Ernährung: Was unsere Vorfahren wirklich aßen

Paul Saladino steht mit nacktem Oberkörper da. Sein Bizeps spannt sich, während er mit einer Metzgersäge einen Rinderoberschenkel durchtrennt. Als er den Knochen schließlich teilt, jubeln die Zuschauer. Saladino lächelt, überprüft, ob er gefilmt wird, und löffelt Mark aus dem Inneren des Knochens. Dann schiebt er eine Portion einer jungen Frau in den Mund – wie ein Priester, der die Kommunion austeilt.
Saladino ist Arzt und bekannter Befürworter einer Ernährung auf Basis tierischer Nahrungsmittel. Er preist Fleisch und Innereien, verteufelt Gemüse. In Tiktok-Videos wie dem beschriebenen und in seinem Podcast predigt er Millionen von Anhängern in den sozialen Medien, wie gesund der Verzehr von Rindfleisch, Leber, Knochenmark und Hoden ist. Er ist Autor des 2020 erschienenen Buches »The Carnivore Code« und des dazugehörigen Kochbuchs. Außerdem gründete er das Unternehmen Heart and Soil, das Nahrungsergänzungsmittel aus Innereien verkauft, und war Mitbegründer der Firma Lineage Provisions, einem Anbieter von Proteinpulver und Fleischsnacks. In seinem Buch stellt er die traditionelle Ernährungspyramide auf den Kopf: Pflanzliche Lebensmittel, die dort die breite Basis bilden, hält er für überbewertet. Die gängige Meinung, ein hoher Cholesterinspiegel verursache Herzkrankheiten, nennt er falsch. Für ihn sind Fleisch und Innereien der Schlüssel zu Gesundheit, Kraft und Vitalität.
Saladino ist mit seiner Haltung zum Fleischkonsum nicht allein. Auf Tiktok, Instagram und Youtube tummeln sich zahlreiche Influencer, die zu fleischlastiger Kost raten. Ähnlich wie die so genannte Paleo-Diät, die angeblich die Kost der Steinzeit widerspiegelt, meiden diese Ernährungsformen in der Regel stark verarbeitete Lebensmittel wie Chips, Frühstücksflocken, abgepacktes Brot, Limonaden und Hotdogs. Was pflanzliche Lebensmittel betrifft, sind sie jedoch noch deutlich restriktiver als die Paleo-Diät. Einige Anhänger, darunter Saladino und der berühmte Abenteurer Bear Grylls, erlauben zwar eine begrenzte Menge an Obst, raten aber von Gemüse ab. Dieses enthält ihrer Meinung nach Abwehrstoffe, die für den Menschen giftig sind. Andere, wie der kanadische Psychologe Jordan Peterson und seine Tochter und Podcasterin Mikhaila empfehlen eine Ernährung, die anfangs nur aus Rindfleisch, Salz und Wasser besteht. Und manche, darunter der Influencer Brian Johnson, auch bekannt als Liver King, raten sogar dazu, tierische Produkte roh zu verspeisen – einschließlich Milch und Eiern.
Die so genannten »Meatfluencer« bezeichnen ihre Ernährungsweise oft als »ursprünglich«, da sie auf Lebensmitteln basierten, die bereits unsere Vorfahren gegessen haben. Und was die Frühmenschen zu sich genommen haben, müsse auch dem menschlichen Körper heute gut tun, so die Schlussfolgerung: »Wenn man seine Ernährung und seinen Lebensstil an Millionen von Jahren menschlicher und homininer Evolution ausrichtet, dann gedeihen Menschen«, sagt Saladino in einem anderen Tiktok-Video.
Studien an den Überresten unserer Vorfahren sowie Beobachtungen lebender Primaten und heutiger Jäger und Sammler widerlegen allerdings die Vorstellung, dass sich der Mensch schon immer hauptsächlich von Tieren ernährt hat. Fleisch spielte eine wichtige Rolle in unserer Evolution, doch das heißt nicht, dass wir uns wie Löwen ernähren sollten. Die Essgewohnheiten unserer Vorfahren lassen sich zwar kaum exakt rekonstruieren, aber sie waren wesentlich vielfältiger als die fleischlastige Kost von Raubtieren.
