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Europäische Jungsteinzeit: Große Männer, kleine Frauen

Der starke Mann als Ernährer – führte eine solche Vorstellung vor ungefähr 7000 Jahren zu wohlgenährten Männern und schlecht versorgten Frauen? Die einstige Körpergröße liefert Indizien.
Eine Frau backt Brot, ihre Kinder helfen, und der Mann hütet das Vieh. Die Vorstellung vom Leben im Neolithikum erschien in dem Buch »L'Homme Primitif« aus dem Jahr 1870.
Eine Frau backt Brot, ihre Kinder helfen, und der Mann hütet das Vieh. Die Vorstellung vom Leben im Neolithikum erschien in dem Buch »L'Homme Primitif« aus dem Jahr 1870.

Wie misst man Wohlstand? Heute helfen praktische Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt oder der Human Development Index – sowohl für ganze Gesellschaften als auch den einzelnen Menschen. Archäologen und Historiker können auf solche Maße jedoch meist nicht zugreifen, ihre Untersuchungsobjekte stammen in der Regel aus Zeiten vor der statistischen Erfassung von allem und jedem. Ein zuverlässiger Parameter kann aber die Körpergröße sein.

Finden Archäologen heute die Gebeine eines Menschen aus früheren Zeiten, können sie seine einstige Statur berechnen. Zudem verraten die Erbgutdaten, ob jemand sein genetisch vorgegebenes Wachstumspotenzial ausschöpfen konnte. Hatte sich die Person reichhaltig und ausgewogen ernährt, so hatte sie einen gewissen biologischen Wohlstand vorzuweisen – sie konnte besser wachsen. Dass dieser Zusammenhang jedoch nicht für alle Zeiten und Orte der Menschheitsgeschichte gültig ist, stellte vor rund fünf Jahren Eva Rosenstock fest.

Die Archäologin, die heute am Bonn Center for ArchaeoSciences der Universität Bonn tätig ist, hatte in einem von 2010 bis 2018 laufenden Projekt an der Freien Universität Berlin Körperlängen in der europäischen und vorderasiatischen Vorgeschichte dokumentiert. Ihre Ergebnisse veröffentlichte sie mit Kollegen im Fachblatt »Archaeological and Anthropological Sciences«. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich von zirka 10 000 bis 1000 v. Chr. Dabei stellte Rosenstock fest, dass die von ihrer Forschungsgruppe gewonnenen Ernährungsdaten die Körpergrößen der analysierten Skelette nicht erklären konnte, ein Zusammenhang war nicht erkennbar. Die allgemein postulierte Verschränkung von Ernährung und Körpergröße zeichnete sich also nicht ab – hatte das, was die Menschen aßen, keinen Effekt auf ihr Wachstum? »Das war mit meinen vorgeschichtlichen Daten jedenfalls nicht reproduzierbar«, so Rosenstock.

Was die Körpergröße in der Jungsteinzeit beeinflusste

Lag es dann am Erbgut? Waren die Gene, die die Körperhöhe der Menschen bestimmten, in dem großen Gebiet und langen Zeitraum noch zu uneinheitlich verteilt gewesen, so dass der Einfluss der Ernährung schlicht im Datenwust unterging? Rosenstock kontaktierte den Archäogenetiker Iain Mathieson von der University of Pennsylvania, mit dem sie einen Stein ins Rollen brachte, der zu einer im Fachmagazin »Nature Human Behaviour« erschienenen interdisziplinären Studie führte. Unter der Federführung der Erstautorin Samantha Cox werteten sie zusammen mit einer Reihe anderer Kollegen aus Deutschland und Österreich die Überreste von 1535 Individuen aus der frühen Jungsteinzeit aus. Dabei handelte sich um die genetisch recht einheitliche Bauernpopulation aus der Zeit zwischen zirka 6000 und 4000 v. Chr.

Die Fachleute unterteilten die damalige Bevölkerung in vier Regionen, die auf den Fundorten und den Migrationswegen der ersten Bauern beruhen: den Balkan, den Mittelmeerraum sowie ein nördliches und ein südliches Mitteleuropa. Die Siedler kamen aus Anatolien und vom Balkan aus über zwei Wege ins übrige Europa: entlang der Mittelmeerküste und durch das Donaugebiet. Die Grenze zwischen der Nord- und Südregion Mitteleuropas verlief ungefähr auf der Höhe von Südbelgien, Luxemburg, Frankfurt und Bayreuth. In der nördlichen Region seien zur Zeit der ersten Bauern, der Kultur der Linearbandkeramik, die Bedingungen für den Feldbau schlechter als im Süden gewesen – klimatisch und von der Bodengüte her.

