Magersucht: Warum nehmen Essstörungen zu?
Pünktlich zum Start der Casting-Show "Germany's Next Topmodel" hat die Publizistin Sonja Vukovic Anfang Februar 2017 aus ihrer Autobiografie im Münchner Künstlerhaus gelesen: In "Gegessen. Wer schön sein will, muss leiden, sagt der Schmerz …" erzählt sie schonungslos ehrlich, wie sie 13 Jahre lang an Bulimie und Magersucht litt, sich also häufig nach dem Essen großer Mengen erbrach, ständig Sportprogramme absolvierte oder sich tagelang jeden Bissen verweigerte, bis sie von einer neuen Fressattacke heimgesucht wurde. Sie erzählt, wie sie dann 13 Jahre lang brauchte, um sich heute geheilt nennen zu können. Und sie berichtet von zahlreichen Rückschlägen, von ihrem Glück, an warmherzige Ärztinnen geraten zu sein, von den Depressionen ihrer Mutter, von ihrem alkoholsüchtigen Vater, von einem Trainer, der sie als junges Mädchen missbrauchte.
Häufig bekommen Betroffene den Ratschlag, sich doch zusammenzureißen und endlich normal zu essen. Doch Bulimie (Ess-Brech-Sucht), Magersucht sowie Binge Eating Disorder sind schwere psychische Erkrankungen. Sie gehen oft auch mit Angststörungen, Depressionen, Selbstverletzungen, Borderline-Störung oder Suchterkrankungen einher – mit einfachen Ratschlägen ist es dabei nicht getan. Laut einer Studie von Corinna Jacobi, Psychologin an der TU Dresden aus dem Jahr 2016, leiden 2,2 Prozent der Frauen und 0,7 Prozent der Männer einmal im Leben unter einer der drei Hauptformen von Essstörungen. Und teilweise nehmen diese Leiden auch zu.
So gibt es einen Anstieg etwa bei der Magersucht, bei der die Betroffenen sich immer weiter herunterhungern und sich dabei stets noch zu dick finden. Von 100 000 Personen erkrankten im Jahr 2000 17 daran, heute sind es laut dem Statistischen Bundesamt 33. "Vor allem kommen immer jüngere Patientinnen im Alter von zehn bis zwölf Jahren auf die Kinderstation", sagt Beate Herpertz-Dahlmann von der Universität Aachen. "Das macht uns Sorgen, weil diese Kinder nur wenige Fettpolster haben, mit einer Diät also sehr schnell ein kritisches Gewicht erreichen."
Und auch das Binge-Eating nimmt laut der Einschätzung von Experten zu, obwohl es dazu keine aktuellen deutschen Zahlen gibt. Die Betroffenen sind meist Erwachsene und leiden wie Bulimiker unter unkontrollierbaren Fressattacken, erbrechen sich aber in der Folge nicht. Binge-Eater sind darum meist stark übergewichtig. Laut einer australischen Studie aus dem Jahr 2012 hat sich das Binge-Eating-Verhalten zwischen 1998 und 2008 in der gesunden Bevölkerung von 2,7 auf 4,9 Prozent fast verdoppelt.Die echte Binge-Eating-Störung betrifft jedoch nur 0,2 Prozent der Bevölkerung, sie ist erst seit 2013 als psychische Krankheit im US-amerikanischen Manual DSM-5 aufgelistet. Harte Fakten zu einem etwaigen Trend fehlen darum bislang.
Jedes zweite Mädchen empfindet sich als zu dick
Rückläufige Zahlen finden Statistiker dagegen bei der Bulimie. So waren laut einer holländischen Langzeitstudie in den Jahren 1985 bis 1989 neun Personen von 100 000 krank, während es zwischen 2005 und 2009 nur drei waren. Experten halten dies jedoch für eine statistische Verzerrung. "In den offiziellen Zahlen erscheinen immer nur diejenigen Fälle, die zum Arzt gehen und eine Diagnose erhalten", erklärt die Wissenschaftlerin Herpertz-Dahlmann. Bei der Bulimie gäbe es jedoch zahlreiche Selbsthilfegruppen, die sozusagen im Vorfeld agieren. Abzugrenzen von den eindeutig pathologischen Erkrankungen sind die leichten Essstörungen. So hat das Robert Koch-Institut in der KIGGS-Studie gezeigt, dass rund jedes fünfte Kind einzelne Symptome einer Essstörung aufweist. Obendrein empfand sich fast jedes zweite Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren als zu dick. Diese leichten Essstörungen vergehen jedoch oft von selbst, sie bedürfen in der Regel keiner Therapie. Und sie nehmen laut der KIGGS-Erhebungen aus den Jahren 2003 und 2009 auch nicht zu: "Sie bewegen sich aber auf einem viel zu hohen Niveau", sagt die Aachener Wissenschaftlerin.