Fachleute haben bereits intensiv erforscht, welche Rolle der Fleischverzehr in der menschlichen Evolution spielte. Mehrere Faktoren erklären dieses Interesse: Zum einen sind wir Menschen einzigartig unter den Primaten, da wir regelmäßig Tiere jagen, die gleich groß oder gar größer sind als wir selbst. Zum anderen bleiben Steinwerkzeuge und Tierknochen an archäologischen Stätten besser erhalten als Pflanzenreste, die sich viel rascher zersetzen. Und schließlich wirkt die Jagd auf Tiere – insbesondere auf große, gefährliche Säugetiere wie Elefanten – von Natur aus aufregender als das mühsame Sammeln von Beeren, Nüssen und Knollen. Jedenfalls gibt es eine Menge Fachliteratur und populärwissenschaftliche Artikel, die behaupten, die Jagd und der Verzehr von Fleisch habe uns erst zu Menschen gemacht.
Das Interesse an Fleisch und Jagd als mögliche Triebfedern der menschlichen Entwicklung reicht weit zurück. So spekuliert schon Charles Darwin 1871 in seiner Abhandlung »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl«, wie bedeutsam der Fleischverzehr war. Die Vorstellung darüber, wie Fleisch die menschliche Evolution prägte, hat sich im Lauf der Jahre gewandelt. Die vorherrschende Meinung ist, dass der Homo erectus, ein früher Vertreter unserer Gattung, vor etwa zwei Millionen Jahren begann, die typischen Körperproportionen des modernen Menschen zu entwickeln: längere Beine, kürzere Arme, einen kleineren Darm und ein größeres Gehirn. Die frühesten Steinwerkzeuge und Tierknochen mit Schnittspuren stammen aus der Zeit davor. Diese zeitliche Abfolge lässt darauf schließen, dass die Erfindung von scharfkantigen Steinwerkzeugen es den frühen Menschen ermöglichte, große Tiere zu schlachten. So erschlossen sie eine neue, reichhaltige Kalorienquelle. Die nahrhafte Kost musste im Magen-Darm-Trakt weniger stark verarbeitet werden, wodurch sich unser Darmgewebe zurückbilden konnte. Kalorienreiches Fleisch lieferte zudem jene Energie, die es dem Gehirn erlaubte, zu wachsen. Es entstand eine Rückkopplungsschleife: Weil unser Hirn sich permanent vergrößerte, wurden unsere Vorfahren immer schlauer. Sie entwickelten dadurch effektivere Werkzeuge, um sich energiereiche, tierische Nahrung zu beschaffen. Das wiederum kurbelte das Gehirnwachstum beim Homo sapiens weiter an.
Wäre dies alles, was wir über die menschliche Evolution wüssten, läge eine verlockende Schlussfolgerung nahe: Vor rund zwei Millionen Jahren haben wir uns weiterentwickelt, weil wir begannen, Fleisch zu essen. Doch das ist nur ein Bruchteil dessen, was Anthropologen und Archäologen inzwischen über die Ernährung und die Ursprünge des Menschen wissen. Zudem wurde dieses Kapitel unserer Geschichte in den vergangenen 15 Jahren durch neue Erkenntnisse immer wieder umgeschrieben. Fossilienfunde und moderne DNA-Analysen zeigen in nie da gewesenem Detail, was unsere Vorfahren verspeist haben. Um die Evolution des Menschen und seine Ernährung besser zu verstehen, müssen wir genauer betrachten, was vor und nach dieser Zwei-Millionen-Jahre-Marke geschah.
Die Homininen ernährten sich lange pflanzlich
Menschen, Affen und Menschenaffen bilden eine Untergruppe der Primaten, die auch als höhere Primaten bekannt sind. Sie haben sich auf das Essen von Früchten spezialisiert. Die Homininen (Homo sapiens und seine ausgestorbenen Verwandten, darunter Ardipithecus, Australopithecus und andere, gibt es seit etwa sechs bis sieben Millionen Jahren. Fossilien der frühesten bekannten Homininen deuten darauf hin, dass diese bereits aufrecht gingen, aber immer noch viel Zeit in Bäumen verbrachten. Sie fertigten offenbar keine Steinwerkzeuge und ernährten sich vermutlich ähnlich wie Schimpansen und Bonobos – unseren nächsten lebenden Verwandten – hauptsächlich von Früchten, Nüssen, Samen, Wurzeln, Blumen, Blättern sowie gelegentlich von Insekten und kleinen Säugetieren.
