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Evolution: Was unsere Ohren mit Fischkiemen zu tun haben

Fische haben keine Ohrmuscheln, Menschen keine Kiemen. Dennoch sind beide Strukturen eng miteinander verwandt.
Nahaufnahme von leuchtend roten Fischkiemen, die in mehreren Reihen angeordnet sind. Die Kiemen sind detailliert und zeigen die komplexe Struktur, die für den Gasaustausch im Wasser verantwortlich ist. Die Umgebung ist hell und zeigt die natürliche Farbe und Textur der Kiemen. Keine Menschen im Bild.
Die Knorpelbögen in Fischkiemen haben denselben evolutionären Ursprung wie die Knorpel in unserem Außenohr.

Evolution hat viel mit Recycling zu tun. So werden oft alte Strukturen (oder alte Gene) für neue Aufgaben verwendet. Beispielsweise im Ohr von Säugetieren: Über Jahrmillionen entwickelten sich aus den Kieferknochen unserer Fischvorfahren drei winzige Knöchelchen, die Schallwellen vom Trommelfell zum Innenohr übertragen.

Wie eine Studie nun zeigte, muss etwas Ähnliches noch einmal passiert sein. Denn Fachleute haben festgestellt, dass ein flexibler Knorpel in den Kiemen von Fischen jenem im Außenohr von Säugetieren stark ähnelt. Dabei haben beide Strukturen völlig unterschiedliche Aufgaben: Kiemen ermöglichen es den Fischen, unter Wasser zu atmen, während die Ohrmuschel den Schall auffängt. Die zu Grunde liegenden Gene haben jedoch eine gemeinsame Geschichte.

Natürlich hat sich der Kiemenknorpel nicht einfach in ein Außenohr verwandelt. Als die ersten Wirbeltiere an Land gingen und keine Kiemen mehr benötigten, konnten aber jene Gene, die die Bauanleitung für den Kiemenknorpel enthielten, an etwas Neuem mitwirken. »Das ist eines der Wunder des Lebens und der Evolution«, sagt die Entwicklungs- und Evolutionsbiologin Abigail Tucker vom King's College London, die nicht an der Studie beteiligt war. »Das regulatorische Netzwerk war immer noch vorhanden und konnte daher erneut verwendet werden.«

Von den Kiemen in die Ohrmuschel

Der Knorpel im Außenohr von Säugetieren nahm später die verschiedensten Formen an. So besitzen Fledermäuse im Verhältnis zu ihrer Körpergröße riesige trichterförmige Ohrmuscheln, die sie zur Echoortung nutzen. Bei Katzen sind die Ohren dagegen eher spitz, während sie bei Elefanten wie große Lappen herunterhängen. Die Form ist jeweils auf die für das Tier wichtigen Geräusche optimiert.

»Wir glauben, dass es ein uraltes Programm zur Bildung von knorpelhaltigen Kiemen im Kopf gibt, das sich im Lauf der Evolution so verändert hat, dass es nun enger mit dem Ohr verbunden ist – ähnlich, wie die Kieferknochen der Vorfahren der Fische in das Mittelohr gewandert sind«, erklärt der Stammzellforscher Gage Crump von der University of Southern California, der Hauptautor der neuen Studie ist.

Crumps Team untersucht schon seit Längerem, wie sich das Gesicht von Wirbeltieren entwickelt hat. Dazu nutzt es Zebrafische als Modellorganismus. Die Forscher erstellten einen Atlas mit den verschiedenen Zelltypen, die im Gesicht der Tiere vorkommen. Dabei stießen sie auf zwei unterschiedliche Knorpeltypen, von denen einer sie überraschte. Es handelt sich um eine elastische Struktur, welche die fingerartigen Fortsätze der Kiemen stützt. Das Besondere: Sie ähnelt stark den Knorpeln, die im Außenohr von Säugetieren zu finden sind.