Die Fachleute untersuchten die zahlreichen Skelette der Jungsteinzeit und ermittelten auf Basis der Länge der Oberschenkelknochen die Körpergröße. Eine Analyse der stabilen Isotope gab zudem Aufschluss über die Ernährung eines Individuums. Paläopathologische Spuren an den Skeletten verrieten mögliche Stressphasen, die von Mangelernährung oder Krankheiten herrührten. Anhand der DNA bestimmten die Archäogenetiker zudem einen polygenetischen Score, der für jede Person eine Vorhersage treffen sollte: Wie groß hätte dieser Mensch unter optimalen Bedingungen werden können, wie groß war sein genetisches Wachstumspotenzial?

Es lag ein ausgeprägter Geschlechtsdimorphismus vor, erklärt Archäologin Eva Rosenstock, also eine Unterscheidung im äußeren Erscheinungsbild

Die Untersuchung ergab zunächst, dass viele Menschen in der Jungsteinzeit ihr genetisches Potenzial nicht ausgeschöpft hatten. Das war angesichts eines harten Lebens und etwaiger Ernährungsunsicherheiten, die beispielsweise durch Dürre oder Überschwemmung auftraten, nicht verwunderlich. Es galt aber auch, wenn eine Person gut ernährt und gesund war. »Die Variationen der Körpergröße konnten wir mit den Krankheits- und Ernährungsanzeigern nicht wirklich erklären«, sagt Eva Rosenstock. Besonders auffällig waren die Abweichungen zwischen den vier betrachteten Regionen: Während sich bei den Einwanderern aus dem Mittelmeerraum und dem Balkan kaum Unterschiede zeigten, verhielt es sich im Mitteleuropa nördlich der Alpen anders.

In allen Gebieten war das genetische Wachstumspotenzial von Männern und Frauen quasi identisch, ausgenommen das nördliche Mitteleuropa: Dort waren Männer in aller Regel ein gutes Stück größer gewachsen als Frauen, unabhängig von Ernährung und Gesundheit. Es lag demnach ein ausgeprägter Geschlechtsdimorphismus vor, erklärt Rosenstock, also eine durchgängige Unterscheidung im äußeren Erscheinungsbild, in diesem Fall bezogen auf die Körpergröße. Woher rührte diese Kluft? »Es müssen Faktoren sein, die mit den hier ausgewerteten Ernährungsisotopen und Pathologien nicht messbar sind«, so die Bonner Archäologin.

Das harsche Klima Mitteleuropas setzte den Siedlern Grenzen

Die Autoren der Studie sprechen daher von kulturellen Faktoren, die offenbar für die beobachteten Variationen verantwortlich sein müssen. Die Bauerngemeinschaften der Jungsteinzeit waren aus Vorderasien nach Europa eingewandert, ihre domestizierten Pflanzen und Tiere an das dortige Klima gewöhnt. Die Linearbandkeramiker mussten ihre Lebensgrundlage erst an die neuen Umweltbedingungen anpassen. Das war im Mittelmeerraum und im Balkan noch leicht machbar gewesen, in Mitteleuropa stießen die Siedler jedoch an Grenzen. »Es war sehr hart, mit diesem vorderasiatischen Kulturpaket nördlich der Alpen Fuß zu fassen«, sagt Rosenstock. In einer langen Phase der Anpassung mussten die Neuankömmlinge mit andersartigen Bedingungen, die das ungewohnt kalte Klima ihnen entgegenstellte, kämpfen: Missernten waren wahrscheinlich die Folge.

Werkzeugwerkstatt | Im französischen Le Grand-Pressigny wurde einst im großen Stil Feuerstein abgebaut und zu Geräten verarbeitet. Die mehr als 150 Jahre alte Illustration aus dem Werk »L'homme primitif« zeigt Männer bei der Arbeit in der spätneolithischen Feuersteinwerkstatt.

Die harschen Bedingungen erforderten harsche kulturelle Lösungen, mutmaßt die Forschergruppe. Konkret bedeutete dies, dass die Gemeinschaften ihre männlichen Nachkommen von Beginn an besonders förderten, die weiblichen hingegen vernachlässigten. Denn aus streng ökonomischer Sicht war ein Mann auf Grund seiner genetisch bedingten stärkeren Physis ein wertvollerer Zugewinn für die Gemeinschaft. Die Erfindung des Pflugs lag zu dieser Zeit noch rund 2000 Jahre in der Zukunft. Landwirtschaft zu betreiben hieß, per Hand den Boden aufzuhacken. Der Wert eines Individuums hing in dieser Kultur sehr wahrscheinlich stark mit seiner Arbeitskraft zusammen.

