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Purging-Störung: »Für Betroffene ist ein Teller Nudeln eine riesige Mahlzeit«

Bisher gibt es für die Purging-Störung keine eigene Diagnose. Doch für viele sei es wichtig zu wissen, »dass ihre Essstörung einen Namen hat«, sagt der Mediziner Martin Greetfeld im Interview.
Frau beim Essen von einem Teller Nudeln
Menschen mit Purging-Störung empfinden eine Portion Spagetti bereits als zu viel.

Manche Menschen mit Symptomen einer Essstörung fallen in keine der klassischen Diagnosekategorien Bulimie, Anorexie oder Binge-Eating-Störung. Einige von ihnen leiden an einer Purging-Störung: Sie versuchen nach dem Essen die aufgenommenen Kalorien wieder loszuwerden. Ob die Purging-Störung ein eigenes Krankheitsbild darstellt, ist noch unklar. Doch eine eigene Diagnose sei auch nicht unbedingt notwendig, sagt der Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie Martin Greetfeld, Chefarzt an der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, die sich auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert hat. Im Gespräch erklärt der Mediziner, was die Purging-Störung von anderen Essstörungen unterscheidet und inwiefern Patientinnen und Patienten von einer Diagnose profitieren könnten.

»Spektrum.de«: Was ist mit Purging gemeint?

Martin Greetfeld: Wenn Betroffene purgen, heißt das, dass sie nach dem Essen gegensteuern, also kompensatorische Maßnahmen ergreifen, um die Kalorien wieder abzubauen. Am häufigsten erbrechen sie sich oder nehmen Abführmittel oder hoch dosierte Schilddrüsenmedikamente ein, die den Stoffwechsel ankurbeln. Einige Menschen mit Diabetes betreiben auch so genanntes Insulin-Purging: Sie lassen das Insulin weg, das sie sich eigentlich wegen ihrer Krankheit spritzen müssten, damit ihre Zellen keine Kohlenhydrate mehr aus dem Blut aufnehmen. Weil der Zucker über die Nieren ausgeschieden wird, spricht man auch vom Erbrechen über die Niere. Die Betroffenen haben oft astronomisch hohe Blutzuckerwerte. Das ist hochgradig gefährlich.

Ist Purging eine eigene Krankheit?

Martin Greetfeld | Der Mediziner ist seit 2017 Chefarzt der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Derzeit untersucht er, wie sich Ernährungstrends auf das Essverhalten von Menschen mit Essstörung auswirken.

Die Purging-Störung scheint eine abgrenzbare Erkrankung zu sein, die sich substanziell von der Bulimie unterscheidet. Menschen mit Bulimie leiden unter starken Essanfällen und kompensieren sie meist durch Erbrechen. Bei der Purging-Störung gibt es solche Essanfälle nicht: Die Betroffenen nehmen übliche Nahrungsmittelmengen schon als Essanfall wahr und haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Für sie ist zum Beispiel einen normaler Teller Nudeln bereits eine riesige Mahlzeit, die sich ungut auf Figur und Gewicht auswirkt. Beide Störungen scheinen sich aber ähnlich zu entwickeln: Die Betroffenen erkranken oft mit Anfang 20. Außerdem sind sie eher impulsiv und häufiger von depressiven Störungen betroffen.

Gilt das ebenso für die Therapie?

Die meisten Forscherinnen und Forscher sehen Parallelen zur Bulimie: Menschen mit einer Purging-Störung profitieren von Behandlungskonzepten, die für Bulimie entwickelt wurden. Es gibt aber auch Unterschiede. Eine Studie hat festgestellt, dass Menschen mit einer Purging-Störung das Sättigungshormon PYY nach einer Mahlzeit in größeren Mengen ausschütten als Patienten mit Bulimie. Die Forschung dazu steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Wie sich die Erkrankungen auf biologischer Ebene unterscheiden, ist bisher nur wenig untersucht worden.

Sollte die Purging-Störung als eigenständige Diagnose gelten?

Dass der Begriff in unseren Diagnosemanualen nicht vorkommt, ist kein Problem: Wir können die Purging-Störung als »nicht näher bezeichnete Essstörung« diagnostizieren und verschlüsseln. In diese Kategorie fallen verschiedene Formen gestörten Essverhaltens, die Leid verursachen, aber nicht eindeutig zu einer Anorexie oder Bulimie passen. Damit können wir eine Therapie legitimieren, auch Kostenträgern gegenüber. Die Betroffenen stehen also selbst ohne spezifische Diagnose nicht im Regen.

Gilt das genauso für andere nicht näher bezeichnete Essstörungen?

Ja. Ein Beispiel ist die Orthorexie, bei der Betroffene sich extrem gesundheitsbezogen ernähren. Ob sie eine eigene Essstörung ist oder nicht, ist nicht abschließend geklärt, da gehen die Meinungen stark auseinander. Wir haben selbst dazu geforscht. Die Orthorexie überschneidet sich stark mit bestehenden Essstörungen: Menschen mit Anorexie und Bulimie zeigen zu Beginn der Behandlung häufig ein orthorektisches Ernährungsverhalten, und im Lauf der Therapie nimmt es ab. In jedem Fall ist es wichtig, den Betroffenen die Störung als behandelbares Krankheitsbild nahezubringen, ganz losgelöst davon, ob man sie zur Diagnose im Klassifikationssystem macht.

Wie behandeln Sie Menschen mit Purging-Verhalten in Ihrer Klinik?