In der gesamten ersten Hälfte ihrer Entwicklungsgeschichte haben Homininen diese pflanzliche Ernährung beibehalten. Es gibt keine materiellen Spuren, die auf Fleischverzehr hindeuten würden. Erst fast drei Millionen Jahre nach Beginn unserer Abstammungslinie tauchen Indizien auf, dass sie auch große Tiere als Nahrungsquelle erschlossen haben.
Die ältesten Spuren fleischlicher Kost bei Homininen stammen aus der paläoanthropologischen Fundstätte Dikika in Äthiopien. Dort wurden Knochenfragmente von Säugetieren in der Größe von Ziegen und Kühen entdeckt, die Spuren von Schlachtungen aufwiesen und mindestens 3,39 Millionen Jahre alt sind. Der Schlachter war wahrscheinlich aus der kleinwüchsigen Homininengattung Australopithecus afarensis mit kleinem Gehirn, zu der auch das berühmte Fossil Lucy gehört. Sie ist die einzige bekannte Homininenspezies aus dieser Zeit und Region. Werkzeuge wurden zwar nicht gefunden, doch die Schäden an den Knochen lassen darauf schließen, dass A. afarensis scharfkantige Steine nutzte, um Fleisch von Knochen zu lösen, und stumpfe Steine, um an das Knochenmark zu gelangen.
Die ältesten Steinwerkzeuge stammen aus der Fundstätte Lomekwi im Nordwesten Kenias. Wie die mit Schnittspuren versehenen Knochen aus Dikika stammen diese 3,3 Millionen Jahre alten Werkzeuge aus einer Zeit, die deutlich vor der Entstehung unserer Gattung Homo liegt. Stattdessen wurden sie wohl von Australopithecus hergestellt. Beide Funde sind bislang zeitlich isoliert – zwei kurze Augenblicke in der Evolution, die Hunderttausende von Jahren älter sind als spätere Steinwerkzeuge und Zeugnisse für Schlachtungen.
Mit scharfen Steinen ans Knochenmark
Erst vor zwei Millionen Jahren hätten Homininen begonnen, regelmäßig große Wildtiere zu essen, erklärt Briana Pobiner. Die Paläoanthropologin am Smithsonian National Museum of Natural History, Washington D.C., erforscht unter anderem, wie sich der Verzehr von Fleisch beim Menschen entwickelt hat. Anhand der Fundstätte Kanjera South im Südwesten Kenias lassen sich die Homininenaktivitäten aus der Zeit vor etwa zwei Millionen Jahren dokumentieren. Dabei handelt es sich um einen der frühesten Belege für den dauerhaften Fleischkonsum des Menschen, in der Fachwelt unter der englischen Bezeichnung »persistent carnivory« bekannt. Die frühen Mitglieder der Gattung Homo transportierten Felsbrocken bis zu zehn Kilometer weit, um daraus Werkzeuge herzustellen. Mit diesen gelangten sie an Fleisch und Knochenmark von Säugetieren, die in den umliegenden Graslandschaften lebten – von kleinen Antilopen bis hin zu Boviden von der Größe eines Gnus. Einige Antilopen erlegten sie vermutlich durch Jagen, größere Tiere sammelten sie möglicherweise als Aas. Wie auch immer die Kanjera-Homininen an die Kadaver gelangten, sie haben jedenfalls dort über Generationen hinweg Tiere geschlachtet und verzehrt; die Knochen bilden eine drei Meter dicke Sedimentschicht.
Andernorts war der Fleischverzehr kaum verbreitet. Auch nahm er im Lauf der Zeit nicht zu, wie eine Untersuchung von W. Andrew Barr von der George Washington University und seinen Kollegen, darunter Briana Pobiner zeigte. Die Forscher analysierten archäologische Tierfunde aus Ostafrika, die zwischen 1,2 und 2,6 Millionen Jahren alt sind. Dabei fanden sie zwar vermehrt Hinweise auf Fleischkonsum vor rund zwei Millionen Jahren, kurz nachdem H. erectus auftaucht, der erste Hominine mit modernen Körperproportionen. Gleichwohl stellte sich heraus, dass dieses Muster auf einer Verzerrung in der Stichprobe beruht: Aus jener Zeit lag schlichtweg mehr archäologisches Material vor als aus früheren Perioden. Folgerichtig schreiben Barr, Pobiner und ihre Koautoren, die Ergebnisse stützten nicht die Hypothese, dass Fleisch uns zu Menschen gemacht hat.
