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Medizinnobelpreis 2018: Entfesselte Immunzellen gegen Krebs

Zwei Forscher machten den Weg frei für eine Immuntherapie gegen Krebs - und zwar indem sie eine fein justierte Balance mit Antikörpern einfach aushebelten.
Wissenschaftlerin im Labor kombiniert mit Nobel-Medaille

»Chemotherapie? Das sind ja Methoden aus der Steinzeit!«, regt sich Pille, der im 23. Jahrhundert lebende Bordarzt des Raumschiffs »Enterprise«, bei einem kurzen Abstecher in ein Krankenhaus der 1980er Jahre auf. Die legendäre Szene in dem 1986 gedrehten Star-Trek-Film »Zurück in die Gegenwart« enthält mehr als ein Körnchen Wahrheit: Gegen Krebs half lange fast nur schweres Geschütz – Strahlung, Zellgifte, Skalpell.

Das hat sich geändert. Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2018 geht an zwei Krebsforscher, deren Arbeit eine neue, lang ersehnte Waffe für die Krebstherapie nutzbar machte: das menschliche Immunsystem. James P. Allison von der University of Texas und Tasuku Honjo von der Universität Kyoto erforschten Rezeptoren auf T-Zellen, die diese Immunzellen hemmen und so verhindern, dass sie einen Tumor angreifen. Damit brachten die Wissenschaftler eine Klasse neuer Wirkstoffe auf den Weg, die der grummelige Weltraum-Arzt möglicherweise mit mehr Wohlwollen betrachten würde: Checkpoint-Inhibitoren.

Was Autoimmunerkrankungen mit Krebs zu tun haben

Die Idee, Krebs vom menschlichen Immunsystem bekämpfen zu lassen, ist Jahrzehnte alt. Schon im 19. Jahrhundert hatten Ärzte beobachtet, dass in seltenen Fällen nach Infektionen auch Krebs verschwand. Doch alle Versuche, eine Immunreaktion künstlich zu erzeugen – durch eine gezielte Infektion oder einen Impfstoff beispielsweise –, blieben erfolglos oder deutlich hinter den Erwartungen zurück. Das grundsätzliche Problem schien zu sein: Egal wie ausgefeilt man die T-Zellen zu den Waffen ruft – gegen Krebs kämpfen sie mit angezogener Handbremse.

Was es mit dieser Bremse auf sich hat, wusste man bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts – aber vor einem anderen Hintergrund. Nach und nach hatten Arbeitsgruppen begonnen zu entschlüsseln, wie das Immunsystem die Zellen des eigenen Körpers erkennt. Basis dieser Selbsttoleranz sind Signalwege, die man als Immun-Checkpoints bezeichnet: spezielle Rezeptoren auf der Oberfläche von T-Zellen, die die Immunzellen aktivieren oder eben bremsen.

Die Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin 2018 | Die Gewinner des Medizinnobelpreises 2018: James P. Allison (links) und Tasuku Honjo.

Die Checkpoints sind Teil einer molekularen Kooperation an der Oberfläche der Immunzellen. Der »klassische« T-Zell-Rezeptor wechselwirkt mit einem Antigen präsentierenden Molekül einer anderen Zelle und identifiziert so das mögliche Ziel. Die Checkpoints wiederum zeigen der Zelle, ob das Antigen zum Feind gehört oder womöglich als Teil des eigenen Körpers vor der Immunreaktion verschont werden muss. Wenn man diese Mechanismen verstünde, so die Hoffnung, dann wüsste man vielleicht, warum diese Erkennung manchmal nicht funktioniert – und könnte Autoimmunerkrankungen an der Wurzel packen.

Die Handbremse lösen

Die Arbeitsgruppe um James P. Allison allerdings wollte genau das Gegenteil. Krebszellen nämlich sind körpereigene Zellen auf Abwegen, und sie schienen einige bremsende Checkpoints der T-Zellen zu aktivieren und dadurch vor dem Immunsystem geschützt zu sein. Der erste dieser negativen, bremsenden Checkpoints, der entdeckt wurde, war das Molekül CTLA-4, das an der Oberfläche aktivierter T-Zellen auftaucht. Allisons Hypothese war simpel: Blockiert man dieses Bremssignal mit einem geeigneten Gegenspieler, sollten die T-Zellen entfesselt über die Tumorzellen herfallen – und den Krebs aus eigener Kraft besiegen.

Meistens erleiden solche schönen, einfachen Überlegungen Schiffbruch an der hässlichen, komplexen Realität. Nicht aber in diesem Fall. Allisons erstes Experiment war ein spektakulärer Erfolg. Im Jahr 1994 transplantierte er Tumoren in Mäuse und behandelte sie dann mit Antikörpern gegen CTLA-4 – der Krebs verschwand. Weitere Versuche bestätigten anschließend die grundsätzliche Idee: Ein Molekül gegen bremsende Immun-Checkpoints verstärkt die Immunantwort gegen Krebs erheblich. James Allison erhielt für seine bahnbrechende Arbeit in der Immunonkologie bereits 2015 den Lasker-Preis.