Genregulatoren im Visier

Wie die Fachleute feststellten, ähnelt die Genaktivität im menschlichen Außenohrknorpel der im Kiemenknorpel. Allerdings können auch in Organen, die nicht miteinander verwandt sind, die gleichen Gene aktiv sein. Um herauszufinden, ob die Strukturen eine gemeinsame Wurzel haben, konzentrierten sich die Forscher auf spezielle DNA-Sequenzen, so genannte Enhancer. Diese regulieren die Aktivität bestimmter Zielgene in einem Gewebe. Dabei identifizierte das Team sechs Enhancer, die für die Entwicklung des Knorpels im menschlichen Außenohr entscheidend sind. Für andere Strukturen, etwa in der menschlichen Nase, sind diese Regulatoren dagegen nicht zuständig. Wenn die Genaktivität in den Kiemen von Fischen und im Ohrknorpel von Säugetieren durch ähnliche Enhancer gesteuert wird, so die Überlegung der Forscher, dann haben diese Strukturen wahrscheinlich denselben evolutionären Ursprung.

Um dem weiter auf den Grund zu gehen, nutzten die Forscher unter der Leitung von Crumps damaligem Doktoranden Mathi Thiruppathy besondere gentechnische Kniffe. Zunächst setzten sie die sechs menschlichen Enhancer, die die Knorpelgene in der Ohrmuschel steuern, in das Genom von Zebrafischen ein. Zusätzlich verbauten sie ein so genanntes Reportergen – also eine DNA-Sequenz, die für ein fluoreszierendes Protein codiert, das immer dann entsteht, wenn die Zielgene der Enhancer aktiviert werden. Erstaunlicherweise brachten die menschlichen Ohrknorpel-Enhancer die Kiemen der Zebrafische zum Leuchten, andere Körperteile aber nicht. Offenbar ähneln sich die Mechanismen, welche die Genexpression in den Kiemen und im Außenohr steuern, sehr stark, resümiert Crump.

Mäuse mit leuchtenden Ohren

Anschließend setzte das Team einige Enhancer, die in den Zebrafischkiemen aktiv waren, in ein Mausgenom ein, wieder mit entsprechenden Reportergenen. Nun begannen Bereiche in den sich entwickelnden Ohrmuscheln der Mäuse zu leuchten. Damit war klar: Für den Knorpelbau in Kiemen und Ohr ist das gleiche Netzwerk von Genen zuständig. »Das Interessante daran ist nicht nur die Tatsache, dass derselbe molekulare Baukasten erneut zum Einsatz kommt, sondern dass sogar die Elemente wiederverwendet werden, die die Expression dieser Gene steuern«, sagt Tucker.

Als Nächstes versuchten die Forscher herauszufinden, welche Schlüsselgene unter dem Einfluss dieser Enhancer stehen. Eine Genfamilie, die dabei auffiel, nennt sich DLX. Sie ist mit einer Erbanlage verwandt, die man von Taufliegen unter dem Namen distal-less kennt und die für die Entwicklung von Insektenbeinen wichtig ist. Die Forscher fanden heraus, dass im Lauf von mehr als 400 Millionen Jahren in allen möglichen Tierarten – vom Zebrafisch bis zum Menschen – immer wieder die gleichen Enhancer aktiv waren. Deshalb konnten diese Regulatoren in den gentechnisch veränderten Fischen und Mäusen einfach ausgetauscht werden.

Um zu erfahren, wie alt diese Elemente sind, untersuchten die Forscher Pfeilschwanzkrebse. Das sind wirbellose Tiere, die ebenfalls über Kiemen atmen. Wie sich herausstellte, ist dasselbe distal-less-Gen, das mit dem DLX-Gen verwandt ist, auch an der Kiemenbildung bei Pfeilschwanzkrebsen beteiligt. Nun fügte das Team den Enhancer aus den Krebsen in das Zebrafischgenom ein. Und siehe da: Es bildeten sich fluoreszierende Moleküle in den Kiemen der Fische.

