Buntbarsche: »Supergene« beschleunigen die Evolution

Im Malawisee in Ostafrika haben sich in vergleichsweise kurzer Zeit erstaunlich viele Arten von Buntbarschen entwickelt. Ein Team um Richard Durbin von der University of Cambridge und Hannes Svardal von der Universität Antwerpen berichtet in »Science«, dass so genannte Supergene eine wichtige Rolle für die explosionsartige Artbildung der Fische spielen und unser Verständnis von Evolution grundsätzlich erweitern.
Nicht nur ist die Erde der einzige bekannte Planet, der Leben unterstützt – sie wimmelt bloß so davon. Tatsächlich existieren hier nach derzeitiger Schätzung zwischen 10 und 100 Millionen verschiedene Tier-, Pflanzen- und Pilzspezies. Aber weshalb hat die Erde eine derart große Vielfalt? Das ist eine der wichtigsten Fragen der Biologie. Und wieso kommt es bei einigen evolutionären Linien in kurzer Zeit zu einer Artenexplosion, wo doch viele andere über Millionen von Jahren nahezu unverändert bleiben?
Eine solche, »adaptive Radiation« genannte beschleunigte Evolution trat im Malawisee in Ostafrika auf. Aus einem gemeinsamen Vorfahren haben sich hier mehr als 800 verschiedene Buntbarscharten entwickelt. Und das in einem Bruchteil jener Zeitspanne, die Menschen evolutiv von Schimpansen trennt. »Die Buntbarsche haben alle möglichen Anpassungen entwickelt, von riesigen Räubern bis zu kleinen Algenkratzern«, sagt Svardal. »Der ganze See ist wie ein großes Evolutionsexperiment.«
Damit eine neue Art entstehen kann, dürfen Populationen, die sich an eine veränderte Umwelt anpassen, ihre Gene nicht mit anderen Populationen der ursprünglichen Art vermischen. Doch die verschiedenen Buntbarsche im Malawisee leben in ein und demselben Gewässer und sind nicht örtlich voneinander getrennt. Das macht sie zum spannenden Studienobjekt.
Das Team um Svardal untersuchte die Genome von fast 1400 Individuen aus 240 Arten von Malawi-Buntbarschen, um herauszufinden, ob es etwas Besonderes in ihren Genen gibt. Die Tiere stammten aus drei ökologischen Gruppen: Freiwasserarten, einschließlich solchen der Gattung Rhamphochromis, die in mittleren Gewässerschichten leben, sowie Diplotaxodon, die größere Tiefen besiedeln; dann eine sehr vielfältige Gruppe bodenlebender Arten; und schließlich Felsenbewohner. Sie alle stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab, Astatotilapia calliptera, der noch heute existiert.
Die Fachleute stellten fest, dass bei einigen Arten große Teile des Erbguts in umgekehrter Richtung vorlagen: bei Fischen der Gattung Diplotaxodon Abschnitte auf den Chromosomen 9 und 11, bei anderen »benthischen«, also am Gewässerboden lebenden Buntbarschen auf den Chromosomen 2, 10 und 13. Interessanterweise traten solche Variationen häufiger bei Spezies auf, die in tieferen Gewässern leben.
Bei den betroffenen Genabschnitten handelt es sich um eine Art von Mutation, die als chromosomale Inversion bezeichnet wird. Hierbei werden lange DNA-Abschnitte um 180 Grad gedreht, laufen also sozusagen rückwärts, was die Rekombination in dieser Region unterdrückt. Normalerweise mischt sich bei der Fortpflanzung von Tieren das Erbgut per Rekombination neu, das genetische Material beider Elternteile wird kombiniert. Liegt eine Inversion vor, so ist die Vermischung in der betreffenden Region blockiert. Der gesamte Abschnitt bleibt dadurch intakt und bewahrt die darin enthaltenen Gengruppen, die gut zusammenarbeiten – so genannte »Supergene«. Sie können einer Art einen Vorteil in ihrer Umgebung verschaffen, indem sie ihren Nachkommen eine vollständige Überlebensstrategie vererben.
»Supergene sind nicht einfach eine Absonderlichkeit, sondern evolutionär bedeutend«Ben Wielstra, Evolutionsbiologe
Chromosomale Inversionen spielen auch eine wichtige Rolle, um eine Durchmischung der Arten zu verhindern. Das zeigt sich unter anderem daran, dass sie häufiger bei Spezies vorkommen, die im selben Gebiet leben. Dergleichen beobachtete man bereits bei Taufliegen, Nagetieren und Sperlingsvögeln. Jedoch ist bisher wenig bekannt darüber, ob und wie Inversionen große Gruppen von sehr eng verwandten Arten beeinflussen.