»Menschen sind Allesfresser. Wir waren schon immer Allesfresser«Briana Pobiner, Paläoanthropologin
Probiner zufolge ging es bei den Ernährungsveränderungen eher darum, die Nahrungspalette zu erweitern und nicht, vom Vegetarier zum Fleischesser zu werden, erklärt sie. »Menschen sind Allesfresser«, sagt sie. »Wir waren schon immer Allesfresser.« Sogar in Kanjera, wo zahlreiche Knochen geschlachteter Tiere gefunden wurden, war Fleisch bei Weitem nicht die einzige Nahrungsquelle. Analysen der scharfkantigen Steinwerkzeuge zeigten: Die meisten trugen Abnutzungsspuren, die typischerweise beim Zerkleinern von krautigen Pflanzen und ihren unterirdischen Speicherorganen entstehen – jenen Knollen, Zwiebeln, Wurzeln und Rhizomen, in denen die Pflanzen Kohlenhydrate speichern. Nur ein kleinerer Teil der Werkzeuge wies Spuren auf, die auf die Verarbeitung von tierischem Gewebe hindeuten.
Möglicherweise waren die frühen Menschen eher auf Fett als auf Fleisch aus, als sie anfingen, Tiere zu schlachten. Jessica Thompson von der Yale University in Connecticut und ihr Team vermuten: Bevor die Homininen Steinwerkzeuge für die Jagd auf große Tiere einsetzten, nutzten sie einfachere Werkzeuge, um aus Kadavern nahrhaftes Mark und Gehirngewebe zu gewinnen. Mageres Fleisch, etwa von Wildtieren, ist schwerer zu verstoffwechseln. Und enthält die Nahrung kein Fett, kann dies zu Eiweißvergiftungen und anderen Krankheiten führen. Indem unsere Vorfahren also Tierknochen zertrümmerten, sicherten sie sich vermutlich jene zusätzlichen Nährstoffe, die ihrem Gehirn das Wachsen ermöglichten. Komplexere Jagdtechniken brauchten sie hierfür nicht und entwickelten sie erst später.
Vielseitige Ernährung in der Steinzeit
Fett und Fleisch von Landsäugetieren waren natürlich nicht die einzigen Kalorienquellen für Homininen. Alle, die an Flüssen, Seen und Ozeanen lebten, ernährten sich zusätzlich von Fischen, Schalentieren sowie anderen Wassertieren und -pflanzen. Bereits vor 1,95 Millionen Jahren verspeiste der Frühmensch im Turkana-Becken in Kenia unter anderem Fische und Schildkröten.
Womöglich konnten unsere Vorfahren auch mehr Kalorien aus pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln verwerten, weil sie diese kochten, was das Kauen und Verdauen erleichterte. Richard Wrangham von der Harvard University stellte die Theorie auf, dass das Kochen dem frühen Menschen die zusätzliche Energie lieferte, die ein größeres Gehirn erforderte. 2022 berichtete ein Forschungsteam, dass es am Fundort Gesher Benot Ya'aqov in Israel Überreste von Fischen gefunden habe, die vor 780 000 Jahren möglicherweise unter kontrollierter Hitze gekocht worden waren.
Zahnstein verrät Essgewohnheiten
Hinweise auf die Essgewohnheiten früher Menschen liefern auch Zähne. Im Zahnstein zweier Funde von Australopithecus sediba aus Südafrika fanden sich mikroskopisch kleine Siliziumdioxidpartikel von Pflanzen, die diese Vormenschen vor fast zwei Millionen Jahren verputzt hatten, darunter Rinde, Blätter, Seggen und Gräser.
Selbst die Neandertaler, unsere stämmigen Verwandten, die über Hunderttausende von Jahren Eurasien dominierten und als geschickte Großwildjäger gelten, ernährten sich von Pflanzen. Amanda Henry von der Universität Leiden in den Niederlanden und ihre Kollegen fanden Spuren von Hülsenfrüchten, Datteln und Wildgerste im Zahnstein fossiler Zähne. Forscher unter der Leitung von Karen Hardy von der University of Glasgow in Schottland entdeckten geröstete Stärkekörner an Neandertalerzähnen – ein Hinweis darauf, dass gekochtes Gemüse auf ihrem Speisezettel stand. Einige Neandertaler waren möglicherweise sogar Vegetarier: Eine Studie von Laura Weyrich von der Pennsylvania State University analysierte DNA aus Zahnstein von Neandertalern aus der El Sidrón-Höhle in Spanien. Sie fand Spuren von Pinienkernen, Moos und Pilzen – aber keinerlei tierisches Erbgut.
