Inuit und Erderwärmung: »Der Klimawandel trifft vor allem die, die ihn nicht verursacht haben«
Ashlee Cunsolo realisierte lange vor den meisten anderen Menschen, wie sehr die Klimakrise die Psyche belasten kann. Die Klima- und Gesundheitsforscherin der kanadischen Memorial University reiste 2008 in ein kanadisches Dorf der Inuit. Das Eis in der Umgebung wurde immer dünner, bedeckte immer weniger Fläche und brach recht früh im Jahr auf. All das limitierte die Zeit der Bewohner auf dem Eis. Zeit, die sie etwa zum Jagen nutzten oder um Familie in anderen Gegenden zu besuchen. Zusammen mit einer Stammesältesten saß Cunsolo im Wohnzimmer, trank Tee und lauschte dem Knacken des Feuers. »Was machen diese Veränderungen mit dir?«, wollte Cunsolo wissen. Die Frau hielt inne, sah Cunsolo an und begann zu weinen. Sie weinte, weil das Schmelzen des Eises ihr Leben und ihre Kultur beeinflusst. Weil sich das auf ihre Familie, ihre Kinder und Enkel auswirken wird und weil sie sich hilflos fühlte.
Cunsolo berichtete von dieser Begegnung 2014 bei einem Ted-Talk. Seitdem sind die psychischen Folgen der Klimakrise immer mehr in den Blickpunkt von Forscherinnen und Forschern geraten. In einer Studie im Fachmagazin »The Lancet Planetary Health« gaben 2021 etwa drei von vier jüngeren Befragten an, Angst vor der Zukunft zu haben. 2022 wurde zum ersten Mal im Sachstandsbericht des Weltklimarats ausführlich thematisiert, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die psychische Gesundheit hat. Im Interview mit »Spektrum.de« erklärt Ashlee Cunsolo, welche Faktoren bestimmen, ob Menschen optimistisch oder besorgt in die Zukunft blicken und was man aus ihrer Forschung im Norden über den Umgang mit der Klimaangst lernen kann.
»Spektrum.de«: Frau Cunsolo, warum untersuchen Sie ausgerechnet bei Inuit, wie sich die Klimakrise auf die Psyche auswirkt?
Ashlee Cunsolo: Die Inuit waren als Erste von den Folgen betroffen: Seit mehr als 40 Jahren versuchen sie auf die Konsequenzen der Klimakrise aufmerksam zu machen. Und sie leben an der vordersten Front: Die Arktis erwärmt sich drei- bis viermal schneller als der Rest der Welt.
Was beobachteten Sie als Erstes?
Vor etwa 15 Jahren fing ich an, zu dem Thema im Norden des Landes zu arbeiten. Gemeinsam mit anderen Forschenden befragte ich damals mehr als 80 Inuit zu den Effekten der Klimakrise. Alle von ihnen berichteten unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Verbundenheit mit der Natur vor allem von einem: den Auswirkungen auf ihre mentale Gesundheit. Sie litten verstärkt an Trauer, Angst oder Depressionen. Manche dachten sogar vermehrt an Suizid.
Warum? Was bedeutet ihnen die Natur?
Seit Hunderten und Aberhunderten von Jahren haben die Inuit auf dem Eis gejagt, Fallen gestellt, gelebt, gelernt und überlebt. Eine dicke Schicht aus Schnee ist zum Beispiel wichtig, um mit den Schlitten zu jagen oder von einem Ort zum anderen zu kommen.
Wie andere indigene Gruppen in Kanada wurden die Inuit lange Zeit von der Regierung unterdrückt. Sie sollten sich ab dem 19. Jahrhundert anpassen und mussten beispielsweise in spezielle Schulen gehen, in denen sie misshandelt wurden oder Krankheiten ausgesetzt waren. Lassen sich die Folgen dieser Unterdrückung sauber von den Folgen der Klimakrise trennen?
Beides hängt zusammen. Durch die Klimakrise verlieren die Menschen mehr und mehr ihre Mittel, um das koloniale Trauma zu verarbeiten. Früher konnten sie etwa Probleme bewältigen, indem sie raus in die Natur und aufs Eis fuhren. Gleichzeitig wird der Klimawandel von vielen aber ebenfalls als »koloniale Gewalt« empfunden. Er trifft die Gemeinschaften am härtesten, die die Erderwärmung gar nicht verursacht haben. Ob durch das Schmelzen des Eises im kanadischen Norden oder durch den steigenden Meeresspiegel bei Inseln in der Südsee: Die Menschen, die die schwerwiegendsten Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen, sind oft die politisch, wirtschaftlich und sozial Ausgegrenzten.
