Evolution: Seit wann küssen sich Menschen?

Küssen als intime Geste hat sich wahrscheinlich in der Evolution schon vor langer Zeit etabliert. Laut einer in der Fachzeitschrift »Evolution and Human Behavior« veröffentlichten Studie haben sich die Vorfahren des Menschen bereits vor etwa 20 Millionen Jahren geküsst. Demnach tauschten wohl auch die Neandertaler solche Zärtlichkeiten aus.
Der Kuss stellt ein evolutionsbiologisches Rätsel dar. Kussartiges Verhalten lässt sich bei vielen Tieren beobachten, scheint aber keinen unmittelbaren Selektionsvorteil zu bieten. Vielmehr birgt es sogar Risiken wie die Übertragung von Krankheiten. Etliche Wissenschaftler wie der österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld (1928–2018) spekulierten, dass sich der sexuell-romantische Kuss aus der Fütterung durch vorgekaute Nahrung, die Mütter von Mund zu Mund an ihre Babys weitergeben, entwickelt haben könnte. Andererseits wird nicht in allen menschlichen Kulturen geküsst.
Auf der Suche nach dem evolutionären Ursprung dieses eigentümlichen Verhaltens definierten die Evolutionsbiologin Matilda Brindle von der University of Oxford und ihre Kollegen zunächst, was ein Kuss überhaupt ist. Demnach handelt es sich um einen nicht aggressiven Mund-zu-Mund-Kontakt ohne Nahrungsübertragung.
Anschließend wertete das Team Studien aus, die ein solches Verhalten bei Primaten beschreiben. Mithilfe statistischer Methoden erstellte es daraufhin einen Stammbaum des Kusses.
Auch die Neandertaler taten's
Demnach könnte der letzte gemeinsame Vorfahre des Menschen und seiner Verwandten bereits vor schätzungsweise 21,5 bis 16,9 Millionen Jahren den Kuss als sexuelles Merkmal gekannt haben. Neandertaler dürften sich ebenfalls geküsst haben. Das statistische Modell gibt hierfür eine Wahrscheinlichkeit von 84 Prozent an. Dazu passt, dass in Neandertalerfossilien Erbgutspuren von Mikroben wie Methanobrevibacter oralis nachgewiesen wurden, die typisch für die menschliche Mundflora sind.
Die Aussagekraft der Studie ist allerdings begrenzt, wie die Autoren selbst betonen. So konnten sie bei Affen nur grob kategorisieren, ob das Küssen »vorhanden« ist oder »nicht beobachtet« wurde. Das Fehlen eines Nachweises bedeutet aber nicht, dass dieses Verhalten nie auftaucht. Und wie häufig es bei den verschiedenen Spezies praktiziert wird, floss ebenfalls nicht in die Analyse ein. Mögliche Selektionsvorteile des Küssens bleiben außen vor. Die Forscher sehen ihre Publikation als ersten Ansatz, um ein biologisches Phänomen, das keine fossilen Spuren hinterlässt, zu rekonstruieren. Damit behält der Kuss vorerst seine Geheimnisse.
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