James Fellows Yates vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine Kollegen analysierten die DNA von Bakterien, die im Zahnstein von Neandertalern erhalten geblieben war. Sie verglichen ihre Ergebnisse mit bakterieller DNA aus den Zähnen von heutigen Schimpansen, Gorillas, Brüllaffen und Menschen. Das Team stellte fest, dass sowohl Neandertaler als auch moderne Menschen eine Gruppe von Streptococcus-Bakterien im Mund hatten, die bei den nichtmenschlichen Primaten fehlte.
Diese Streptokokken ernähren sich von Zucker aus stärkehaltiger Nahrung wie Wurzeln, Samen und Knollen. Nichtmenschliche Primaten fressen aber hauptsächlich Pflanzenteile mit wenig Stärke. Das deutet darauf hin, dass sich die Gattung Homo bereits an eine Ernährung mit einer Fülle von stärkehaltigen Pflanzen gewöhnt hatte, als sich Neandertaler und moderne Menschen vor etwa 600 000 Jahren von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren abspalteten. Dieser Zeitpunkt ist auch ein Indiz dafür, dass eine kohlenhydratreiche Kost das Wachstum des menschlichen Gehirns förderte.
Betrachte man die Zahnmorphologie der Homininen im Lauf der Zeit, erkenne man, dass die Australopithecinen große, flache Zähne mit dickem Zahnschmelz besaßen, erklärt der Paläoanthropologe und Evolutionsbiologe Peter Ungar von der University of Arkansas. Das deutet darauf hin, dass sie darauf spezialisiert waren, harte Nahrung wie Samen zu zerkleinern. Sein Nachfahre, der moderne Mensch, entwickelte hingegen kleinere Zähne mit Kämmen, die auch mit zäher Nahrung wie Fleisch zurechtkamen. Allerdings fehlen uns die langen, scharfen Eckzähne, mit denen Raubtiere ihre Beute reißen, ebenso wie die scharfkantigen Reißzähne, mit denen sie das Fleisch zerkleinern.
»Wir sind keine reinen Fleischfresser, das waren wir nie« sagt Ungar. »Unsere Zähne sind nicht für den Verzehr von Fleisch ausgelegt.« Das bedeute jedoch nicht, dass wir nicht von tierischem Gewebe leben können, fügt er hinzu – durch manuelles Zerkleinern und Kochen wird Fleisch für uns leichter verdaulich –, aber »jeder, der lange genug an Trockenfleisch gekaut hat, weiß, dass unsere Zähne dafür nicht gemacht sind. Auch nicht für ein rohes Steak.«
»Unsere Zähne sind nicht für den Verzehr von Fleisch ausgelegt«Peter Ungar, Paläoanthropologe und Evolutionsbiologe
Die mikroskopisch kleinen Furchen und Kratzer, die Lebensmittel auf den Zähnen hinterlassen, belegen das: Während die Abnutzungsspuren bei Australopithecus auf eine begrenzte Nahrungsauswahl hindeuten, zeigen die Muster beim frühen Homo eine etwas größere Bandbreite. Bei späteren Vertretern unserer Gattung weisen solche Spuren darauf hin, dass sie noch abwechslungsreicher aßen. Obwohl die Belege überschaubar sind, lassen sie laut Ungar darauf schließen, dass sich der moderne Mensch zu einem vielseitigeren Esser als seine Vorfahren entwickelt habe. Diese Flexibilität half ihm, sich neue Lebensräume mit einer größeren Vielfalt an Nahrungsmitteln zu erschließen.
Was uns die letzten Jäger und Sammler verraten
Verfechter tierischer Ernährung verweisen gerne auf die Hadza, eine Volksgruppe von Jägern und Sammlern im Norden Tansanias. Auch Paul Saladino und Liver King erwähnen sie regelmäßig in ihren Social-Media-Videos. »Ich kann euch ganz klar sagen, dass sich die Hadza einen Dreck um Gemüse scheren. Sie essen nicht wirklich Gemüse«, sagt Saladino, der die Hadza einmal auf einer Exkursion für Touristen besucht hat.