Mittlerweile können die Inuit zumindest mehr als früher über ihre Territorien entscheiden, zum Beispiel indem sie federführend die Entstehung neuer Schutzgebiete voranbringen. Wie wirkt sich solch eine Selbstbestimmung auf die Angst vor der Klimakrise aus?
Zu den Inuit gibt es dazu kaum Forschung. Generell scheint es aber so zu sein, dass wir uns weniger Sorgen um die Zukunft machen, wenn wir mehr über unser Leben oder die politischen Strukturen um uns herum bestimmen können. Dazu gibt es eine interessante Studie, die Caroline Hickman 2021 im Fachmagazin »The Lancet Planetary Health« veröffentlichte. Hickman und ihr Team befragten rund 10 000 junge Menschen aus der ganzen Welt. Eines ihrer Ergebnisse: Je weniger die Befragten das Gefühl hatten, dass ihre Regierung sie repräsentierte und gute Entscheidungen für ihre Zukunft fällte, desto mehr Stress oder Angst fühlten sie.
»Je mehr wir uns mit dem Ort und den Menschen um uns herum verbunden fühlen, desto gesünder und resilienter sind wir«
Die Inuit haben offenbar auch einen besonders starken Rückhalt innerhalb ihrer Gemeinschaft. In einer Studie aus dem Jahr 2014 schreiben Sie, dass die Mitglieder ihr Essen teilen und mit mehreren Generationen in Häusern zusammenleben. Inwiefern wirkt sich dieses soziale Netz auf die Sorge vor der Klimakrise aus?
Ein gutes soziales Netz macht Menschen psychisch widerstandsfähiger. Wenn man zum Beispiel Lebensmittel gemeinsam produziert, das Essen oder eben Wissen miteinander teilt, dann fühlt man sich eher mit dem Ort und den Menschen um sich herum verbunden. Und je mehr wir uns verbunden fühlen, desto gesünder und resilienter sind wir. Wir setzen uns dann eher für Veränderungen ein.
In Europa fühlen wir uns kaum noch mit der Natur verbunden: Wir leben in riesigen Städten, die mitunter nur Platz für ein wenig Grün lassen. Machen sich diejenigen, die mehr im Einklang mit der Natur leben, mehr Sorgen um den Klimawandel?
Das geht aus ersten Untersuchungen hervor. Doch es kann einen auch sehr mitnehmen, andere an den Folgen des schmelzenden Eises oder einer Hungerkatastrophe leiden zu sehen. Es muss allerdings noch besser erforscht werden, in welchen Alter und in welchen Gegenden Menschen zum Beispiel durch solche Tatsachen besonders beeinflusst werden.
Aber an sich kann Angst doch etwas Gutes sein, um Veränderungen anzustoßen. Greta Thunberg sagte erst 2019 auf dem Weltwirtschaftsgipfel: »Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.«
Ein gewisses Maß an Angst und Besorgnis scheint tatsächlich zu motivieren und die Menschen zum Handeln zu ermutigen. Die Sorge ist, dass es auch eine Schwelle gibt, die man überschreiten kann. Dann wirken sich diese Emotionen und Erfahrungen negativ und lähmend aus. Sie können dazu führen, dass sich Menschen isoliert, hilflos oder deprimiert fühlen. Wenn man an den Punkt kommt, an dem man schlecht schläft oder die Angst den Arbeitsalltag oder das Leben zu Hause beeinträchtigt, dann sollte man wirklich nicht hart zu sich selbst sein und sich die Unterstützung suchen, die man braucht – zum Beispiel Gespräche mit Freunden führen, raus in die Natur gehen oder vielleicht auch mit einem Psychotherapeuten reden.
Was können wir von den Inuit lernen?
Manchmal geht es nicht darum, Wissen zu übernehmen. Es geht darum, dass die Menschen, die über das Wissen über ihre Heimat verfügen und das Bewusstsein, diese zu schützen, an der Macht sind. Sie beeinflussen die Entscheidungen.
Alle Menschen, nicht nur Inuit, können dieses Wissen erlangen. Dazu gibt es ein Zitat des Dichters Wendell Berry in einem Buch von Naomi Klein. Sie fragt ihn, wie auch Menschen ohne Wurzeln einen Ort finden können, den sie wirklich lieben und um den sie sich sorgen können. Er sagte darauf, dass wir irgendwo stoppen sollen. Dann können wir den 1000-jährigen Prozess beginnen, einen Ort wirklich kennen zu lernen. So können wir mehr Wissen über seine Natur und Umwelt erlangen und uns vielleicht auch dafür einsetzen.
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