Während Experten also vor allem eine Steigerung bei Magersucht in jungen Jahren und dem Binge-Eating allgemein beobachten, weisen einige Studien auch darauf hin, dass mehr Männer betroffen sind als bislang angenommen. So hat etwa Alison Field, Epidemiologin am Boston Children's Hospital, in einer Studie aus dem Jahr 2013 aufgedeckt, dass fast 18 Prozent der 5500 männlichen Befragten extrem auf ihr Aussehen und ihr Gewicht achten, was mit hohem Alkohol- und Drogenkonsum einhergeht. Allerdings können aktuelle Zahlen keine Zunahme belegen: So ist das Geschlechterverhältnis von 1 : 10 bei der Magersucht seit Jahren konstant. Im Fall der Bulimie ist die Schere sogar noch größer. Bei der Binge-Eating-Störung hingegen ist von drei Erkrankten einer männlich. Der Grund, warum Männer nur selten in den Statistiken auftauchen: Essstörungen bei Männern sind eine Art Tabuthema. Sie gelten als Frauenkrankheiten, als Leiden von Magermodels und depressiven Teenager-Mädchen. Darum gehen die Betroffenen nicht zum Arzt. Zudem erkennen viele Mediziner Essstörungen bei jungen Männern nicht. Sie äußern sich etwa weniger in Form von Diäten als vielmehr in einem Fitnesswahn.
Zudem scheinen Essprobleme bei erwachsenen Frauen zuzunehmen. "Bei uns in der Klinik sind Bulimiepatientinnen meist Anfang 20, in letzter Zeit haben wir aber auch häufiger Frauen mit Anfang 40 in Therapie", sagt Maike Kohnert, Medizinerin an der Klinik Dr. Schlemmer in Bad Tölz. Eine Studie unter der Leitung von Nadia Micali von der School of Medicine at Mount Sinai in New York hat ergeben, dass unter den rund 5700 befragten Frauen zwischen 40 und 60 Jahren 3,6 Prozent aktuell an einer Essstörung litten. Ganze 15,3 Prozent gaben sogar an, im Lauf ihres Lebens einmal essgestört gewesen zu sein. Das sind teilweise Frauen, die bereits als Mädchen Probleme hatten, teilweise entwickelt sich eine Essstörung aber auch erst später, etwa bei Umbrüchen wie Auszug der Kinder, Trennung oder beruflichem Wechsel.
Warum erklären Menschen ihrem Körper den Krieg?
Doch warum erkranken Menschen überhaupt an einer Essstörung, warum erklären sie ihrem Körper den Krieg? Die eine Ursache gibt es nicht. "Das Einzige, was allen Betroffenen gemein ist: Sie haben ein geringes Selbstwertgefühl", sagt Kohnert. Oft sind sie als Kinder dick und müssen sich von Schulkameraden oder auch von Eltern abschätzige Kommentare zu ihrer Figur anhören. Dies ist oft der Beginn einer langen Leidensgeschichte von Diäten über fasten, Mahlzeiten auslassen, heimlich essen, Fressanfällen, Abführmitteln, Erbrechen bis hin zu übermäßigem Trinken, der Einnahme von Entwässerungs- und Schilddrüsentabletten und sozialer Isolation. Weil Übergewicht zunimmt und dieses negativ konnotiert ist, nehmen auch die Essstörungen zu.
"Das Einzige, was allen Betroffenen gemein ist: Sie haben ein geringes Selbstwertgefühl"Maike Kohnert
Allen Esssüchten liegen zudem genetische Komponenten zu Grunde. Den stärksten Einfluss haben Erbanlagen jedoch bei der Magersucht. Leidet beispielsweise ein eineiiger Zwilling unter Magersucht, entwickelt in fast zwei von drei Fällen auch das andere Geschwisterteil diese Essstörung. Bei zweieiigen ist es jedes zehnte. Und diese Genvarianten führen vor allem zu Veränderungen im Gehirn, etwa im Serotonin- oder Dopaminstoffwechsel, was das ängstliche und zwanghafte Verhalten vieler Magersüchtiger erklären könnte.