Kaulquappenkiemen zum Strahlen gebracht

Dies deutet darauf hin, dass die genetische Maschinerie, die das Außenohr der Säugetiere bildet, womöglich hunderte Millionen Jahre alt ist. Sie könnte aus einer Zeit stammen, in der die ersten wirbellosen Meerestiere mit kiemenartigen Fortsätzen entstanden. Als sich mit den Fischen die ersten Wirbeltiere entwickelten, wurde das Gennetzwerk, das den Kiemenknorpel der Krebse bildet, für die Herstellung der Fischkiemen »wiederverwendet«. Es war selbst dann noch im Einsatz, als die Fische eine neue Art von Knochenskelett entwickelten. »Wir denken, dass der elastische Knorpel in unseren Ohrmuscheln das letzte Überbleibsel des Knorpels der Wirbellosen sein könnte«, spekuliert Crump.

Nun wollten die Forscher herausfinden, was auf dem evolutionären Weg vom Fisch zum Säugetier geschah. Deshalb untersuchten sie die Aktivität der gleichen Enhancer bei Fröschen und Eidechsen. Und tatsächlich aktivierten die menschlichen Ohrmuschel-Enhancer das fluoreszierende Protein in den Kiemen von Kaulquappen. Bei Anolis, einer Echsengattung, die weder Kiemen noch äußere Ohren besitzt, brachten die menschlichen Enhancer Bereiche im Gehörgang zum Leuchten. Dieser weist ebenfalls einen elastischen Knorpel auf, der jenem in den Kiemen von Fischen und Kaulquappen ähnelt. Offenbar kam die genetische Maschinerie, die den Kiemenknorpel bildet, zuerst im Gehörgang der Reptilien und später dann im Außenohr der Säugetiere zum Einsatz.

Luftpolsterfolie im Ohr

Im Lauf der Evolution hat sich der äußere Ohrknorpel bei Säugetieren nicht nur in seiner Form, sondern auch in seiner inneren Zusammensetzung weiterentwickelt. Der Zellbiologe Maksim Plikus und sein Team von der University of California in Irvine haben einen speziellen Typ von Knorpelzellen in den Ohren kleiner Säugetiere gefunden, unter anderem bei Mäusen, Spitzmäusen, Fledermäusen und Ratten. Dabei handelt es sich um eine Art Mischung aus Knorpel- und Fettzellen. Sie sind mit Fetttröpfchen gefüllt und bilden ein Gewebe, das an Luftpolsterfolie erinnert. Obwohl der deutsche Histologe Franz von Leydig diese Strukturen bereits 1854 entdeckt hatte, waren sie anschließend wieder weitgehend in Vergessenheit geraten. Plikus' Team vermutet, dass der »Fettknorpel« besonders günstige akustische Eigenschaften besitzt.

Während der Hauptzweck von Lipidtröpfchen in Fettzellen normalerweise darin besteht, Energie zu speichern, haben sie im Knorpel in erster Linie eine strukturelle sowie biomechanische Funktion. »Zum Stoffwechsel tragen sie nicht bei«, erklärt Plikus. Das wurde in einer Studie deutlich, die Plikus' Gruppe im Magazin »Science« veröffentlicht hat: Egal, ob die Versuchsmäuse über einen längeren Zeitraum überfüttert wurden oder hungern mussten – die Fetttröpfchen veränderten nicht ihre Größe.

So haben sich mit der Zeit Ohrmuscheln entwickelt, deren akustische Eigenschaften perfekt an die Erfordernisse der jeweiligen Tierart angepasst sind. Die großen, gerippten Ohren von Fledermäusen beispielsweise sind so empfindlich, dass sie den Flügelschlag eines winzigen Insekts registrieren können.

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  • Quellen
Thiruppathy, M. et al.: Repurposing of a gill gene regulatory program for outer ear evolution. Nature 10.1038/s41586–024–08577–5, 2025

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