Wie genau diese kulturelle Förderung ausgesehen hatte, darüber können die Autoren der Studie mangels belastbarer Daten nur Vermutungen anstellen. Eine mögliche Erklärung leiten sie aus den vom US-Anthropologen Barry Bogin ausgearbeiteten SEPE-Faktoren ab. SEPE bedeutet »social, economic, political, emotional«. Bogin, der an der englischen Loughborough University lehrte, beschreibt damit die Lebensumstände und die Umwelt, die Menschen selbst gestalteten und direkte Auswirkungen auf die Körpergröße hatten. Dem Anthropologen zufolge bestimmen nicht nur Genetik oder Ernährung die Statur eines Individuums, auch Faktoren wie Zuneigung oder Wertschätzung spielen eine wichtige Rolle.

Womöglich erforderten die harschen Bedingungen harsche kulturelle Lösungen

Rosenstock und ihr Team verweisen in dem Paper in »Nature Human Behaviour« zudem auf weitere Studien, die bereits einen Zusammenhang zwischen Kultur und individueller Körpergröße nachweisen konnten. In Indien seien beispielsweise in Zeiten höherer Umweltbelastung Mädchen statistisch messbar kleiner gewachsen, da die Familien eher in ihre männlichen Nachkommen investiert hätten. Noch heute ist dort der Geschlechtsdimorphismus besonders stark ausgeprägt.

Frauen zogen von zu Hause fort

Im Mitteleuropa der Jungsteinzeit, so fanden Fachleute heraus, existierte ein System der Patrilokalität. Das heißt, Mädchen verließen im heiratsfähigen Alter ihre Familien und zogen in andere Gemeinschaften. Der Fortgang stellte womöglich eine enorme psychische Belastung für die jungen Frauen dar. Wenn sie dann auch noch mitten in der Pubertät schwanger wurden, wirkte sich das auf ihr Wachstum aus.

Die Wissenschaftlergruppe um Rosenstock vermutet, dass die jungen Mütter selbst – so wie dann ihr eigener Nachwuchs – weniger gestillt wurden und schlechter genährt waren als die männlichen Nachkommen. Zu dieser These liegen den Autoren allerdings noch nicht ausreichend Daten vor: Um die Ernährung jener Menschen zu rekonstruieren, gewannen Rosenstock und ihre Kollegen zwar die stabilen Isotopenwerte aus den Knochen, aber nicht aus den sich bereits im Kindesalter herausbildenden Zähne. Die Daten geben daher nur Aufschluss über die letzten Lebensjahre eines Menschen, nicht jedoch über seine Kindheit.

Die Isotopenwerte aus Kinderknochen der Linearbandkeramiker ließen zwar auf eine ähnliche Ernährung wie die ihrer Eltern schließen, dennoch klafft hier eine Forschungslücke. Eva Rosenstock: »Das ist die nächste Studie, die wir machen müssen.« Problematisch sei auch die deutlich kleinere Stichprobe aus dem Mittelmeerraum und dem Balkan, wo der Geschlechtsdimorphismus geringer ausgeprägt war. Da die Menschen dort weniger harschen Umweltbedingungen ausgesetzt waren, gehen die Forschenden davon aus, dass Mädchen nicht stark benachteiligt wurden. Sie haben allerdings aus diesen Regionen die Überreste von nur 266 Individuen analysiert, die restlichen 1269 stammen alle aus Mitteleuropa.

Die Gründe dafür seien schlicht der derzeitige Forschungsstand und die Fundsituation, so die Archäologin. Die Datenlage ist lückenhaft. Ebenso sind die Werte, die sowohl die Körpergröße als auch das genetische Wachstumspotenzial messen, als Näherungswerte bezogen auf die gesamte Bevölkerung zu verstehen und fielen daher eher ungenau aus. »Diese Vorhersagen sind nicht besonders zuverlässig im Bestimmen einer individuellen Statur«, erklärt Iain Mathieson auf schriftliche Anfrage von »Spektrum«. Allerdings ließen sich die Bevölkerungsgruppen an sich gut vergleichen, weil sie genetisch recht einheitlich sind.

Die Forschungsarbeit von Rosenstock und ihren Kollegen bestätigt die wohlbegründete Vermutung, dass die genetische Veranlagung und der Gesundheitszustand allein nicht bestimmen, wie groß ein Mensch wird. Aber könnte sich der jungsteinzeitliche Geschlechtsdimorphismus bis heute weitervererbt haben? Immerhin ist die Bevölkerung Nordeuropas durchschnittlich größer ist als etwa jene am Mittelmeer. Was naheliegend erscheint, ist allerdings nicht korrekt. Dieses Phänomen geht auf die so genannte Jamnaja-Kultur zurück, die ungefähr ab 3000 v. Chr. nach Mitteleuropa einwanderte und die dort ansässigen Bauernpopulationen verdrängte. Genetisch haben die Mitteleuropäer mit den untersuchten Individuen der frühen Jungsteinzeit fast nichts mehr zu tun.

Anmerkung der Redaktion am 27.02.2024: Der Text wurde leicht angepasst und ergänzt.

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