Trotzdem sind sich die Experten einig darin, dass bei allen Essstörungen immer auch die Umwelt eine Rolle spielt. Vor allem das herrschende Schlankheitsideal beobachten Kinderpsychiater mit Argusaugen. In einer Studie aus dem Jahr 2015 vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (PDF) gab ein Drittel der befragten Patientinnen an, die Sendung "Germany's Next Topmodel" sei entscheidend für die eigene Krankheitsentwicklung gewesen. Sonja Vukovic findet: "Noch schlimmer ist, dass die jungen Frauen in der Show lernen, ihre Bedürfnisse und Gefühle wie Hunger, Kälte oder Scham zu unterdrücken." Zugleich prasseln die überzogenen Ansprüche an die "Problemzonen" täglich über die digitalen Medien auf die Kinder ein. "Darum machen einfach mehr jüngere Mädchen Diäten, und wenn dies auf eine Veranlagung trifft, dann beginnt das Hungern", sagt Herpertz-Dahlmann. Und auch Jungs und erwachsene Frauen eifern vermehrt dem Schönheits- und Jugendwahn hinterher. Man sollte also nicht vergessen, dass unsere ganze Gesellschaft beim ständigen Fasten, Detox oder Marathon-Training mitmacht und nicht nur Fernsehshows zum Selbstoptimierungsdruck beitragen.
Hängen unsichere Bindungen mit Essstörungen zusammen?
Warum immer mehr Menschen von Essattacken heimgesucht werden, ist jedoch bislang noch nicht gut erforscht. Martina de Zwaan, Psychologin an der Universität Hannover, meint jedoch, dass beim Binge-Eating das große Nahrungsangebot eine Rolle spiele, das einfach zu verführerisch sei für einen Organismus, der Jahrtausende mit Hunger zu kämpfen hatte. Und natürlich hat auch das Elternhaus einen gewissen Einfluss. In einer Studie der Universitätsklinik Heidelberg von 2016 fiel etwa auf, dass essgestörte Personen vermehrt unsichere Bindungsmuster aufweisen. Empirische Daten belegen auch, dass Anorexiepatienten häufiger Eltern haben, die selbst unter Essstörungen oder anderen psychischen Störungen leiden oder andere kritische Lebensereignisse wie sexuellen Missbrauch oder Scheidung der Eltern erfahren mussten. Sonja Vukovic war von all dem betroffen.
Zu Schuldzuweisungen an die Eltern sollten diese Erkenntnisse jedoch nicht führen. Schließlich müssen sie ein schwer krankes Kind beklagen, ein sehr belastender und überfordernder Zustand. Eine aktuelle Studie von Herpertz-Dahlmann belegt etwa, dass Angehörige von Magersüchtigen sehr häufig depressive Zustände entwickeln. Und tatsächlich gibt es schon mehr Therapieangebote für die Angehörigen wie etwa spezielle Elternseminare; einige Einrichtungen arbeiten von vornherein mit Familientherapie. Oft wird bei Essstörungen auch die Verhaltenstherapie angewandt oder es werden Antidepressiva eingesetzt. Einige Kliniken haben geschlossene Abteilungen, andere arbeiten mit einem offenen Konzept, zudem gibt es Wohngruppen oder Onlinetherapien. Allerdings kann laut einer aktuellen Studie von Andrew Hardaway von der University of North Carolina mit den derzeitigen Verfahren nur rund 50 Prozent der Patienten geholfen werden, 20 Prozent entwickeln eine lebenslange Essstörung, vor allem die Magersucht endet bei 15 Prozent der Patientinnen tödlich.
Sonja Vukovic jedoch hat es geschafft. Sie hat heute selbst eine Tochter und hofft, dass diese von einem ähnlichen Leidensweg verschont bleibt. Die Publizistin hat zwar keine endgültige Lösung für Essprobleme parat. Sie hält es jedoch für sehr wichtig, dass Kinder im Vorfeld gestärkt werden. Denn sie selbst habe sich immer falsch und unzulänglich gefühlt.
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