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Corona-Forschung: Experten beklagen Mangel an wissenschaftlicher Sorgfalt

Zum Coronavirus erscheint eine kaum zu überblickende Zahl an Studien. Dass nicht alle die Standards guter Wissenschaft einhalten, muss sich bald ändern, fordern Experten.
Ein Experiment im Labor

Eile darf keine Rechtfertigung für wissenschaftliche Schludrigkeit sein – nicht einmal in einer medizinischen Notsituation wie der aktuellen Coronavirus-Pandemie. Das fordern nun zwei Ethiker im Wissenschaftsmagazin »Science«. Mit heißer Nadel gestrickte Studien, deren Ergebnisse häufig ohne Kontrolle oder Peer-Review-Prozess auf Preprint-Servern landen, könnten sogar kontraproduktiv sein.

Alex London von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh und Jonathan Kimmelmann von der McGill University im kanadischen Montreal nennen fünf Kriterien, die von Forschern und ihren Institutionen bei der Auswahl von Studien berücksichtigt werden sollten: Studien sollten relevant sein, so aufgebaut, dass sie die Effekte nachvollziehbar entdecken können; sie sollten vorab festlegen, was sie zu messen beabsichtigen, diese Ergebnisse dann auch vollständig und transparent veröffentlichen. Und ihre Umsetzung müsse realistisch sein.

Verstöße gegen diese Kriterien würden zu den typischen Problemen führen, die man momentan in der Forschungslandschaft beobachte. So arbeiteten sich derzeit 18 klinische Studien in den USA am Nachweis der Wirksamkeit des Malariamedikaments Hydroxychloroquin ab, was 75 000 Versuchspersonen binde, die in anderen Studien womöglich besser aufgehoben seien. Der Grund für die überproportionale Aufmerksamkeit, die dieser Wirkstoff erhält, dürfte in den Äußerungen Donald Trumps zu suchen sein, der das Medikament schon als »Geschenk Gottes« bezeichnete.

Um schnell zu Ergebnissen zu gelangen, würden Forschergruppen immer wieder auf etablierte Standardverfahren wie Doppelverblindung oder den Einsatz einer Kontrollgruppe, die Placebos erhält, verzichten. Doch diese Methoden seien elementar wichtig, um zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen. Wenn Mediziner aus schlecht gemachten Studien falsche Schlüsse zögen, gefährde dies die Gesundheit ihrer Patienten.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Auch Nachrichtenmedien, Politiker und die breite Öffentlichkeit müssten sich darauf verlassen können, dass publizierte Studien nach etablierten Methoden zu ihren Schlussfolgerungen gekommen seien. Bei Publikationen, die auf Preprint-Servern wie bioRxiv oder medRxiv erscheinen und die noch von keinem Gutachter gelesen wurden, sei das nicht zwangsläufig der Fall. Selbst Fachleuten entgehe dann beispielsweise, dass die Autoren eines Papers ursprünglich ganz andere Effekte messen wollten als die, die sie nun berichten.

Fast alle Experten, die das deutsche Science Media Center um eine Stellungnahme zum Beitrag von London und Kimmelman gebeten hat, unterstützen deren Forderung, sich stets an den Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu orientieren. Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, wie schwer wiegend das aktuelle Problem ist.

»Auch wenn wir notgedrungen etwas schneller schießen, gibt es doch eine ganze Menge Sicherheitsschlösser«, sagt etwa Thomas Hartung, der Direktor des Center for Alternatives to Animal Testing (CAAT) an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. Geldgeber, Ethikkommissionen und auch die Journals, die die Studien nach der Preprint-Veröffentlichung publizieren sollen, würden alle über die Qualität der Studien wachen. »Die Flut von Informationen wird letztlich dadurch balanciert, dass es auch entsprechend mehr Experten gibt, die sie aufarbeiten und kommunizieren.«

Benedikt Fecher, der Leiter des Forschungsprogramms Wissen & Gesellschaft am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin, findet die Kritik am Format der Preprints verfehlt. Die Krise zeigt uns zudem, »wie wichtig die so genannte offene Wissenschaft ist, also dass Ergebnisse transparent, zugänglich und nachnutzbar digital veröffentlicht werden. Auch wenn die Krise die Gesellschaft und ihre Institutionen herausfordert, hoffe ich doch, dass die Wissenschaft gestärkt aus ihr heraustritt.«

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