch gegeben und gesagt: ›Das ist nun dein Schmuck!‹«
An ihrem Zufluchtsort verfasste die Priesterin das Lied, das Inanna dazu bewegen sollte, zugunsten Enheduanas und der sargonidischen Dynastie in das Geschehen einzugreifen. Zunächst aber schilderte sie der Göttin ihre unmittelbare Not:
»Während ich den Korb für das Ritual trug, während ich gerade den Festjubel angestimmt hatte, da hat man die Totenopfergaben aufgestellt, als hätte ich aufgehört zu leben. Dem Licht kam ich nahe, da wurde das Licht mir sengend heiß. Dem Schatten kam ich nahe: Nachdem auch er mir durch Sturmeswüten verhüllt wurde, da wurde mein süß klingender Mund ekelerregend. Alles, womit ich sonst Freude bewirkte, wurde mir zu Staub.« (Übersetzung: Annette Zgoll)
Wenn nichts mehr hilft, soll Gott helfen
»Da sie Inanna verantwortlich ist, versteht sich Enheduana noch immer als Hohepriesterin für die Stadt Ur und das ganze Land, auch wenn sie von ihrem Kultort vertrieben wurde«, erklärt Annette Zgoll. »Daher soll die Göttin nun ihren ganzen schrecklichen Zorn gegen Lugalane richten, den Usurpator und Gegner des Zentralreichs.« Und zwar ausschließlich gegen diesen und gegen die Stadt Ur, in der er residiert:
»Dass du rebellierende Gebiete vernichtest, soll bekannt sein! Dass du gegen feindliche Länder brüllst, soll bekannt sein! Dass du die Häupter der Rebellion zerschlägst, soll bekannt sein! Dass du wie ein Raubtier ihre Kadaver frisst, soll bekannt sein! Dass dein Blick grausige Vernichtung bringt, soll bekannt sein«, ruft Enheduana der Göttin zu – und fleht zugleich um Maßhaltung: »Meine Herrin, geliebt von [dem Himmelsgott] An, möge sich dein Herz mir beruhigend abkühlen!« (Übersetzung: Annette Zgoll)
Während die Priesterin durch ihre Hymne darauf abzielte, den Zorn Inannas anzufachen und ihr kriegerisches Eingreifen heraufzubeschwören, beschwichtigte sie dieselbe gleichzeitig. Denn das göttliche Wüten sollte sich nicht gegen die Priesterin selbst oder die legitime sargonidische Dynastie wenden, sondern sich beruhigen, sobald die Ausnahmesituation überwunden war.
Wie Enheduana zur Schöpferin wurde
»Da das Herz mir voll, da es mir übervoll geworden war, machtvolle Herrin, habe ich dies für dich geboren. Was dir zur Nacht gesagt wurde, soll der Kultsänger dir zur Mittagszeit wiederholen«, schrieb die Priesterin gegen Ende ihres Liedes. Mit diesen Worten wurde sie zur Autorin, ist der Assyriologe Sophus Helle von der Princeton University überzeugt. Helle veröffentlichte 2023 eine englische Übersetzung der Werke Enheduanas. »Wenn sie sagt, dass ihr Lied am nächsten Tag von einem Kultsänger gesungen wurde, wird sie von einem ›ich‹ zu einer ›sie‹, von einer Figur zur Schöpferin.« Enheduana ist somit nicht nur ein Teil ihrer Geschichte; sobald andere über sie hören, nehmen sie die Priesterin als jemanden wahr, der den Text geschaffen hat. Sie wird zur Autorin.
Die Hymne endet mit der Bestätigung des erfolgreichen Flehens der Priesterin. »Die machtvolle Herrin, die Herrscherin über die Götterversammlung, sie hat das Ritual von ihr angenommen.« Der Usurpator wurde besiegt, die Ordnung wiederhergestellt.
»Das ist historisch so geschehen«, sagt die Altorientalistin Zgoll. Die weitere Entwicklung des Bürgerkriegs führte dazu, dass Enheduanas Zeitgenossen dachten, der Priesterin sei es in einer ausweglos erscheinenden Lage tatsächlich gelungen, die Göttin zum Eingreifen zu bewegen.
Enheduana war über Jahrhunderte hinweg beliebt
Die für ihre Zeitgenossen offensichtliche Wirkmacht der Worte Enheduanas war nach Annette Zgoll wohl mit ausschlaggebend dafür, dass »Nin me šara« und andere ihrer Gedichte über Jahrhunderte tradiert wurden. Darunter befanden sich eine weitere Lobpreisung Inannas und eine Sammlung von Hymnen auf die verschiedenen Tempel Mesopotamiens, die möglicherweise die Einheit von Akkad und Sumer im Sinne der sargonidischen Dynastie bekräftigen sollten.
Alle diese Texte sind allerdings nur in Abschriften aus altbabylonischer Zeit erhalten, die demnach vier bis fünf Jahrhunderte nach dem Tod der Hohepriesterin entstanden. In dieser Epoche war das Sumerische, dessen sich Enheduana bedient hatte, bereits eine tote Sprache, die lediglich in religiösem und rituellem Zusammenhang zur Anwendung kam, ähnlich wie Latein im europäischen Mittelalter oder Sanskrit in Indien.
Es ist auch nicht geklärt, ob die Priesterin alle ihr zugeschriebenen Texte wirklich verfasst hat. Im Fall der »Herrin der unzähligen göttlichen Mächte« spricht jedoch einiges für ihre Autorinnenschaft. Annette Zgoll, die sich seit drei Jahrzehnten wissenschaftlich mit dem Text befasst und ihn wohl besser kennt als jeder andere, ist überzeugt davon, dass die Hymne von Enheduana stammt. In einer aktuellen Studie im Fachjournal »IRAQ« legt sie dar, dass aus mesopotamischer Perspektive nur Enheduana das Ritual mitsamt dem Lied erschaffen haben konnte. »Weil nur Gottheiten solche Ritualtexte erschaffen durften – und sie, Enheduana, war als Hohepriesterin tatsächlich zur Verkörperung einer Göttin geworden.« Damit sei klar, dass sie die Autorin von »Nin me šara« war.
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