Und CTLA-4 ist nicht das einzige solche Molekül. In jahrelanger Forschung hatte ebenfalls zu Beginn der 90er Jahre eine Arbeitsgruppe um Tasuku Honjo herausgefunden, dass ein mysteriöser Oberflächenrezeptor namens PD-1 die gleiche hemmende Wirkung hat. Entsprechend lag die Überlegung nahe, diesen Oberflächenrezeptor auf die gleiche Weise als Ziel für die Krebstherapie zu nutzen.

Monoklonale Antikörper gegen die Immun-Hemmung

Eine Besonderheit machte den Rezeptor höchst interessant für die Krebstherapie: Das Molekül PD-L1, das diesen Rezeptor aktiviert und so T-Zellen hemmt, fand sich nicht nur auf Immunzellen, sondern auch bei einigen Krebstypen. Womöglich nutzten einige Tumoren diesen Signalweg bereits, um sich gezielt vor dem Immunsystem zu schützen. Experimente mit Tumorzellen im Jahr 2002 bestätigten den Verdacht: Pflanzte man Krebszellen das Gen für PD-L1 ein, schützte das Molekül die Tumoren vor T-Zellen. Der Effekt verschwand, wenn man PD-L1 mit einem Antikörper vor T-Zellen versteckte.

Wirkprinzipien von CTLA-4 und PD-1 | Die Rezeptoren an der Oberfläche der T-Zellen betreiben Arbeitsteilung: Der T-Zell-Rezeptor dockt an das von einer anderen Zelle präsentierte Antigen. Doch ob das Antigen zur Zielscheibe wird, entscheiden die Immun-Checkpoints. Einige dieser Checkpoints regen eine Immunreaktion an, andere, wie CTLA-4 und PD-1, hemmen sie.

Im Jahr 2005 erreichten Honjo und sein Team schließlich den gleichen Punkt wie schon zuvor Allison bei CTLA-4: In Experimenten an Mäusen ließ ein Antikörper gegen PD-1 Tumoren schrumpfen. Zudem deutete sich an, dass Checkpoint-Inhibitoren gegen PD-1 wegen der direkten Verbindung zu bestimmten Krebsarten weniger schwere Nebenwirkungen haben also solche gegen CTLA-4. Die japanische Arbeitsgruppe ließ sich das Prinzip im Jahr 2005 patentieren und begann auf der Basis der Tierexperimente einen Wirkstoff für Menschen zu entwickeln.

Zu diesem Zeitpunkt waren monoklonale Antikörper gegen CTLA-4 längst entwickelt und im Menschen getestet – allerdings mit wechselnden Resultaten. An dem Wirkstoff Ipilimumab zeigte sich der unschöne Haken des verlockenden Prinzips: Die Immun-Checkpoints sorgen für eine präzise austarierte Immunantwort. Und die durcheinanderzubringen, ist nicht nur für Krebszellen gefährlich.

Risiken und Nebenwirkungen

Der Grat, auf dem sich das Immunsystem bewegt, ist schmal. Zu viel gebremst, schon überrennen Krebs und Infektionen den Körper; zu viel aktiviert, und die Immunreaktion zerfrisst wichtige Gewebe und Organe. Checkpoint-Inhibitoren bringen diese feine Balance aus dem Tritt – mit teilweise dramatischen Folgen. In einem großen klinischen Versuch mit Ipilimumab zeigten etwa 15 Prozent der Versuchspersonen schwere Nebenwirkungen, ein Mensch starb sogar an der Autoimmunreaktion.

Doch die Ergebnisse sprachen insgesamt für die neue Therapieform: Im Jahr 2011 erhielt der anti-CTLA-4-Antikörper von den europäischen und US-amerikanischen Behörden die Zulassung als Medikament gegen metastasierenden Hautkrebs. Im Jahr 2015 wurden schließlich auch zwei anti-PD-1-Antikörpermedikamente für die Krebstherapie zugelassen, und bei einigen Tumortypen wie dem Nierenzellkarzinom setzt man inzwischen eine Kombination beider Typen von Checkpoint-Inhibitoren ein.

Viele Fragen sind noch offen, nicht zuletzt, wie man die heftigen Nebenwirkungen in den Griff bekommt; und auch wenn die Therapien für einen Teil der Patientinnen und Patienten eine dramatische Verbesserung bedeuten, gibt es andere, bei denen sie gar nicht wirkt. Ganz abgesehen davon, dass das nun mit dem Nobelpreis gewürdigte Wirkprinzip noch lange nicht ausgereizt ist. Doch eins haben Allison, Honjo und ihre jeweiligen Arbeitsgruppen auf jeden Fall erreicht: Die weit über 100 Jahre währende Suche nach einer Immuntherapie gegen Krebs ist nun von Erfolg gekrönt.

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