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Nuklearer Notstand: "Es muss noch Monate gekühlt werden"

Karlsruher Forscher modellieren, wie sich die Situation am japanischen Unglücksmeiler entwickeln kann. spektrumdirekt sprach dazu mit Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie, dem Leiter der Arbeitsgruppe. Die Entwicklung in Fukushima ist dramatisch. Das Interview gibt deshalb den Stand von Mittwochabend wieder.
Siedewasserreaktor
Herr Knebel, Sie leiten eine rasch zusammengestellte große Arbeitsgruppe, die sich mit den aktuellen Ereignissen rund um den japanischen Reaktor Fukushima I befasst. Welche Fragestellungen stehen dabei im Vordergrund?

Es geht im Prinzip darum herauszufinden, welche Reaktorkomponenten zerstört wurden oder wie sich dieser Unfall im Reaktor fortpflanzt – vom Kühlwasserverlust über Aufheizung des Kerns bis hin zur Zerstörung des Reaktorgebäudes oder im schlimmsten Fall einer Kernschmelze.

Wie kommen Sie an Ihre Daten? Sind Sie zufrieden mit dem Informationsfluss aus Japan?

Helmholtz-Forscher Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie | Der promovierte Ingenieur Joachim Knebel ist Sprecher des Helmholtz-Programms Nukleare Sicherheitsforschung und Chief Science Officer (CSO) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Gegenwärtig steht er einer Arbeitsgruppe vor, die sich aus verschiedenen Helmholtz-Abteilungen zusammensetzt und aktuell die Geschehnisse rund um den japanischen Reaktor Fukushima untersucht.
Die Daten sind nicht umwerfend, aber die japanische Seite versucht ihr möglichstes, um Informationen zu liefern. Zusammen mit der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, der Internationalen Atomenergiebehörde und anderen Forschungseinrichtungen versuchen wir so viele Daten zu bekommen, wie es geht, und tauschen uns aus. Auch die Medien liefern wichtigen Input wie zum Beispiel aktuelle Satellitenbilder oder Bilder aus der Anlage selbst. Hier überschlagen sich die Meldungen, leider nicht zum Guten. Aus diesem Grund können Einschätzungen schnell überholt sein!

Und diese speisen Sie dann in Ihre Modelle?

Wir arbeiten mit Annahmen und spielen verschiedene Szenarien durch bis hin zur schlimmsten anzunehmenden Entwicklung, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr ausschließen können. Wir spielen beispielsweise durch, was passiert, wenn der Kern und die Brennelemente im Lagerbecken schmelzen. Im Moment definieren wir also vor allem die Randbedingungen und stellen unsere Modelle so auf, dass wir schnell reagieren können, wenn sich die Datenlage ändert.

Können Sie das an einem konkreten Fall erklären?

Wir beobachten die Freisetzung von radioaktiven Spaltprodukten, die zum Beginn des Unfalls beim gezielten Abblasen des Dampfs aus dem Reaktorgebäudes in die Umwelt gelangten. Jetzt, wo die Reaktorgebäude stark beschädigt sind, müssen wir stark erhöhte Dosiswerte beobachten. Das bedeutet, dass massiv radioaktive Stoffe in die Umgebung gelangen.
Mehr zum Thema finden Sie auf unserer Sonderseite "Erdbeben und Reaktorunglück in Japan".
Kennt man dann die genauen Windprofile – etwa über den Deutschen Wetterdienst –, kann man sehr genau berechnen, wohin sich die Radioaktivität ausbreitet. Die Wetterdaten nutzen wir zusammen mit Angaben zur Topographie in der Region, um verschiedene Szenarien durchzuspielen – und können ausrechnen, wie lange es unter bestimmten Annahmen dauert, bis der Fallout in Tokio ankommt und in welcher Größenordnung.

Messen Sie auch aktiv in Deutschland oder Europa?

Wir haben Zugang zu den weltweiten Netzwerken von Messsstationen.

