Naturkatastrophen: Erdbebenerkennung via Smartphone

Der Technologiekonzern Google nutzte zwischen 2021 und 2024 die Bewegungssensoren von mehr als zwei Milliarden Mobiltelefonen weltweit, um Erdbeben zu erkennen. Anschließend schickte das System dann automatische Warnungen an Millionen von Menschen in 98 Ländern. In einer Analyse der Daten, die in »Science« veröffentlicht wurde, erklären die Wissenschaftler von Google, dass die Technologie mehr als 11 000 Beben erfasst hat und mit herkömmlichen Seismometern vergleichbar ist. Erdbebenforscher, die nicht an dem Experiment beteiligt waren, sind von der Leistung des Systems beeindruckt, argumentieren jedoch, dass die Behörden mehr Informationen über die patentgeschützte Technologie benötigen, bevor sie sich darauf verlassen.
In den letzten Jahrzehnten wurden Erdbebenwarnsysteme mit normalen Seismometern unter anderem in Mexiko, Japan und an der Westküste der USA eingesetzt. Im Jahr 2020 kündigte Google jedoch an, dass es ein Crowd-basiertes System aufbauen würde, um Beben im frühesten Stadium zu erkennen: massenhaftes, gleichzeitiges Zittern von Android-Telefonen. Die heute veröffentlichten Ergebnisse aus den ersten drei Betriebsjahren zeigen, dass die Technologie funktioniert und sich im Laufe der Zeit verbessert hat. Durchschnittlich sterben jedes Jahr Tausende von Menschen durch Erdbeben. Mit dem mobilfunkbasierten Warnsystem habe sich die Zahl der Menschen, die jetzt potenziell Zugang zu Erdbebenwarnungen haben, seit 2019 verzehnfacht, so Google.
»Das ist sehr beeindruckend: Die meisten Länder besitzen kein Erdbeben-Frühwarnsystem, und die Technologie kann helfen, diesen Service anzubieten«, sagt Allen Husker, Seismologe am California Institute of Technology in Pasadena. Aber er würde sich besser fühlen, wenn Google unabhängigen Wissenschaftlern mehr Zugang zu den Daten und Algorithmen gewähren würde.
Das Google-Team erklärte, dass es die Funktionsweise und Leistung des Systems so transparent wie möglich gestalte. Aus Gründen des Datenschutzes sei die Weitergabe von Rohdaten aus den Telefonen der Nutzer eine Herausforderung, erklärten sie gegenüber »Nature«, aber der »Science«-Artikel soll so viel Licht wie möglich in die Funktionsweise des Systems bringen.
Das Android-Erdbebenwarnsystem setzt auf Quantität, nicht auf Qualität: Seismometer für Forschungszwecke liefern qualitativ hochwertigere Daten, aber Google verlässt sich auf die massenhaft verbreiteten, modernen Smartphones - die standardmäßig Bewegungsdaten sammeln und melden, sofern die Nutzer sich nicht dagegen entscheiden. Dadurch lässt sich die mangelnde Empfindlichkeit der einzelnen Geräte umgehen. Das Google-Team hat nicht nur die Daten einzelner Nutzer ausgewertet, um den Ursprung und die Stärke von Erdbeben zu ermitteln. Es entwickelte auch Algorithmen, um aus den Signalen regionale Unterschiede in der Geologie und der Bauweise von Gebäuden zu erhalten. Zudem berücksichtigte es, wie verschiedene Telefonmodelle Bewegungen registrieren.
Es gebe noch Herausforderungen, die größten und gefährlichsten Erdbeben zu erkennen und rechtzeitig zu warnen, schreiben die beteiligten Wissenschaftler. So unterschätzte das System beispielsweise das starke Erdbeben in der Türkei im Februar 2023, so dass nur etwa 4,5 Millionen Erdbebenwarnungen an die Nutzer verschickt wurden. Als die Google-Wissenschaftler ihre Algorithmen jedoch aktualisierten und den damaligen Doppelschlag neu bewerteten, sagte das System größere Beben voraus und sendete dringendere »TakeAction«-Warnungen, die von zehn Millionen Android-Handys empfangen worden wären.
»Dies zeigt, dass sie seit 2023 an der Verbesserung des Systems gearbeitet haben - mit greifbaren positiven Ergebnissen«, sagt Harold Tobin, Seismologe an der University of Washington in Seattle. Tobin ist jedoch auch besorgt wegen des Zugangs zur Technologie. »Bei einem System für die öffentliche Sicherheit wie diesem ist das Android-Team verantwortlich, die Funktionsweise des Systems sehr transparent zu machen. Damit könnten die zivilen Behörden diese Entscheidungen selbst treffen.«
Google hat gegenüber »Nature« erklärt, dass das Warnsystem als »zusätzlicher« Dienst verfügbar sein wird, der »nicht dazu gedacht ist, offizielle Erdbebenerkennungs- oder -warnsysteme zu ersetzen«.
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