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Sexuelle Selektion: Fair Play beim Vorspiel

Arbeiten "zur Erweiterung des Verständnisses von Konflikt und Kooperation" müssen nicht unbedingt aus der Spieltheorie stammen und mit dem aktuellen Wirtschafts-Nobelpreis geehrt werden. Es könnte auch einfach um Nacktschnecken-Sex gehen.
Die Nacktschnecke <i>Chelidonura hirudinina</i>
Schwer ist die Rolle der Frau. Erst muss sie die Werbetricks der Männer durchschauen, aus dem Angebot wirklicher Kümmerlinge und in Wirklichkeit kümmerlicher Marktschreier den einen, wahrlich genetisch Wertvollen heraussieben. Dann diesen Erwählten aufmerksam machen und sich endlich erfolgreich mit ihm fortpflanzen. Und am Ende verlässt er sie dann womöglich doch, sobald der Spaß vorbei ist und es ans Eingemachte geht: die Kinder durchzufüttern und auf einen geraden Weg ins Leben zum begleiten.

Chelidonura hirudinina-Nacktschnecken bei der Paarung | Die zwittrige, marine Nacktschnecke Chelidonura hirudinina bei der Paarung
Schwer ist die Rolle des Mannes. Erst muss er sich auf die Wünsche der Damenwelt einstellen und lieb, treu sowie zugleich erfolgreich und viril auftreten. Ganz wichtig auch, dabei nicht den Humor zu verlieren, um dann über die Enttäuschung hinwegzukommen, dass trotz allem die begehrte Schöne doch lieber den protzigen Kraftmeier gewählt hat. Bald schon wird sie sich beim Selektionsverlierer darüber ausweinen, dass der Erwählte sich nach dem Kindermachen, aber vor dem Kinderaufziehen verantwortungslos zur nächsten Kurzzeitbekanntschaft aufgemacht hat.

Am allerschwersten müssen es dann also wohl die Zwitter haben. Vereinen sie nicht die Nachteile aller Männchen- und Weibchen-Fortpflanzungsprobleme in einem? So gesehen sollte es Zwitter eigentlich gar nicht geben. Nur gehören hermaphroditische Tiergruppen merkwürdigerweise nicht selten zu den erfolgreicheren Lebewesen. Warum?

Gut, Zwitter können sich im Ernstfall akuter Einsamkeit manchmal auch selbst genug sein. Sie haben zudem die Wahl, von Fall zu Fall in eine dem Augenblick jeweils besser angepasste Geschlechterolle zu schlüpfen. Allerdings, wiegt dies die biologischen Kosten auf, sich gleich zwei hochkomplizierte Geschlechtsapparate im Körper zu leisten? Und, ein darauf aufbauender, seit längerem verstörender Gedanke der Evolutionsforscher: Wenn es einen Augenblick gibt, an dem ein Geschlecht des Augenblicks einen großen Vorteil bieten – warum sollte ein potenzieller Paarungspartner gerade dann das andere, subjektiv nachteilige wählen?

Eine Frage für Nils Anthes und seine Kollegen von der Universität Tübingen. Sie suchten nach Antworten bei der sehr dekorativen, im Meer heimischen zwittrigen Spezies Chelidonura hirudinina – einer Nacktschnecke. Genauer gesagt überprüften die Forscher eine Antwort, die Theoretiker bereits seit gut zwanzig Jahren geben, um die hermaphroditische Kosten-Nutzen-Bilanz auszugleichen.

Kurz zusammengefasst lautet sie: Zwitter, die nicht stets beide, sondern für eine gewisse Zeit immer nur eine ihrer beiden Geschlechterrollen ausüben können, müssen Fairness und geschlechtliche Gleichberechtigung verlangen. Das sieht dann etwa so aus: Wenn gerade ein deutlicher Vorteil darin besteht, nur Weibchen zu sein, dann sollten beide Partner zwar auch Spermien empfangen, dafür aber beide eben immer auch Spermien geben müssen – ein Samenhandel, auf gut biologisch "sperm trade". Nicht einer, sondern beide Partner stocken dabei wunschgemäß einen Spermienvorrat auf, der außer zur Befruchtung der eigenen Eier noch zu allerlei weiteren Zwecken herangezogen werden kann, etwa als Nahrung. Oder als Probe, die mit Spermien anderer Begatter qualitativ verglichen wird – die minderwertigen werden dann nicht zur Befruchtung zugelassen, sondern entsorgt.

Allerdings sollte auch einer Nacktschnecke im Evolutionskampf nichts menschliches fremd sein. Fairness, also energiezehrend Spermien zu geben, wenn man eigentlich gerade lieber nur Spermien bekommen würde, ist schließlich irgendwie auch unnötig anstrengend. Also dürften manche Schnecken zu tricksen versuchen und beim Tête-à-tête selber kräftig absahnen, während sie eine eigene Spermienübergabe nur antäuschen. In einer wohl balancierten Evolutions-Gemeinschaft sollten Gegenmaßnahmen solche gemeinschaftsschädigenden Egoismen wiederum in Schach halten. Etwa dadurch, dass bei der wechselseitigen Begattung eine nur angetäuschte Spermienübergabe erkannt und sanktioniert wird.

Hier ansetzend, rollten Anthes und sein Nacktschneckenforscher-Team das evolutionsstrategische Paket nun von hinten auf: Wenn bei ihren Versuchstieren tatsächlich eine Strategie zur Abwehr nur simulierter Spermienübergabe bei der gegenseitigen Kopulation nachweisbar ist, dann ist das ein schlagender Hinweis darauf, dass bei Nacktschneckenzwittern sperm trade wirklich eingesetzt wird, um den zwittertypischen Konflikt der Geschlechterwahl zu entschärfen – wie bereits seit 1984 vermutetet, aber bislang noch nie nachgewiesen.

Fehlte nur ein wenig Nacktschnecken-Voyeurismus und experimentelles Geschick. Anthes und Kollegen kreierten zunächst einige unabsichtlich tricksende Schnecken-Exemplare, indem sie die spermienleitende Rinne dieser Tiere blockierten. Kopulierten sie, dann übergaben sie keine Spermien mehr, ganz so, als würden sie diese gezielt aufsparen. Aber woran erkennen, ob die Partner der Trockenkopulierer das Täuschungsmanöver enttarnen?

Nun, eine durchschnittliche Nacktschneckensex-Session, so notierten die Forscher skrupulös, beinhaltet bis zu zehn "sequenzielle Penis-Intromissionen und Inseminationsereignisse" pro Partner. Nicht so allerdings bei Paarungen zwischen täuschenden und (zunächst) arglosen Exemplaren: Hier merkten die umsonst auf Spermien hoffenden Partner sehr schnell, was gespielt wurde, ließen es bei durchschnittlich der Hälfte der wechselseitigen Kontakte bewenden und führten ihre Penisse deutlich seltener ein als der täuschende Partner.

Eindeutig also: Chelidonura hirudinina kennt wirklich Kontrollmechanismen, um einen geregelten sperm trade aufrechtzuerhalten. Und damit freuen sich die Evolutionstheoretiker also an dem ersten Beweis für die schon lang theoretisch postulierte Zwitterstrategie zur Vermeidung sexueller Identitätskonflikte. Übrigens: Bei der Schwesterart Chelidonura sandrana hatten die Forscher keine Abwehrstrategie gegen einseitige Besamungsvorgänge nachweisen können. Die Strategie zwittriger Fortpflanzung bleiben eben flexibel und dynamisch, im steten Fluss der evolutionären Herausforderungen.

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