Siedewasserreaktor | Die Grafik zeigt den Schnitt durch einen Siedewasserreaktor, wie er auch im japanischen Fukushima steht. Im Zentrum befindet sich der Reaktordruckbehälter mit den Kernbrennstäben. Unterhalb des orange gefärbten Lastenkrans liegt das Abklingbecken, in dem verbrauchte Brennstäbe ihre Restwärme nach und nach abgeben sollen.
Wie viel Fallout könnte in Deutschland ankommen?

Quantitative Abschätzungen können wir momentan noch nicht abgeben. Wegen der sehr großen Entfernung und der umfassenden Durchmischung in der Atmosphäre ist anzunehmen, dass nicht viel davon Deutschland erreicht – zumal ein Teil unterwegs durch Niederschläge ausgewaschen wird. Man kann dagegen relativ genau ausrechnen, wie viel sich in Japan niederschlagen wird. Ich möchte aber betonen: Wir haben keine zuverlässigen Aussagen und Messdaten aus Japan über die Aktivitätsfreisetzungen, so dass wir unsere Rechnungen fortwährend angleichen müssen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass der Kern in einem der Reaktoren vollständig versagen wird?

Die Zahl der Arbeiter im Kernkraftwerk wurde bereits stark reduziert. Die Bilder zeigen uns sehr starke Zerstörungen der Reaktorgebäude, die Strahlenbelastungen im Kraftwerk nehmen stark zu. Der Zustand der Anlagen, speziell 3 und 4, erscheint sehr kritisch. Ich denke, wir müssen hier von einer teilweisen oder vollständigen Kernschmelze ausgehen.

Wie lange muss man den Reaktorkern nach dem Abschalten noch kühlen?

Das dauert Monate. Die Nachzerfallswärme liegt direkt nach dem Abschalten bei etwa acht Prozent der ursprünglichen Hitze und fällt dann weiter ab. Im Moment dürfte sie noch bei circa einem Prozent liegen. Die Nachzerfallswärme sinkt also rasch, bleibt dann aber auf einem gewissen Niveau, das zu hoch ist, um die Wärme einfach nur über Konvektion abzuführen. Man muss folglich aktiv kühlen.

Man muss sich vorstellen, mit welcher Urgewalt Beben und Tsunami über das Kernkraftwerk hereingebrochen sind. Die Kraftwerke wurden per Schnellabschaltung heruntergefahren, als die Erde bebte. Und anschließend sprangen auch die Notstromaggregate an, um die Kühlung aufrecht zu erhalten. Die Nachwärmeabfuhr hatte eingesetzt. Erst als der Tsunami die Dieselmaschinen und alle Hilfskühlsysteme – die Leitungen, Pumpen und so weiter – zerstört hatte, lief die Sache aus dem Ruder.

Deshalb überlegte man sich, den Reaktor mit Meerwasser zu fluten?

Der Ozean dürfte die einzig verbliebene Wasserquelle sein. Das Beben hat wahrscheinlich sämtliche herkömmlichen Zuleitungen zerstört.

Stellen Sie Ihre Daten auch der deutschen Politik zur Verfügung?

Ja, wir stehen im direkten Kontakt mit der Landesregierung von Baden-Württemberg und den Ministerien in Berlin und tauschen uns mit unseren wissenschaftlichen Kollegen in der Helmholtz-Gemeinschaft und im Kompetenzverbund Kerntechnik aus. Wir beraten, was die konkrete Situation vor Ort anbelangt und geben Lageeinschätzungen – etwa, ob Deutsche vor Ort ausfliegen sollen oder nicht. Und wir geben unter vorher definierten Randbedingungen neue Einschätzungen zu den Sicherheitseigenschaften der deutschen Kernkraftwerke ab, indem wir mit den neuen Daten Szenarien für unsere Reaktoren durchrechnen. Die wissenschaftlich-neutralen Fakten und Ergebnisse liefern wir dann als Entscheidungsgrundlage an die Politik.

Und das KIT hilft konkret Menschen, die sich in Japan in Gebieten mit erhöhter Strahlung aufgehalten haben. Diese können sich in unserem regionalen Strahlenschutzzentrum im Campus Nord in einem Body-Counter auf mögliche Kontaminationen untersuchen und beraten lassen.

Herr Knebel, vielen Dank für das Gespräch.

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