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Türkei-Krise: "Es gibt da eine Schere im Kopf"

Die Alexander von Humboldt-Stiftung holt mit Stipendien Forscher aus aller Welt nach Deutschland. Die aktuelle Entwicklung in der Türkei sei beispiellos, sagt Generalsekretär Enno Aufderheide im Interview. Auch Humboldt-Stipendiaten sind betroffen.
Türkische Fahne

Der Putschversuch in der Türkei hat weit reichende Konsequenzen überall in der Gesellschaft – auch und insbesondere für Akademiker. Sie dürfen aktuell das Land nicht verlassen. Im Ausland tätige türkische Forscher wurden aufgefordert, in die Türkei zurückzukehren. Das alles ist Teil der "Säuberungen", mit denen Präsident Erdogan die angeblichen Verantwortlichen des Putschversuchs loswerden will. Auch in Deutschland tätige Forscher sind betroffen. "Spektrum der Wissenschaft" sprach mit Enno Aufderheide, Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, die ausländischen Forschern mit Stipendien einen Aufenthalt in Deutschland ermöglicht.

Spektrum der Wissenschaft: Herr Aufderheide, wie viele Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung sind von den aktuellen Entwicklungen in der Türkei betroffen?

Enno Aufderheide: Aktuell haben wir zehn Stipendiaten aus der Türkei in Deutschland. Im Lauf des Jahres 2016 sollten es insgesamt 20 werden, aber ich glaube nicht, dass wir diese Zahl noch erreichen.

Spüren Sie schon konkrete Einschnitte nach dem Putschversuch?

Ja. Gestern haben zwei Stipendiaten ihren Aufenthalt in Deutschland abgesagt.

Wie bewertet die Alexander von Humboldt-Stiftung die Entwicklungen?

Enno Aufderheide, Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung

Alle Förderorganisationen in Deutschland machen sich angesichts der Entwicklungen große Sorgen. Man spürt da ein klares Bewusstsein der Gefahr, die Wissenschaftlern in der Türkei droht.

Und wie wird man mit den neuen Problemen umgehen? Was geschieht mit den Stipendien der Forscher, die ihren Aufenthalt abbrechen müssen?

Wir werden flexibel sein und die Möglichkeit schaffen, abgebrochene oder abgesagte Stipendien später wieder aufzunehmen. Es ist uns sehr wichtig, das zu betonen. Diese Wissenschaftler sind weiter willkommen, wir werden die Türe offen halten. Das ist eine bedauerliche Situation. Mit unserer Haltung wollen wir ein Signal senden, das einer Eskalation entgegenwirkt.

Gibt es Beispiele für eine solche Situation? Präzedenzfälle?

Das ist ein beispielloser Vorgang. Die Alexander von Humboldt-Stiftung ist mehr als 60 Jahre alt. Während des Kalten Krieges gab es natürlich ebenfalls politisch schwierige Phasen für uns. Manche Stipendiaten aus Rumänien konnten in Zeiten des Ceaușescu-Regimes ihre Stipendien erst nach Jahren antreten. Aber diese Systematik, mit der die Türkei gegen die Universitäten und Akademiker vorgeht, hat es so noch nicht gegeben.

"Ich würde der Presse nichts über individuelle Pläne verraten, aus Angst, dass das zu Repressionen in der Türkei führen könnte"

Stehen Sie in Kontakt mit den türkischen Stipendiaten in Deutschland? Wie geht es ihnen?

Die zehn Stipendiaten sind in einer schwierigen Situation. Sie haben sich bisher noch nicht geäußert. Ich kann Ihnen nichts Konkretes über die weiteren Entwicklungen für sie sagen. Aber selbst wenn ich dazu etwas wüsste: Es gibt da eine Schere im Kopf. Ich würde der Presse nichts über individuelle Pläne verraten, aus Angst, dass das zu Repressionen in der Türkei führen könnte.

Hat sich diese Zuspitzung angedeutet?

Bereits in den letzten Monaten hatte ich bei Kontakten in die Türkei das Gefühl, dass die Menschen nicht frei sprechen. Dass es auch dort eine Schere im Kopf gibt. Das habe ich in der Breite so noch nicht erlebt. Und wir haben auch mit politisch schwierigen Ländern in Afrika oder dem Nahen Osten zu tun. Aus der Türkei kamen bereits vor der letzten Entwicklung die zweitmeisten Personen in unserer Philipp-Schwartz-Initiative, die es ermöglicht, gefährdete Forscher in Deutschland aufzunehmen. Sechs türkischen Akademikern bieten wir in diesem Rahmen hier Schutz.

Was bedeuten die aktuellen Schritte für die Zukunft der Wissenschaft in der Türkei?

Die Türkei schadet sich durch die Verfolgung von Akademikern langfristig selbst. Wir wissen, wie viele Forscher in den 1930er Jahren aus Deutschland vertrieben wurden und geflohen sind – und wie das die deutsche Forschung geschwächt hat.

Hätten die Bundesregierung oder die EU früher und härter reagieren müssen? Hätte das vielleicht etwas genützt?

Ich glaube nicht, dass die deutsche Regierung oder die EU viel tun konnten, um diese Situation zu verhindern. Mit harten Maßnahmen sind auch andere Länder gegenüber der türkischen Führung nicht weitergekommen. Was wir als Vertreter der Wissenschaft tun können, ist, die Kanäle offen zu halten. Wenn Tauwetter eintritt, kann man über diese Kanäle das Tauen beschleunigen. Das hat man in der Geschichte oft gesehen.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

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