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News: Erwartung und Realität

Sind unsere Wahrnehmungen immer wirklichkeitsgetreue Widerspiegelungen von Informationen aus der realen Welt? In den vergangenen Jahrhunderten haben Philosophen und Forscher vermutet, daß die Antwort auf diese Schlüsselfrage der Neurowissenschaft 'nein' lautet. Unsere Erwartungen spielen eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung. Für einen nervösen Rucksacktouristen, der nachts durch den Wald läuft, könnte beispielsweise jeder gebogene Stock auf dem Boden wie eine Schlange aussehen. Neue experimentelle Erkenntnisse bestätigen einige dieser Thesen und erweitern sie auf eine wichtige Weise.
Forscher des Max-Planck-Instituts für Biologische Kybernetik in Tübingen (Prof. Heinrich Bülthoff und Dr. Isabelle Bülthoff) und der University of Wisconsin-Madison (Prof. Pawan Sinha) berichten in Nature Neuroscience vom 3. Juli 1998 über neue Erkenntnisse zur Interaktion zwischen Tiefenwahrnehmung, Objekterkennung und visueller Verarbeitung im Gehirn.

Die Wissenschaftler zeigen, daß ein hoher Grad an Erwartungen einen derart profunden Einfluß auf unsere visuellen Systeme ausübt, daß diese tatsächlich unsere Interpretation der grundlegendsten Wahrnehmungsmerkmale verändern können – auch solcher, die bisher gegenüber derartigen Einflüssen als immun galten. Diese Entdeckungen beeinflussen die Art der internen Objekt-Repräsentation sowie die Modelle für die visuelle Verarbeitung im Gehirn.

Interessanterweise entsprangen die Erkenntnisse einer zufälligen Beobachtung. Die Forscher versuchten zu bestimmen, ob die Verzerrung der Tiefenstruktur eines Objekts bei gleichzeitiger Bewahrung seiner zweidimensionalen Erscheinung es für den Beobachter schwieriger macht, das Objekt zu erkennen. Die Reize, die sie benutzten, waren Filme von der Art, wie sie Johansson in den 70er Jahren populär machten. Es handelt sich um Sequenzen, die erzeugt werden, indem einer schwarzgekleideten Person kleine Lämpchen an jedes Gelenk befestigt werden. Die Versuchsperson vollführt dann einfache Handlungen, wie Gehen oder Laufen, in einem vollständig verdunkelten Raum und wird dabei gefilmt. Der so entstehende Film zeigt nur das Bewegungsmuster der zehn bis zwölf Lichtpunkte (der Körper der Person bleibt vollständig in Dunkelheit gehüllt). Ungeachtet der Einfachheit der Bildsequenzen können Beobachter sofort das sich bewegende Licht als menschliche Form erkennen. Die Wahrnehmung ist extrem deutlich und scheint deshalb für die Experimente der Forscher über das Wiedererkennen gut geeignet zu sein.

Die dreidimensionalen Koordinaten der zwölf Punkte im Verlauf der Zeit wurden so manipuliert, daß die Tiefenstruktur der zugrundeliegenden menschlichen Form vollständig durcheinandergewürfelt wurde, während ihre zweidimensionale Erscheinung erhalten blieb. In der Sequenz trat dann beispielsweise der Eindruck auf, daß sich die Knie- und Ellbogenpunkte in der Tiefe kreuzten. Diese Struktur wurde von den Probanden mit Hilfe spezieller Stereobrillen in 3D betrachtet. Zu ihrer Überraschung entdeckten die Forscher, daß die Wahrnehmung völlig unbeeinflußt blieb. Die betrachtenden Personen schienen die verzerrten Strukturen nicht als verzerrt wahrzunehmen. Offenbar ist es so, daß unsere Erwartung dessen, die dreidimensionale Struktur eines Menschen zu sehen, sich über die tatsächliche Tiefeninformationen hinwegsetzt.

Speziell entwickelte Experimente mit verschiedenen Versuchspersonen bestätigten diese Beobachtungen. Die Probanden waren bei der Beurteilung der Tiefenstruktur von zufälligen dynamischen Strukturen (die vermutlich keinen starken Einflüssen unterworfen sind) bedeutend genauer als bei einer gehenden menschlichen Figur.

Diese Resultaten lassen zwei grundlegende Folgerungen zu. Die erste betrifft die Art der mentalen Darstellung dynamischer Objekte. Der begrenzte Einfluß der Tiefeninformationen auf die Wahrnehmung der Versuchspersonen deutet darauf hin, daß die internen Vorstellungen eher die zweidimensionale Spurstruktur eines Objektes betonen, als seine 3D-Geometrie. Neuere Berichte von Prof. Nikos Logothetis, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik, über "seh-abgestimmte" Neuronen für dreidimensionale Objekte in dem inferior-temporalen Cortex von Affen stehen im Einklang mit dieser Vorstellung.

Die zweite Folgerung betrifft die Existenz eines "top-down" Kontrollprozesses. Dieser bewirkt, daß die Informationen, welche die primären Tiefenwahrnehmungsprozesse auf der Grundlage der binokularen Aufnahme durch die Augen liefern, nachträglich angepaßt werden. Die allgemeine Idee, daß solche top-down-Mechanismen die Wahrnehmung verändern können, ist sicherlich nicht neu. Der Beitrag der neuen Studie ist, daß sogar die Stereo-Tiefenwahrnehmung für top-down-Prozesse empfänglich ist. Angesichts einiger neuerer Computermodelle des Neocortex sind diese Ergebnisse besonders interessant. Die Modelle gehen davon aus, daß die Rückmeldungen cortico-corticaler Projektionen möglicherweise die Wege zur Verfügung stellen, über die sich top-down-Prozesse ausbreiten könnten.

Eine Verbesserung der konventionellen feed-forward-Modelle der Wahrnehmungsprozesse durch die Einbeziehung von top-down-Kontrollprozessen verspricht eine kompletteres Bild zu liefern, wie das Gehirn seine erstaunlichen Leistungen der visuellen Wahrnehmung und Erkenntnis vollbringt.

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