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Krebsforschung: Enthemmter Helfer

Nur ein Blick auf das Ende lässt vermuten, dass der Körper gegen Krebs völlig hilflos ist - dabei müssen Tumoren ein durchaus imposantes zelluläres Abwehrbollwerk überwinden, bevor es zum Äußersten kommen kann. Und selbst dann könnte es sich noch lohnen, dem scheinbar besiegten Organisator der Verteidigung beizuspringen.
Der größte Feind der Krebsforscher heißt Vielfalt: Allzu vieles kann in der menschlichen Zelle daneben laufen, zu vieles kann ein Auslöser sein, der in letzter Konsequenz die gesamte Zelle bösartig entarten lässt. Die Dimensionen des Problems verdeutlicht gerade ein kurzer Blick auf die erste Abschätzung des "Metaboloms" eines menschlichen Körpers. Wie die Gene beim Genom und Proteine beim Proteom sind darin sämtliche am Stoffwechselgeschehen, dem Metabolismus, beteiligte Moleküle aufgeführt – vom eigens zusammengebauten Zucker bis zum letzten mit der Nahrung aufgenommenen Lipid [1]. Insgesamt stehen auf dieser vage vollständigen Liste nun schon 7200 unterschiedliche Stoffe – deren Zusammensetzung dramatisch schwanken kann, wenn nur eine einzige DNA-Base der Zellen zum Beispiel nicht A, sondern C heißt, und, schwupps, die Menge eines bestimmten Stoffes am Ende um den Faktor 100 000 größer oder kleiner macht.

Wer ganz genau das Zusammenspiel der Zellinnereien kennen muss, um zum Beispiel das Schicksal zu verstehen, das aus einer Leberzelle einen Lebertumor macht, der muss sich also zunächst an eine unüberschaubare Masse potenzieller Verdächtiger gewöhnen. Und selbst im Erfolgsfall weiß er dann meist noch nichts darüber, warum andernorts normale Hautzellen zu Melanomen entarten. Dabei sah es für einen kurzen Moment einmal so aus, als ob die gesamte Krebs-Vielfalt vielleicht doch an einer Stelle im Stoffwechsel aller Zellen zusammenläuft. Genau dort erhoffte man sich einen Hebel, mit dem dann auch alle Krebsarten zugleich bekämpft werden können. Der Hebel wurde nach seiner Entdeckungim Jahr 1979 p53 genannt: ein Gen, das bei über der Hälfte aller Krebsfälle deaktiviert ist und einen Stoffwechselmechanismus aktiviert, der in irgendeiner Form wohl bei allen Krebssorten beschädigt zu sein scheint.

Schnell war klar, dass das Gen als "Tumorsuppressorgen" ein unerwarteter Universal-Notnagel der Zelle gegen ihre Entartung ist. Mit dem p53-Programm reagieren Zellen auf Mutationen ihrer DNA, die etwa unter dem Einfluss von Chemikalien oder harter Strahlung auftreten. Aktivieren solche Schäden das p53-Gen, dann sorgt dies für den Bau verschiedener Signalmoleküle, die letztlich den Zellzyklus stoppen – also den stetig ablaufenden Kreislauf von Zellarbeitsphase und Zellteilung. Reicht diese Denkpause nicht aus, um die Schäden zu beheben, greift p53 schließlich zu einer von zwei möglichen drastischen Methoden: Entweder leitet es die "Seneszenz" ein, den endgültigen Wachstumsstopp, der die Zelle bis zum Ende ihrer Zeit teilungsinaktiv vergreisen lässt – oder sorgt gleich für ihren schnellen Freitod, die Apoptose.

Die p53-Bedeutung ist enorm: Streut irgendein Sekundärmalheur Sand in sein Getriebe, dann wird das Schicksal Krebs deutlich wahrscheinlicher. Und so haben nun seit Jahrzehnten Wissenschaftler daran gearbeitet, mögliche fehlgeleitete Sandstreuer zu enttarnen und unschädlich zu machen – ebenfalls ein Spiel mit vielen Unbekannten. Gleich zwei Arbeitsgruppen verfolgten nun eine andere Idee: Vielleicht, so meinten sowohl Forscher um Scott Lowe vom Cold Spring Harbour Laboratory als auch ein Team um Tyler Jacks vom Massachusetts Institute of Technology, könnte stattdessen dafür gesorgt werden, dass der an einer Stelle ausgeknipste p53-Ausweg an anderer Stelle wieder angeschaltet wird?

Der Ansatz ist nicht ganz neu und hat einige Fallstricke. Es reicht etwa bekanntermaßen nicht, schlicht die p53-Produktion in Tumorzellen wieder anzukurbeln: das dann vielleicht wieder entstehende Eiweiß muss unter anderem gegen Abbau geschützt und zur Aktivität angeregt werden. Zudem sollte der künstlich angeregte p53-Mechanismus ja besser nur in Tumorzellen seine Arbeit aufnehmen, nicht aber in gesunden Zellen, für deren Überleben er im Normalfall notwendigerweise schweigen sollte.

