Tarnung: Fleisch fressende Raupe trägt Rüstung aus toten Körpern

Hier zu Lande sind Schmetterlingsraupen vegetarische Zeitgenossen – doch im US-Bundesstaat Hawaii ist das anders. Dort hat die Evolution eine ungewöhnlich gruselige Variante dieser eigentlich recht harmlosen Tierchen hervorgebracht. Die »Knochensammler-Raupe«, die jetzt ein Team um Daniel Rubinoff von der University of Hawaiʻi in Honolulu beschreibt, frisst andere Insekten – und hüllt sich in die ausgelutschten Überreste ihrer Opfer. Wie die Arbeitsgruppe in der Fachzeitschrift »Science« berichtet, ist das womöglich überlebenswichtige Tarnung. Denn die Raupe der Gattung Hyposmocoma stiehlt Beute aus Spinnennetzen. Die makabere Tarnung hilft ihr womöglich, nicht selbst zur Beute zu werden.
Die im Jahr 2008 erstmals beobachtete Knochensammler-Raupe ist außerordentlich selten. Sie lebt ausschließlich auf einem rund sechs Quadratkilometer großen Areal auf der Insel O'ahu. Dort bewohnt sie Felsspalten, in denen Spinnen ihre Netze gebaut haben, und frisst tote oder sterbende Insekten, die sich darin verfangen. Währenddessen umgibt sich die nur wenige Millimeter große Raupe mit einem Kokon aus Seide, den sie mit großer Sorgfalt mit Ameisenköpfen, Fliegenbeinen und anderen Beuteteilen, aber auch mit bei der Häutung abgeworfenen Spinnenpanzern dekoriert. Bei der Auswahl ihrer Opfer dagegen sind die Hyposmocoma-Raupen nicht wählerisch: Sie fressen jedes Insekt – auch sich gegenseitig.
Während räuberische Insektenlarven grundsätzlich nicht ungewöhnlich sind, ist die Knochensammler-Raupe ein außerordentlich exotischer Fall. Denn die Ordnung der Lepidoptera – Schmetterlinge und Motten – enthält fast ausschließlich reine Pflanzenfresser. Und selbst für eine räuberische Larve ist der Lebensstil ungewöhnlich, denn die Spinnen sind nicht bloß eine Gefahr für die Raupen, sondern noch viel mehr für die aus ihnen entstehenden Motten, die ihre Eier in unmittelbarer Nähe der Spinnennetze ablegen müssen. Die Methode scheint allerdings gut zu funktionieren: Genetische Untersuchungen des Teams deuten darauf hin, dass sich diese Linie vor fünf Millionen Jahren von anderen Fleisch fressenden Hyposmocoma-Arten trennte. Der ungewöhnlich gruselige Lebensstil ist damit womöglich älter als die Insel, auf der die Raupe lebt.
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