Die Behandlung lehnen wir an die Bulimie-Therapie an, wenngleich mit einigen spezifischen Elementen: Die Betroffenen müssen noch stärker lernen, ein Gefühl für ein normales Essverhalten und angemessene Portionen zu entwickeln. Dabei orientieren wir uns an den Empfehlungen der Fachgesellschaften für Ernährung und planen für die Patientinnen und Patienten zwischen 2000 und 2200 Kalorien am Tag ein, verteilt auf drei Mahlzeiten. Für viele sind das schon immense Mengen. Wir helfen den Betroffenen, ihr Essverhalten zu normalisieren und die subjektiv wahrgenommenen Essanfälle umzubewerten.

Ein weiteres wichtiges Therapieinstrument sind so genannte Verhaltensanalysen: Wir schauen uns ganz genau die Momente an, in denen die Betroffenen Purging-Strategien einsetzen: Gab es eine auslösende Situation? Welche Gedanken und Gefühle hatten sie in dem Moment? Oft geht es um den Umgang mit unangenehmen Gefühlen.

Außerdem steht bei Essstörungen immer die Frage im Raum, welche Funktion die Erkrankung hat: Was versuchen die Betroffenen zu regulieren? Zum einen geht es ihnen oft um Figur, Gewicht und Aussehen. Hinter der Störung können aber auch ganz andere Themen stecken, etwa familiäre Konflikte oder der Umgang mit überzogenen Anforderungen und hohem Leistungsanspruch. Wenn möglich beziehen wir das Umfeld mit ein, gerade wenn die Patientinnen jünger sind. Neben Ärzten, Psychologen und Pflegenden sind viele Fachtherapeuten zum Beispiel aus der Ernährungs-, Kunst- oder Bewegungstherapie involviert.

Wie gut lässt sich die Störung behandeln?

Auch hier verweist die Wissenschaft wieder auf die Bulimie, deren Therapieerfolge in Langzeitstudien belegt sind. Zum Vergleich: Studien haben gezeigt, dass 70 Prozent aller unbehandelten Betroffenen nach 20 Jahren keine Bulimie mehr hatten. Von denjenigen Erkrankten, die eine Therapie in Anspruch genommen haben, waren schon nach vier Monaten 20 bis 30 Prozent symptomfrei, und dieser Anteil steigt mit zunehmender Beobachtungsdauer: Nach über zehn Jahren hatten 70 Prozent der Behandelten keine Essstörung mehr. 15 Prozent zeigten immer noch ein auffälliges Essverhalten, aber nicht mehr so ausgeprägt, dass wir eine Essstörung diagnostizieren konnten. Die übrigen 15 Prozent haben eine andere Essstörung entwickelt. Dass Essstörungen sich im Verlauf wandeln – dass sich beispielsweise aus einer Bulimie eine Anorexie oder eine Binge-Eating-Störung entwickelt –, passiert häufig.

»Für Betroffene ist es wichtig zu wissen, dass ihre Essstörung einen Namen hat«

Ist es schwerer für Menschen mit einer Purging-Störung, Hilfe zu bekommen?

Aus Sicht eines Klinikers kann ich sagen: Wenn jemand unter einem gestörten Essverhalten leidet und eine Behandlung wünscht, bekommt er oder sie auch Zugang zur Therapie. Aber Personen mit unbekannteren Essstörungen tauchen auch seltener in der Klinik auf – dazu zählt neben der Purging-Störung zum Beispiel das Night-Eating-Syndrom, bei dem Betroffene einen Großteil der Kalorien nachts zu sich nehmen. Ins Krankenhaus führen oft Symptome, die medizinischen Handlungsdruck erzeugen, sei es ein lebensbedrohlich niedriges Untergewicht oder körperliche Schäden durch wiederholtes Erbrechen. Bei der Purging-Störung wären zwar Elektrolytverluste denkbar, die zu gefährlichen Herzrhythmusstörungen führen können. Wir vermuten aber, dass die Purging-Störung häufig in der Heimlichkeit bleibt: Die Betroffenen sind per Definition weder extrem über- noch untergewichtig und fallen auch nicht durch übermäßige Essanfälle auf. Außerdem schämen sie sich meistens für ihr Purging-Verhalten. Dadurch nehmen ihre Angehörigen die Erkrankung nicht wahr, die Betroffenen fliegen unter dem Radar.

Wann begeben sich die Betroffenen selbst in Therapie?

Auf dem Weg sind zwei Aspekte wichtig: Man muss sich einen großen Leidensdruck eingestehen, der Veränderung braucht. Und man muss die Schamschwelle überwinden, sich öffnen und Hilfe suchen. Ich könnte mir vorstellen, dass das für Betroffene mit einer Purging-Störung sehr schwierig ist. Ich habe schon gestandene Frauen aus der Wirtschaft erlebt, die seit dem 15. Lebensjahr Bulimie haben und mit über 40 Jahren erstmals sagen: »Jetzt gehe ich es an, ich halte das nicht mehr aus.«

Was würde sich für Betroffene ändern, wenn die Purging-Störung als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt würde?

Für Betroffene ist es wichtig zu wissen, dass ihre Essstörung einen Namen hat. Momentan trauen sie sich vielleicht weniger, nach Hilfe zu fragen, weil sie keine auffälligen Beschwerden wie massive Essanfälle haben. Mehr Bekanntheit und Bewusstsein könnten dafür sorgen, dass die Erkrankten merken: Das ist eine behandelbare Erkrankung, die auch andere Leute betrifft. Ich darf mir Hilfe suchen, auch wenn ich nicht stark unter- oder übergewichtig bin.

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