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Ethnologie: Evolutionärer Rückschritt

Am Anfang war die Jagd. Dann kamen die Landwirtschaft, das Handwerk, danach die Industrialisierung und schließlich das Dienstleistungsgewerbe. So - oder ähnlich - ließe sich die menschliche Entwicklung seit der Steinzeit auf einen sehr kurzen Nenner bringen. Rückschritte sind nicht vorgesehen - oder etwa doch?
Angehörige der Mlabri
Die Völker der Pygmäen und Buschmänner Afrikas, die Yanomami des Amazonasbeckens oder manche Stämme der Papua auf Neuguinea gelten mit ihrer Jäger- und Sammlerkultur sowie der daran angepassten nomadischen Lebensweise als direkter Blickkontakt in die Steinzeit der menschlichen Kulturgeschichte. Viele Anthropologen betrachten sie daher als ursprünglichste Daseinsform der Menschen.

Im Laufe der Zeit gingen aus dieser Ernährungssicherung die höher entwickelten Agrar-Gesellschaften hervor. Sie domestizierten Ziegen-, Schaf-, Schweine- oder Rinderarten und kultivierten wilde Gräser, aus denen die heutigen Hochleistungsgetreidearten Mais, Weizen oder Hirse entstanden. Dieser Entwicklungssprung verbesserte die Versorgung der Bevölkerung entscheidend und setzte Kapazitäten frei, die in Handwerk oder Handel investiert werden konnten.

In der Menschheitsgeschichte gibt es daher nur sehr wenige Beispiele, in denen Völker die Landwirtschaft wieder aufgaben, um erneut als Waidmänner, Pilze- und Früchtesucher zu leben. Das bekannteste Beispiel hierfür geben Polynesier ab, die Neuseelands Südinsel und die pazifischen Chatham-Inseln besiedelten und dort wieder zu einer jagenden und sammelnden Kultur zurückkehrten.

In gewisser Hinsicht waren sie dazu gezwungen, denn ihre gewohnten tropischen Früchte ließen sich unter den relativ harschen Bedingungen beider Eilande nicht mehr anpflanzen. Stattdessen boten die Wälder und die umliegenden Meere eine Fülle an jagdbarem Geflügel, Fisch und anderem Meeresgetier. Zu ihrem Überleben waren sie darauf angewiesen, sich wieder umzustellen.

Einen weiteren Fall für einen derartigen entwicklungsgeschichtlichen Rückschritt belegt nun eine Forschergruppe um Hiroki Oota vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie: Auch das kleine thailändische Bergvolk der Mlabri ging anscheinend den ungewöhnlichen Weg vom Jäger zum Landwirt und wieder zurück.

Angehörige der Mlabri | Die Mlabri aus den Bergen von Thailand und Laos gehören zu den wenigen Völkern der Erde, die in der Kulturgeschichte der Menschen wieder einen Schritt zurück von der Landwirtschaft zu den Jägern und Sammlern gemacht haben. Genetische Analysen belegen, dass sie von einer sehr kleinen Ausgangspopulation abstammen müssen. Sie bestand nach Ansicht der Forscher aus nur ein oder zwei Frauen und einem bis vier Männern. Damit reichten ihre personellen Kapazitäten nicht aus, um von Landwirtschaft leben zu können. Stattdessen gingen sie wieder auf die Jagd und sammelten pflanzliche Waldprodukte.
Die 300 Menschen der Mlabri leben bis heute im Bereich des Goldenen Dreiecks an der Grenze von Thailand und Laos. In kleinen Gruppen bewegten sich die Familienverbände rastlos durch die dichten Wälder der Region. Ihre jeweils immer kurzfristigen Unterkünfte errichteten sie aus Bambusgestängen, die mit Bananenblättern gedeckt werden. Nach wenigen Tagen färben sich diese Naturdächer gelb, was für die Mlabri das Signal zum Aufbruch bedeutete und ihnen ihren thailändischen Namen gab: Phi Tong Luang – Geister der gelben Blätter. Heute ist diese Lebensweise durch die um sich greifende Rodung der Wälder bedroht, und die Mlabri arbeiten daher teilweise als Lohnempfänger auf Feldern anderer Stämme.

Wie die Wissenschaftler anhand von genetischen Untersuchungen belegen konnten, sind die Gebirgsnomaden ein relativ junges Volk: Es spaltete sich erst vor 500 bis 800 Jahren von benachbarten Stämmen ab. Die Mlabri weisen außerdem praktisch keinerlei Vielfalt in ihrer mitochondrialen DNA (mtDNA) auf, und auch die genetische Diversität ihrer Y-Chromosomen sowie der nicht geschlechtsspezifischen Gene ist stark reduziert.

Dies lässt annehmen, dass die Gründerpopulation des Volkes sehr klein war. Oota und seine Kollegen gehen von nur einer oder zwei Frauen und maximal vier Männern aus. Möglich wäre allerdings auch ein extremer Bevölkerungsrückgang, der die Mlabri durch einen so genannten genetischen Flaschenhals gezwängt hätte. Die genetische Vielfalt wäre damit ebenfalls stark eingeschränkt worden. Andererseits teilen sie – im Gegensatz zu anderen Jägerkulturen der Erde – ihre eigene typische mtDNA-Sequenz mit anderen Bergvölkern ihrer Heimat und Südchinas. Dies legt eine Entstehung aus eben jenen, seit Tausenden von Jahren Reisanbau betreibenden Nachbarstämmen nahe.

Darüber hinaus unterstützt das kulturelle und sprachliche Erbe der Mlabri die These ihres Ursprungs aus einer bäuerlichen Kultur: Ihre Ausdrucksweise ist eng mit der Sprache der Tin Prai verwandt, die ebenfalls im Goldenen Dreieck leben. Linguistische Untersuchungen lässt eine Aufspaltung der beiden Sprachen vor maximal tausend Jahren vermuten – was gut zu den genetischen Analysen passt.

Warum aber geht ein Volk den Schritt zurück in der Evolution menschlicher Gesellschaften, wenn doch ihre Heimat eigentlich gut für Ackerbau und Viehzucht geeignet erscheint? Immerhin betreiben alle benachbarten Ethnien der Mlabri Landwirtschaft mit etwa zwei Ernten Bergreis pro Jahr – und leben ganz gut davon.

Die Wissenschaftler nehmen an, dass die Gründerpopulation der Mlabri zu klein war, um ihre Existenz mit dem Anbau von Kulturfrüchten zu sichern. Zum Überleben waren sie folglich gezwungen, wieder auf die Jagd zu gehen und von den Früchten des Waldes zu leben. Auch nach dem Anwachsen der Gruppe behielten sie schließlich diesen Lebensstil bei – und traten nur gelegentlich in Handel mit ihrem bäuerlichen Umfeld.

Zur Unterstützung der Forscher lässt sich schließlich noch die Theorie des Nachbarvolks Tin Prai zur Herkunft der Mlabri zitieren: Ihrer Legende nach verstieß vor Hunderten von Jahren ein Dorf der Tin Prai zwei kleine Kinder, setzte sie auf einem Floß aus und schickte sie flussabwärts. Die Kinder aber überlebten und verkrochen sich in den Wald. Ihre Nachkommen wurden zum Volk der Mlabri, das seither wieder jagend durch die Bergwelt zieht.

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