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News: Erste Erinnerungen

Kinder kommen nicht mit einem vollständig ausgereiften Gehirn auf die Welt. Die Leistung, Dinge im Langzeitgedächtnis zu behalten, bildet sich im zweiten Lebensjahr aus.
Trauen Sie niemandem, der behauptet, sich noch ans erste Mobile über seinem Kinderbettchen zu erinnern. Denn in dem Alter, in dem Bärchen und Bienchen über unseren Köpfen schaukeln, genießen wir noch ungetrübt den Augenblick. Von Erinnerungsvermögen ist im ersten dreiviertel Jahr nicht viel zu spüren.

Für einen sechs Monate alten Säugling ist ein Tag noch ein ganzes Leben, denn die Kinder können sich an nichts erinnern, was über diesen begrenzten Zeitrahmen hinausgeht. Erst wenn sie neun Monate alt sind, besteht Gefahr, dass sie ganz genau behalten, wer ihnen den letzten Keks weggegessen hat. Jetzt reicht das Gedächtnis immerhin schon einen Monat zurück; eine beachtliche Leistung für einen so kleinen Menschen.

Da lag der Schluss nahe, das sich entwickelnde Erinnerungsvermögen mit der voranschreitenden Reifung des jungen Gehirns in Verbindung zu setzen. Denn im ersten Jahr durchläuft das menschliche Denkorgan immense Veränderungen, indem es bestimmte Nervenzellen miteinander verknüpft, andere Bindungen wieder lockert und so ein filigranes Netzwerk aufbaut. Durch diese Prozesse sollten sich Informationen im Neocortex sowohl besser speichern als auch wieder abrufen lassen.

Um diese Hypothese zu überprüfen, animierten Conor Liston und Jerome Kagan vom der Harvard University ihre kleinen Versuchsteilnehmer im Alter von 9, 17 und 24 Monaten zu bestimmten Bewegungsabläufen. So sollten die Kinder unter der verbalen Bezeichnung "Aufräum-Zeit" mit einem Papiertuch den Tisch wischen und dieses Tuch anschließend in den Papierkorb werfen. Mit der Aufforderung "Bau eine Rassel" verbanden die Kleinkinder eine Flasche, die sie kräftig schüttelten, nachdem sie einen Ring hineingeworfen hatten.

Damit die Aktionen den Kindern gut im Gedächtnis blieben, konnten sie den Vorgang zuerst drei bis fünf Mal bei den Erwachsenen anschauen. Dann wurden sie ermutigt, es den Großen nachzutun. Während die Größeren mit 17 und 24 Monaten vier Demonstrationen für jede Sequenz beobachteten, schauten sich die Jüngeren alles lieber doppelt so oft an – als Ausgleich für ihre Unreife, wie die Forscher annahmen.

Vier Monate später sollten die Zwerge den Aufforderungen "Aufräum-Zeit" oder "Bau eine Rassel wieder nachkommen – und dies alles, ohne die Aktionen vorher nochmal gesehen zu haben. Wie erwartet konnten sich beide Gruppen älterer Kinder, also jene, die nun 21 und 28 Monate alt waren, gut an Vergangenes erinnern und die Vorgänge nahezu mühelos wiederholen. Die Jüngsten unter ihnen jedoch hatten Schwierigkeiten mit ihrem Gedächtnis und machten viele Fehler.

So unterstützen Kagan und Liston mit ihren Ergebnissen die gängigen Annahmen, dass sich das Langzeitgedächtnis von Kindern erst im zweiten Lebensjahr entwickelt. Im Alter von neun Monaten hingegen sind der Hippocampus und die zuständigen Regionen im frontalen Cortex nicht vollständig gereift. Das geringe Erinnerungsvermögen Ihrer Kleinen sollte Sie jedoch nicht dazu ermutigen, ihnen im ersten Jahr den Keks zu stibitzen. Denn die Beschwerde folgt hier garantiert sofort – und zwar durch lautstarkes Gebrüll.

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