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Evolution: Am Anfang war das Stammgeflecht

Eine neue Studie zeichnet ein neues Bild vom Ursprung des Menschen in Afrika: Demnach entwickelte sich unsere Art dort an vielen Orten gleichzeitig.
Sonntäglicher Gottesdienst in einem Dorf in Kenia
Dank zahlreichen Gendaten aus ganz Afrika – auch wie hier aus dem ostafrikanischen Kenia – gelang es dem Forscherteam ein vollständigeres Bild der menschlichen Evolution zu zeichnen. In früheren Modellrechnungen war Westafrika beispielsweise überrepräsentiert.

Modellrechnungen am Computer stellen die verbreitete Vorstellung in Frage, dass der moderne Mensch nur aus einer einzigen Region Afrikas stammt. Dazu haben Forschende eine große Menge genomischer Daten analysiert. Ihre Modelle legen nun nahe, dass der Mensch aus mehreren Urpopulationen hervorgegangen ist, die vor mehr als einer Million Jahren über den gesamten afrikanischen Kontinent verteilt waren. Alle Angehörigen dieser Populationen gehörten demnach trotz einiger genetischer Unterschiede zur selben Menschenart.

Das Wissenschaftlerteam stützt sich dabei auf Erbgutdaten von heutigen afrikanischen und europäischen Populationen sowie auf die DNA der Neandertaler. Publiziert hat das Team um Brenna Henn von der University of California in Davies und Simon Gravel von der McGill University in Montreal seine Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins »Nature«.

Die Studie liefere weitere Belege für die Idee, dass es »nicht den einen Geburtsort in Afrika gibt und dass die Wurzeln der menschlichen Evolution sehr tief in die Vergangenheit in Afrika zurückreichen«, sagt Eleanor Scerri, Evolutionsarchäologin am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena, die nicht an der Studie beteiligt war.

Die alte Theorie, wonach die Art des modernen Menschen nur einen einzigen Ursprung hat, ist seit Jahrzehnten populär und stützt sich zum Teil auf fossile Funde. Laut Scerri passt sie aber nicht sonderlich gut zu den Daten. Werkzeuge und anatomische Merkmale, die dem Homo sapiens zugeschrieben werden, tauchen überall in Afrika ungefähr gleichzeitig auf. Hätte sich der moderne Mensch von einem einzigen Ort ausgebreitet, würde man eher erwarten, dass jüngere Fossilien weiter von einem zentralen Punkt entfernt sind und ältere näher an diesem Punkt zu finden sind.

Lianengeflecht statt dickem Baumstamm

Henn, Gravel und Kollegen gehen nun jedoch davon aus, dass die Menschenart, aus der sich der anatomisch moderne Homo sapiens entwickelte, aus räumlich verteilten Populationen bestand, die durch Afrika migrierten und dabei offenbar über Jahrtausende hinweg Genmaterial austauschten. »Unsere Wurzeln liegen in einer sehr vielfältigen Gesamtpopulation, die sich aus fragmentierten lokalen Populationen zusammensetzt«, sagt Scerri. Dies entspricht einem Stammbaum, der nicht aus einem oder mehreren dicken Stämmen besteht, sondern eher einem verwickelten Lianengeflecht. Die Forscher sprechen von einem »schwach strukturierten Stamm«.

Der Gedanke, dass es mehrere Ursprungsorte gibt, ist nicht neu, wohl aber die Auffassung, dass der menschliche Stammbaum an seinem unteren Ende ein solches Geflecht bildet. Brenna Henn zufolge hätten frühere Modelle mehrerer Ursprungspunkte deutlich weniger Parameter einbezogen als sie und ihr Team in der jüngsten Untersuchung.

Die Gruppe verwendete eine Software, die von Koautor Simon Gravel entwickelt wurde. Sie kann mit der umfangreichen Rechenleistung umgehen, die für ein solches Modell nötig ist. Das ermöglichte dem Team, mehr Daten einzubeziehen – anders als frühere Arbeiten, die zu wenige Gendaten verwendeten oder auf Erbgutsammlungen zurückgriffen, in denen Westafrika überrepräsentiert ist, wodurch die große genetische Vielfalt im Gesamtkontinent außen vor blieb. Die Folge: Das sich abzeichnende Gesamtbild der Geschichte des modernen Menschen und seiner Wanderbewegungen hatte Lücken.

Für die jüngste Studie bezogen die Forschenden auch DNA heutiger ost- und westafrikanischer Bevölkerungsgruppen mit ein sowie Erbgut von den Nama, die im südlichen Afrika leben. Das half der Gruppe, die Bewegung von Genen durch Raum und Zeit hinweg zu verstehen und zu verfolgen.

»Wir hatten uns vorgenommen, sehr systematisch und auf kreative Art und Weise die Modelle zu vergleichen«, sagt Henn. Herausgekommen sei ein ganz konkretes neues Modell für die menschliche Evolution.

Kein Aufeinandertreffen mit einem archaischen Unbekannten

In den Modellrechnungen können Populationen migrieren und miteinander verschmelzen, bei jedem Szenario entstehen andere Vorhersagen für den Genfluss über den Lauf von Jahrtausenden. Diese Vorhersagen werden anschließend mit der heute beobachteten genetischen Variation verglichen, um festzustellen, welche Modelle am besten zu den Daten passen.

Eine früher vorgeschlagene Erklärung für die heutige menschliche Vielfalt ist, dass sich Homo sapiens irgendwann vor relativ kurzer Zeit mit einer archaischen Menschengruppe vermischte, die sich viel früher abgespalten hatte und dann über Jahrhunderttausende isoliert geblieben war. Henn und Kollegen kommen jedoch zu einem anderen Ergebnis. Demnach passt das Modell des »schwach strukturierten Stamms« besser zu den Daten, als die Idee eines Aufeinandertreffens mit einer archaischen Gruppe.

Am Ende bleiben jedoch noch Fragen zum Ursprung des Menschen offen. Henn möchte zum Beispiel mehr DNA aus anderen afrikanischen Regionen einbeziehen, um zu schauen, ob die Ergebnisse dabei immer noch dieselben bleiben. Sie hofft auch, aus den Modellen Vorhersagen über Fundstücke machen zu können: Welche Merkmale würde man wo und wann bei menschlichen Fossilien erwarten?

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