Anthropologen, die länger bei den Hadza gelebt und ihre Ernährung über Jahre hinweg untersucht haben, würden widersprechen. Herman Pontzer von der Duke University in North Carolina, weist etwa darauf hin, dass pflanzliche Lebensmittel mindestens die Hälfte ihrer Ernährung ausmachen. Seit Jahrzehnten würden Fachleute das beobachten. Die Hadza sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Auf der ganzen Welt beziehen die letzten verbliebenen Jäger und Sammler durchschnittlich etwa die Hälfte ihres Kalorienbedarfs aus pflanzlichen Lebensmitteln. Allerdings zeigt das noch nicht den wahren Wert vom Jagen und Sammeln. Die Lebensweise ermöglicht es den Menschen nämlich, sich flexibel an das Nahrungsangebot ihrer Umgebung je nach Jahreszeit anzupassen. Langzeitstudien zeigen, dass die Hadza in manchen Monaten den Großteil ihrer Kalorien aus Honig beziehen, in anderen dagegen hauptsächlich aus pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Wurzelgemüse. Es gibt also Phasen, in denen sie fast gar kein Fleisch essen.
Was den Menschen so erfolgreich gemacht hat, war nicht, dass wir Pflanzen durch Tiere ersetzt haben, sondern dass wir die Jagd zu unserem Repertoire hinzugefügt haben. »Jagen und Sammeln liefert täglich zuverlässig mehr Kalorien als jede andere Strategie von Primaten«, sagt Pontzer. Das »gemischte Portfolio« sei der Schlüssel. »Einige Menschen jagen reichhaltige, schwer zu erbeutende Tiere mit viel Protein und Fett«, sagt er. »Andere konzentrieren sich auf verlässlichere, pflanzliche Nahrungsmittel. Zum Erfolgt führt eine gute Balance dieser Komponenten.«
»Wenn jemand behauptet, es gebe nur eine richtige Art zu essen, dann hat er Unrecht, und man sollte nicht mehr auf ihn hören«Herman Pontzer, Anthropologe
Das Jagen und Sammeln liefert genug Kalorien, so dass die Menschen es sich leisten können, die Nahrung mit anderen Gruppenmitgliedern zu teilen – auch mit Kindern, deren Gehirn sich langsamer entwickelt als bei vielen Tieren und die länger brauchen, um für sich selbst zu sorgen. Reine Pflanzenesser schaffen das nicht: Zwar liefern Pflanzen täglich verlässlich Kalorien, aber oft nicht genug, um einen Überschuss zu erzeugen. Strikte Fleischesser wiederum müssen häufig lange Hungerperioden zwischen den Mahlzeiten aushalten. Kombiniert man jedoch beides, entsteht ein Kalorienüberschuss, so Pontzer. Dieser ermögliche energieintensive Entwicklungen wie große Gehirne und eine lange Kindheitsphase.
Die fossilen, archäologischen und ethnografischen Beweisstücke zeigen also: Uns ist keine einheitliche Ernährung von der Natur vorgegeben. Die Essgewohnheiten unserer Vorfahren variierten im Lauf der Zeit und mit ihrem Lebensraum erheblich. Jahreszeiten, klimatische Änderungen oder das Erschließen neuer Ökosysteme boten ihnen immer wieder andere Nahrung. Inmitten dieser Unsicherheiten und Veränderungen entwickelte der Mensch die Fähigkeit, mit einer beeindruckenden Vielfalt an Nahrungsmitteln zu überleben und zu gedeihen.
Selbst die letzten heute lebenden Jäger und Sammler ernähren sich mit einem sehr schwankenden Anteil an pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln. Dabei sind sie größtenteils gesund und leiden kaum an Herzkrankheiten, Diabetes und anderen Zivilisationskrankheiten, die in den Industrienationen weit verbreitet sind. Wie also kann man sich gesund ernähren? »Ich denke, das bedeutet, dass man sich frei fühlen sollte, verschiedene Ernährungsweisen auszuprobieren und eine zu finden, die einem zusagt«, sagt Pontzer. »Wenn jemand behauptet, es gebe nur eine richtige Ernährung, dann hat er Unrecht, und man sollte nicht mehr auf ihn hören.« Übrigens: Paul Saladino hat mittlerweile zugegeben, nicht mehr ausschließlich tierische Produkte zu essen. Gesundheitliche Probleme hätten ihn zu diesem Schritt bewogen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.