Entdeckt wurden die Supergene bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, aber erst durch die rasanten Fortschritte in der Genforschung häufen sich in den letzten Jahren dafür Belege bei vielen Organismen. Zunehmend betrachtet man sie als Schlüsselfaktor in der Entstehung von Artenvielfalt. »Wir realisieren jetzt, dass Supergene in der Natur reichlich vorhanden sind«, sagt der Evolutionsbiologe Ben Wielstra von der Universität Leiden, der nicht an der Studie beteiligt war. »Sie sind nicht einfach eine Absonderlichkeit, sondern evolutionär bedeutend«, fügt er hinzu.
Viele ökologische Nischen
Hannes Svardal und seine Kollegen wollten verstehen, was die mit den chromosomalen Inversionen verbundenen Genabschnitte bewirken. Sie identifizierten 315 Gene in den invertierten Regionen, die unter starkem natürlichem Selektionsdruck stehen. Mit Hilfe einer Zebrabärbling-Datenbank fanden sie heraus, dass diese Gene mit dem Sozialverhalten von Fischen zusammenhängen – etwa mit der assortativen Paarung, bei der Individuen Partner mit ähnlichen Merkmalen wählen. Außerdem gibt es eine Verbindung mit den Leistungen sensorischer Systeme. Das ist auch sinnvoll, da die Anforderungen an Schallwahrnehmung, Mechanorezeption und Sehvermögen je nach ökologischer Nische und Wassertiefe variieren.
»Wir konnten zeigen, dass die Inversionen in den Malawi-Buntbarschen per Genfluss zwischen Arten weitergegeben wurden, welche wiederum explosionsartig neue Arten gebildet haben. Diese sind auf vielfältige Weise an verschiedene ökologische Bedingungen im See angepasst und haben ihre Körper entsprechend verändert«, sagte Koautorin Astrid Böhne vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Bonn in einer Pressemitteilung.
Funktion als Geschlechtschromosomen
Das Team stellte zudem fest, dass mehr Individuen als erwartet eine invertierte und eine nichtinvertierte Kopie von Supergenen hatten, vor allem auf Chromosom 9. Sie sind für diese Genabschnitte somit heterozygot. Wie man bereits weiß, spielen Inversionen eine Rolle bei der Evolution von Geschlechtschromosomen. Bei Säugetieren ist das Y-Chromosom beinahe auf seiner gesamten Länge nicht in der Lage, mit dem X-Chromosom zu rekombinieren, was aus einer Reihe von Inversionen resultiert. Daher vermutete das Team, das Vorkommen der Heterozygoten könnte mit dem Geschlecht zusammenhängen. Seine Ergebnisse bestätigten die Hypothese: Männliche Buntbarsche hatten häufiger ein normales und ein invertiertes Chromosom, während bei Weibchen eher zwei invertierte Kopien (homozygot) vorlagen.
Um festzustellen, wie verbreitet das Muster ist, untersuchten die Wissenschaftler andere Buntbarsche aus dem Victoriasee und fanden ähnliche Inversionen. Chromosomale Inversionen spielten daher vermutlich eine wichtige Rolle bei der Geschlechtsbestimmung dieser Fische, resümieren die Autoren. »Sexuelle Selektion könnte eine Schlüsselrolle bei der Artbildung spielen, da sie assortative Paarung fördert – Individuen mit derselben Supergen-Version neigen dazu, sich miteinander zu paaren, was die Vermischung verringert«, erklärt Svardal. »Wir brauchen mehr Forschung, um genau zu verstehen, was passiert, aber unser Verdacht ist, dass diese Mischung aus natürlicher und sexueller Selektion eine entscheidende Zutat für die schnelle Artbildung der Buntbarsche ist«, fügt er hinzu (siehe »Kurz erklärt«).
Bei der natürlichen Selektion findet die Auslese durch die Umwelt statt. Tiere, die besser an ihre Umgebung angepasst sind (zum Beispiel durch bessere Sicht im Dunkeln), überleben und geben ihre Gene an Nachkommen weiter. Sexuelle Selektion meint den Fortpflanzungserfolg eines Individuums, etwa auf Grund bestimmter körperlicher Merkmale (wie das Prachtgefieder des männlichen Pfaus).
»Die Studie liefert nicht nur ein weiteres Beispiel für Artbildung, vermittelt durch Supergene«, sagt Ben Wielstra. »Sie zeigt, wie schnelle Artbildung durch Supergene erleichtert werden kann.« Auch Patrick McGrath vom Georgia Institute of Technology, der mit seinem Team die Inversionen bei Buntbarschen unabhängig von der aktuellen Studie entdeckt hat, äußert sich positiv. Die Autoren um Svardal hätten überzeugend gezeigt, dass viele der Inversionstypen sich zwischen den Arten ausbreiteten, bevor die evolutionären Artbildungen im See stattfanden. Laut McGrath sind Inversionen jedoch nicht immer mit adaptiven Radiationen verbunden. »Zukünftige experimentelle Arbeiten sind notwendig, um die Rolle dieser Inversionen bei Merkmalsveränderungen zu bestätigen und ihre Bedeutung im See besser zu verstehen«, ergänzt er.
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