Die Teams von Lowe und Jacks machten sich daher zunächst an Grundlagenversuche, um den Wert der p53-Aktivierung zu testen und sein Gefahrenpotenzial für die gesunden Zellen auszuloten. In beiden Labors dienten Mäuse als Versuchskaninchen, die gentechnisch so verändert worden waren, dass p53 nicht mehr entsteht, wodurch die Tiere sehr tumoranfällig werden. Gleichzeitig sorgten die Forscher aber dafür, dass sich die Gen-Funktion auch jederzeit – durch die Zufuhr bestimmter Moleküle von außen – wieder einschalten ließ.

Reaktivierter Suppressor lässt Tumoren schrumpfen | Im Magnetresonanztomografen (unten) zeigt sich, das Tumoren im Unterleib einer Versuchsmaus innerhalb von zwölf Tagen schrumpfen, nachdem die Funktion des zuvor abgestellten Tumorsuppressorgens p53 wieder angeschaltet wurde. In den oberen zwei Bilder verdeutlicht eine dreidimensionale Computersimulation das Geschehen.
Die Erkenntnisse beider Gruppen machen Hoffnung: Der Zustand aller Mäuse mit Krebsgeschwüren besserte sich durch das plötzliche Einknipsen des Tumorsuppressors eindeutig. Im Detail stoppten dabei etwa die Leberzelltumoren von Mäusen in Lowes Labor nach dem p53-Einschalten ihr Wachstum, als seien sie in die typische Seneszenz eingetreten, und begannen sogar zu schrumpfen [2]; während Jacks Nager, die vermehrt an Blutkrebs erkrankt waren, unter p53-Anleitung plötzlich damit begannen, die entarteten Zellen per Apoptose auszuschalten [3]. Außerdem beobachtete keiner der Forscher einen gleichzeitigen nachteiligen Effekt auf gesunde Zellen, während die Tumoren unter dem Suppressor litten.

So weit, so gut – die Hoffnung, dass durch Reaktivieren von Tumorsuppressorgenen Krebs bekämpft werden kann, ist durch die Ergebnisse von Jack, Lowe und Mitstreitern jedenfalls erst einmal befeuert. Einschränkend muss gesagt sein, dass beide Arbeitsgruppen einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Tumorbekämpfern an der medizinischen Praxisfront hatten: Die Forscher wussten in ihrem Modell, an welcher Stelle der p53-Mechanismus unterbrochen war, denn schließlich hatten sie die Sollbruchstelle selbst eingebaut, um sie dann nach dem Entstehen von Tumoren gezielt wieder schließen zu können.

Weiter bleibt also mühsam-penible Aufklärungsarbeit im zellulären Dickicht unerlässlich um herauszufinden, wo welche Beteiligte was am p53-Mechanismus torpedieren. Zudem ist p53 nur der berühmteste, keineswegs aber der einzige Tumorsuppressor der Zelle. Wie kompliziert das Gesamtbild "Krebs" im Einzelfall sein kann, tragen nur exemplarisch zeitgleich mit den p53-Reaktivatoren andere Forscher um Peiquing Sun in die Öffentlichkeit, die dem seneszenzauslösenden Tun des nicht ganz so berühmten p38 auf der Spur waren. Die Forscher vom Scripps-Forschungsinstitut fanden dabei heraus, dass neben den zwei schon bekannten komplizierten Signalketten, über die die Zelle mit Hilfe verschiedener hemmender und aktivierender Proteine p53 in Gang setzten kann, wohl noch mindestens ein dritter Weg existiert. Ohne den Details nur dieser Arbeit Rechnung zu tragen: Sun und Kollegen entlarvten eine weitere, bis dato unerkannte Rolle des schon gut untersuchten Proteins PRAK, das den ebenso lang bekannten Suppressor p38 an einer bislang unbeachtet gebliebenen Stelle aktiviert [4].

Alle aktuellen Studien zeigen unterm Strich tatsächlich neue Ansatzpunkte für die Bekämpfung von Tumoren auf. Natürlich kann es hiervon nie genug geben, egal ob sie zur Lockerung von Bremsen der natürlichen Tumorabwehr oder dem Bremsen von Tumorauslösern führen. Dass derzeit jede mögliche Bekämpfungsstrategie auch immer gleichzeitig die Komplexität des ohnehin undurchschaubaren Krebsgeschehens erhöht, muss dabei wohl oder übel in Kauf genommen werden. Mit jeder neu aufgedeckten Raffinesse steigt, so viel optimistischer Realismus muss sein, immerhin auch die Wirklichkeitsnähe unserer Vorstellung von Krebs.

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